Das Schweigen im Koffer

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Wenn ich es dir doch sage! Eine Schachtel, vielleicht auch ein Paket! Ist das nicht seltsam?

Sieht das Ganze nicht ein wenig unwirklich aus? Er ist sehr sportlich, elegant und attraktiv. Findest du nicht?

Nein? Wirklich? Findest du nicht?

Sieh mal, wie lässig er die eine Hand in der Hosentasche hat und wartet. Lass uns näher zur Tür gehen, da können wir ihn besser sehen.

Was meinst du, wie alt ist er? Die grauen Haare an den Schläfen machen ihn doch interessant. Ich frage mich, auf wen er dort wartet.

Nein, er sieht doch nicht traurig aus? Quatsch, er sieht aus wie ein Mensch, der in sich ruht. Gut, vielleicht ein wenig melancholisch. Einigen wir uns auf melancholisch, aber nicht im Übermaß, abgemacht?

Komm, lass uns mal zwei Schritte zurückgehen. Ich glaube, dass er uns bemerkt hat. Jetzt geht er.“

Selma macht die Tür auf und stellt sich sehr aufrecht vor die Tür, versucht dem Fremden hinterher zu sehen, als dieser mit immer schneller werdenden Schritten die Straße verlässt und in die nächste Gasse abbiegt.

Selma fragt sich, ob sie diesem Mann früher schon einmal begegnet ist, während sie dem Fremden, der schon längst nicht mehr zu sehen ist, immer noch hinterherblickt.

In Gedanken versunken geht Selma eher zögerlich wieder hinein, da bereits einige Kunden ihre Bestellungen aufgeben wollen.

Am Abend, nach getaner Arbeit, schließen die beiden jungen Frauen den Laden ab und verabschieden sich vor der Tür. Selma steigt auf ihr Fahrrad und fährt nach Hause zu ihren Eltern.

Während der Fahrt lässt sie den Tag noch einmal vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Zu Hause angekommen, schließt sie die Haustür auf, legt ihre Sachen an der Garderobe im Eingangsbereich ab und steuert auf die Tür, die in die offene Küche und das große Wohnzimmer führt, zu. Als sie die Tür öffnet und in das Wohnzimmer geht, sieht sie ihre Eltern mit zwei Freunden am Kamin sitzen und Wein trinken.

Selma freut sich auf die Begegnung mit ihrem Vater. Seit Langem hat sie ihn nicht gesehen. Manchmal bekommt sie Angst, Angst sie könnte sein Gesicht vergessen, vergessen wie er aussieht. Sie umarmt ihn, dabei drückt sie ihn ganz fest an sich.

Nachdem sie auch die Anderen zur Kenntnis genommen und begrüßt hat, geht sie in die Küche, holt sich etwas zu trinken und setzt sich anschließend in die Runde, in der sie alle genauestens beobachtet.

Seitdem sie nicht mehr in diesem Haus wohnt, erscheinen ihr die Begegnungen mit ihren Eltern fremdartig.

Sie lässt die Fremdheit ihrer Begegnungen zu. Als ihre Blicke den Vater treffen, denkt sie an den Brief, von dessen Existenz sie nun weiß. Was ist das, was ihren Vater so erstarren ließ, als er den Brief in den Händen hielt? Was begleitet ihn aus der Vergangenheit?

In der Gegenwart ihrer Eltern gibt es seit Jahren scheinbar keinen Höhepunkt mehr. Das Leben verläuft geradezu mechanisch und funktional. Doch, doch, es gibt sie, die Momente der spontanen Gefühle.

Egal, von welchem Thema sie auch zu erzählen beginnen. Irgendwann holt einer von ihnen wieder diesen Koffer heraus, den sie wohlverwahrt immer bei sich haben. Einen großen alten Koffer aus hellbraunem Leder, der immer noch nach frischem Leder riecht.

Egal wie alt dieser Koffer ist, egal wie alt er jemals sein wird, er ist ein Teil ihrer Geschichte. Wie oft mögen sie ihn vorher benutzt haben, den wohlbehüteten Koffer?

Den Koffer mit den zwei langen Lederriemen, die am Ende mit großen Schnallen versehen sind. Metallschnallen, mit denen sie den Koffer wieder sorgfältig verschließen können, damit kein einziges Stück der Erinnerung entfliehen kann.

Jedes Mal sehen sich die Eltern erst flüchtig an, als gäbe es so etwas wie eine Geheimsprache zwischen ihnen, als würden sie darauf warten, dass einer von ihnen den Befehl gibt, ihn wieder aus dem geheimen Versteck zu holen. Den geheimen Ort kennen nur sie allein. Kein anderer ist im Besitz der Koordinaten dieses Orts.

Nur sie zusammen haben die Macht und die Magie, diesen Koffer hervor zu holen.

Sehr sorgsam öffnen sie den Koffer und betrachten mit funkelnden Blicken seinen Inhalt. Wie mit der Neugier eines Kindes sehen sie sich die kostbaren Erinnerungsstücke an, nehmen sie in die Hände und sind jedes Mal glücklich darüber, dass keines der einzelnen beschädigt oder gar vergessen ist.

Das ist nicht irgendein Koffer. Nein, er verfügt über magische Kräfte, denn er gibt beiden Körpern Leben und Lebendigkeit.

Solange der Koffer neben ihnen steht, sie sich die einzelnen Erinnerungen herausholen können, reden und lachen sie hemmungslos, bis ihnen vor Glück die Tränen in den Augen stehen. Anschließend falten sie jedes einzelne Teil behutsam zusammen und legen es, als hätten sie etwas Zerbrechliches in den Händen, wieder in den Koffer.

Manchmal, aber nur manchmal, fügen sie sogar ein neues Erinnerungsstück hinzu. Die meiste Zeit jedoch geben sie sich mit den Reminiszenzen zufrieden, die sie schon im Koffer haben. Zuletzt werden die Metallschnallen befestigt, und der Koffer wird wieder an seinem geheimen Ort versteckt.

Schon oft hat Selma dieses Ritual der Eltern beobachtet. Sie sah den Koffer jedes Mal. Sie roch das Leder des Koffers schon bevor sie nach ihm griffen.

Später werden sich die Eltern nur noch zur Kenntnis nehmen. Zur Kenntnis nehmen, dass es den anderen gibt, mit dem sie Tisch und Bett teilen.

Als Selma bemerkt, dass sie nur noch ein leeres Glas in der Hand hält, steht sie auf, verabschiedet sich aus der Runde, geht in die Küche, in der sie das Glas abstellt, und steigt die Treppen zum Arbeitszimmer hinauf. Sie schaltet das Licht an, geht erst zum Arbeitsplatz ihres Vater, nimmt die silberne Taschenuhr in die Hand, die sie seit ihren Kindertagen kennt, und drückt auf den kleinen Knopf, der sich seitlich an der Uhr befindet. Die Klappe öffnet sich. Die Uhr zeigt zwei Minuten nach fünf an.

Solange Selma zurückdenken kann, zeigt die Uhr zwei Minuten nach fünf an. Sie legt die Taschenuhr wieder an ihren Platz und setzt sich anschließend auf den Stuhl ihres Bruders. Ans Schlafen kann sie noch nicht denken, dafür gehen ihr zu viele Gedanken und Bilder durch den Kopf. Bis sie wieder an Can und an ihre Unterhaltung denkt. Wieder einmal überkommt Selma ein unwohles Gefühl, das sie seit langem mit sich herumträgt, wenn es um Can geht.

Je mehr Selma darüber nachdenkt, umso klarer wird ihr, dass Can ein Geheimnis hat.

Sie legt die Ellbogen auf den Tisch und stützt ihren Kopf auf den Innenflächen ihrer Hände ab. Sie versucht ihre wirren Gedanken zu ordnen, sich vorzustellen, wie sie Can am nächsten Tag begegnen soll. Vielleicht ist das der Grund, weshalb Selma ihre Semesterferien in diesem Haus verbringen soll. Vielleicht wird er sich Selma anvertrauen.

Selma stellt sich die Szene vor, wie sie sich gegenübersitzen und Can ihr schonend beibringen will, dass er schwul ist. Ihr Innerstes ahnt es längst. Sie spürt es bei jeder Begegnung mit ihm.

Wie würde sie darauf reagieren? Was sollte sie ihm sagen: „Im Innersten wusste ich das bereits.“ Oder: „Das macht nichts, das kriegen wir wieder hin“, als sei es eine vorübergehende Krankheit. Was würde sie sagen? Die Eltern dürfen nicht den geringsten Verdacht schöpfen! Das steht fest.

In Gedanken spielt sie jede Version der Begegnung mit Can durch, bis sie spürt, wie die Müdigkeit in ihrem Körper hochkriecht, und sie sich ins Bett schleppt.

„Mooorrrgggeenn!!!“

Eine aufdringlich laute Stimme sorgt dafür, dass Selma wie vom Blitz getroffen kerzengerade im Bett sitzt.

„Morgen! Mensch, du hast vielleicht tief geschlafen. In der nächsten Stufe hätte ich es mit kaltem Wasser versucht“, dröhnt es hinterher. Als Selma wieder langsam ihr Bewusstsein erlangt, sieht sie Can am Fußende des Bettes grinsend im Schneidersitz sitzen.

„Morgen, musst du so schreien? Versuch es doch mal mit einer sanfteren Methode.“

„Das habe ich doch gemacht. Mein Plan B ist der penetrante Morgenschrei und …“

„Und was … hast du auch einen Plan C?“

„Ja, kaltes Waaasssseeerrrr …, aber leider bist du jetzt wach.“

Langsam dringen die Erinnerungen vom Vorabend in Selmas Bewusstsein. Sie sieht sich Can ganz genau an. Mustert ihn von Kopf bis Fuß. Eigentlich sieht er aus wie immer, denkt sie sich.

Am Vorabend hatte sie sich so viele Wörter und Sätze ausgedacht, die sie ihm sagen würde. Doch jetzt fällt ihr nichts ein. Schließlich sagt sie: „Can, es ist egal, ob du eine Freundin hast oder nicht, und es ist auch egal, ob du jemals eine Freundin haben wirst oder nicht. Ich liebe dich, so wie du bist.“

Ziemlich irritiert durch diese Aussage antwortet Can: „Ein toller Trost. Ich werde dir mal Paul vorstellen.“

„Wer ist Paul?“

„Na, Paul, mein Freund Paul. Du kennst ihn doch.“

„Ja, ja, natürlich Paul, dein Freund, der Paul. Ich kann mich nur vage an ihn erinnern.“

„Paul ist sehr witzig und hat viel Charme.“

Über ein Mädchen hatte Can noch nie so gesprochen wie jetzt über Paul.

Was für eine Katastrophe, denkt Selma und versucht ihre Unsicherheit durch ein eher gezwungenes Lächeln zu überspielen.

Paul, Paul … an diesen und an ähnliche Namen muss sie sich wohl gewöhnen.

Eine Judith, Sandra oder Rebecca würde es nicht geben. Auch später nicht. Selma hat Can durchschaut und überlegt sich, wie sie es hinbekommen könnte, das Eis zu brechen, um es Can leichter zu machen.

„Na, steh schon auf, dein Kaffee wird kalt.“

„Was, du hast mir Kaffee gemacht, Can?“

„Na, klar! Irgendwie muss ich dich doch bei Laune halten, damit du hier bleibst.“

„Ein sehr gutes Argument“, sagt Selma, während sie mit viel Mühe das Bett verlässt und mit Can in die Küche geht, in der ein gedeckter Tisch auf die beiden wartet. Selma lässt sich auf einen der Stühle fallen, greift sogleich nach einer vollen Kaffeetasse und freut sich über die Errungenschaft und Kultivierung dieser so kostbaren Bohne. Als sie dann schließlich zu Can schaut, sieht sie, wie Can den Kopf vorbeugt und seine langen schwarzen Haare zusammenbindet.

 

Das gebündelte Haar ist so dick, dass er es kaum schafft, es mit einer Hand festzuhalten. Dabei schimmert das Schwarz seiner Haare als würden sich kleine Lichtstrahlen zwischen den Strähnen verbergen. Nachdem er seine Haare gebändigt hat, setzt er sich mit an den Tisch und trinkt seinen Kakao aus, bevor er, eilig wie immer, das Haus verlässt.

Wie ist das, anders zu sein in einer Gesellschaft, in der wir schon anders sind? Ist es nicht ein Lebensrecht, zumindest im eigenen Körper beheimatet zu sein? Oder gibt es eine doppelte Heimatlosigkeit? Anders sein, dort, wo man seither anders ist.

Sind wir die Geliehenen für diese Heimat oder führen wir ein Dasein in einer geliehenen Heimat? Ist Heimat etwas Beliebiges? Überlegt sich Selma, während sie aus ihrer Kaffeetasse schlürft.

Selma bemerkt ihren Vater erst, als er vor ihr steht und erschreckt sich ein wenig.

„Was machst du denn hier?“, fragt Selma ihren Vater.

„Vielleicht wohnen? Ist schon gut, heute werde ich hier von meinem Büro aus arbeiten, weil ich noch für einen Kunden vieles vorbereiten muss.

Magst du uns beiden einen Kaffee holen? Ich bin jetzt oben im Büro. Du brauchst mich nicht so anzusehen, das war lediglich eine Bitte. Ich bin doch nicht lebensmüde und erteile dir Befehle.“

„Nun gut, meinetwegen, ich bringe dir eine Tasse ins Büro.“ Selma bereitet eine Tasse Kaffee und belegte Brote zu und legt sie auf ein Tablett. Sie sieht sich das Tablett, das ihr zu trist erscheint, an und geht schnell in den Garten, pflückt dort einige bunte Blumen und verteilt sie auf dem Tablett, mit dem sie anschließend ins Büro geht, in dem ihr Vater in seiner Arbeit versunken ist.

„Komm herein Selma! Wie der Kaffee duftet! Mensch, sogar belegte Brote gibt es dazu und Blumen. Sind die für mich? Wie schön sie sind. Danke dir, Selma. Ja, ja die belegten Brote werden wir teilen. Ich habe dich verstanden. Ich sehe ja, dass wir gemeinsam frühstücken werden.

Ob ich viel zu tun habe? Ja, wir haben neue Aufträge bekommen, in die ich mich erst einarbeiten muss.

Oh, der Kaffee ist noch wirklich heiß. Ich habe mir die Lippen daran verbrannt. Nein, es tut nicht weh. Natürlich kannst du mich etwas fragen.

Warum ich Architekt geworden bin? Ich konnte mir nie vorstellen eine Arbeit auszuführen, bei der es darum ginge, etwas abzureißen und wegzuschaffen oder in einem Büro nur auf dem Papier zu arbeiten, ohne das Geschaffene zu sehen.

Ich wollte immer etwas erschaffen, etwas entstehen lassen oder etwas Altes, Gebrauchtes wieder lebendig werden lassen. Ich entwerfe und baue Häuser, weil sie mit den Menschen, die sie später bewohnen, eins werden.

Durch die Menschen erhalten sie eine Seele. Es ist nicht nur so, dass Häuser Menschen ein Zuhause bieten. Sie können ein Zuhause sein, weil die Menschen es dazu machen.

Die Dinge bedingen sich gegenseitig. Verstehst du, was ich meine? In meiner Arbeit begegne ich Menschen, die in schönen und teuren Häusern wohnen.

Dabei bekomme ich manchmal das Gefühl, als seien diese nur geliehen, um dort ihr Leben abzuspulen.

Andererseits spüre ich in bescheidenen Häusern, wie lebendig das Leben gelebt wird, und frage mich, woran das liegt.

Ich erinnere mich, als ich noch ein Kind war, nahm mich mein Vater eines Tages mit und wir machten eine Tour durch Istanbul.

Zu der Zeit wohnten wir in einem Viertel, das außerhalb lag. Wir bewohnten ein sehr kleines, unscheinbares Haus mit einem großen Vorgarten, in dem nur Sonnenblumen blühten. Sonnenblumen wohin das Auge reichte. Ich wollte davor stehen bleiben, am besten eine ganze Ewigkeit, um die Schönheit einzuatmen, die von ihnen ausging. Sie standen da, so aufrecht und stolz, als würden sie mir ins Gesicht schauen und dabei stumm reden. Sie brauchten keine Worte.

An jenem Tag nahm mich mein Vater mit dem Taxi, mit dem er ansonsten unseren Lebensunterhalt verdiente, mit, einfach so. Das hatte er vorher noch nie gemacht. Ich wuchs über mich hinaus, als ich dann schließlich im Taxi neben ihm saß.

Während unserer Fahrt kamen wir an den Hochhäusern der Stadt vorbei, die damals als Errungenschaft moderner Wohnkultur der oberen Mittelschicht galten.

Mein Vater sagte: ‚Das kann niemals gesund sein, wenn Menschen wie in Schachteln übereinander gestapelt werden. Diese Menschen wohnen in der Luft und haben keine Erde, auf die sie treten und die sie spüren können.

Kein Wunder, dass die Menschen angefangen haben, ganz merkwürdige Dinge zu tun und sich gegenseitig genervt begegnen, wenn andere Menschen auf den oberen Etagen ihnen über den Kopf laufen. Ich sage dir mein Junge, das kann nicht gesund sein.‘ Das war das erste Mal, dass ich mir Gedanken darüber machte, wie Menschen leben.

In den darauf folgenden Jahren wuchs dann auch meine Neugier, mein Interesse, Häuser und Menschen in Zusammenhang zu bringen, neue Ideen entwickeln zu wollen.

Wie war deine Frage, liebe Selma. Was es für mich bedeutet, anders zu sein?

Hast du das Gefühl, ich sei anders? Anders als wer oder was? Ach, du meinst ethnisch. Ich bin nicht mehr oder weniger anders als andere Menschen. Weißt du, irgendwann spielt es keine Rolle mehr, woher du kommst. Wichtiger wird, wer du selbst bist.

Ja, ja, du hast Recht. Ich habe dir immer gesagt, dass es wichtig ist zu wissen, woher man kommt, wo die Wurzeln eines Menschen liegen.

Ich habe dir auch immer gesagt, dass ein Baum erst dann stark werden kann, wenn er tief verwurzelt ist. Das alles habe ich dir gesagt und das ist immer noch meine Meinung. Ich meine nur, später, na, du weißt schon, wenn du alles über deine Wurzeln weißt.

Lass uns doch noch einen Schritt weiterdenken. Schränken wir uns nicht in der eigenen, unverzichtbaren Freiheit ein, wenn wir der einen oder anderen Kultur anhängen? Ist es die Angst, die uns dazu drängt, zu sagen, dieser oder jener Kultur gehören wir an, weil wir ansonsten nicht in der Lage wären, eine eigene Identität zu haben? Gibt uns eine kollektive Identität mehr Sicherheit im Leben?

Nun, ich habe mich auch etwas länger mit dem Dasein auseinandergesetzt als du, meine liebe Selma. Das heißt, ich lebe länger auf diesem Planeten und habe eine längere Vergangenheit als du.

Was für Fragen du stellst! Ob die Vergangenheit Platz in meiner Gegenwart hat, willst du wissen? Du, jetzt muss ich mal einen Anruf tätigen. Nein, ich weiche dir nicht aus. Ich habe noch viel Arbeit vor mir. Das hatte ich dir vorher gesagt. Nun gut, lass mich wenigstens den Kaffee austrinken. Was ist denn los mit dir? Du löcherst mich geradezu. Siehst du, jetzt kann ich den Kaffee trinken, ohne mir die Lippen zu verbrühen.

Natürlich schmeckt das Brot gut, keine Frage. Ich trinke den Kaffee jetzt aus. Kannst du mir bitte noch eine Tasse Kaffee bringen? Das ist ja wie beim Verhör, da muss ich einen klaren Kopf haben. Mach dir keine Sorgen, ich werde deine letzte Frage nicht vergessen.“

Selma holt den gewünschten Kaffee und steht in Windeseile wieder neben dem Vater.

„Wie du bist schon wieder da? Ich habe erst zweimal in mein Butterbrot gebissen.

Nun gut, wie war deine Frage noch mal mit der Vergangenheit? Jetzt erinnere ich mich wieder. Ich glaube, dass die Vergangenheit an einem Punkt des Lebens eine Metamorphose erlebt. Das heißt die Verhältnisse zueinander verändern sich. Weißt du, wenn man noch ein junger Mensch ist, genau wie du es jetzt bist, hat man viel mehr Zukunft vor sich als Vergangenheit hinter sich.

Später wird einem bewusst, dass man die Ereignisse des Lebens aus der Sicht der Erinnerungen schafft.

Die Welt, die in der Vergangenheit liegt, erschaffen wir uns dann selbst aus den Fragmenten unserer Erinnerung. So wie sie unser Gedächtnis erinnert, rekonstruieren wir sie. Daher wird die Vergangenheit nie vollständig sein können. Aus dieser Sicht heraus finde ich es fraglich, ob eine vollständige Konstruktion der eigenen Identität grundsätzlich einen Abschluss erfährt.

Ich glaube, das war jetzt sehr kompliziert, oder?

Es ist gut, dass du mich verstehst, mir ist es sehr Recht, dass du erwachsen und reif genug bist für diese Dinge.

Weißt du, ich glaube, dass es im Leben immer wieder Momente geben wird, in denen wir uns in Frage stellen müssen. Entscheidend ist, wie tief wir in uns selbst blicken können, ohne dass es schmerzhaft wird.

Wann musst du zum Imbiss? Ich will nur nicht, dass du dich verspätest. Nein, wo denkst du hin, ich will dich doch nicht loswerden. Ich will gleich noch meine Arbeiten erledigt wissen, weißt du. Das ist der Grund.

Wie bitte? Ich bin der Meinung, dass ich dir seither sehr viel über meine Eltern erzählt habe.

Nun, du weißt, dass mein Vater, also dein Opa, im letzten Jahr verstorben ist.

Das war ein sehr schwieriger Abschied für mich. Er starb, einfach so, ohne Vorankündigung. So eine Trennung kann man nicht mit dem Verstand fassen. Manche Dinge passieren im Leben, einfach so. Das Leben lässt es zu, dass es passiert, hält die Dinge nicht auf, wohl wissend wie schmerzlich sie sind.

Später am Grab kapitulierte ich letztlich vor der Intensität der Wahrheit.

Mir wurde bewusst, dass ich nicht mehr Sohn war. Die Rollen wurden neu vergeben. Ich dachte an unsere Kinderjahre und wie leichtsinnig wir uns über diese so wichtige Zeit hinweggesetzt haben.

Etwas anderes hatte uns das Leben nicht zugestanden. Die letzten Worte meines Vaters, die mir im Ohr nachhallten, waren: ‚Ich bin ein glücklicher Mensch.‘ Ja, das sagte er. ‚Ich bin ein glücklicher Mensch.‘ Ich dachte daran, dass das nur ein Mensch sagen kann, der klug genug war zu wissen, was es heißt, mit Schmerzen und tiefen Wunden fertig zu werden.

Er war ein einfacher Mann, die Bedeutung seines Seins war ein Teil der Schönheit der Welt. Er hat niemandem etwas Böses getan, außer sich seinen eigenen Eltern zu widersetzen, indem er die Frau seines Herzen geheiratet und uns gezeugt hat.

Diesen Widerstand haben ihm seine Eltern nie verziehen. Wir waren noch sehr klein, als dann unsere Mutter starb und unser Vater uns alleine durchs Leben bringen musste. Nach seinem Tod habe ich seine Sachen geordnet, einige Unterlagen, die Bilder, die er aufgehoben und aufbewahrt hatte, und einige Briefe.

Ich wollte damals keinen einzigen Brief lesen, mir kein einziges Bild ansehen, nicht in seine private Welt eindringen, keine Intimität austauschen, denn er sollte immer mein Vater bleiben, so wie ich ihn in meiner kindlichen Erinnerung hatte. Weißt du, ich kann die Wirklichkeit nicht ertragen, wenn ich sie nicht ändern kann.

Er war immer sehr fleißig gewesen und machte Doppelschichten mit seinem Taxi. Er putzte es und achtete sehr darauf, da er wusste, dass es sein einziges Kapital im Leben war. Wenn man in das Auto einstieg, roch es immer nach Rosenwasser. Anstatt Fußmatten hatte er kleine, bunt gewebte Teppiche ausgelegt. Als Kind stellte ich mir vor, dass er irgendwann einmal mit dem Taxi und den Teppichen darin fliegen würde. Nein, weder unser Vater noch sein Taxi sind jemals davongeflogen.

Eines Tages hatte sich etwas verändert. Etwas Seltsames geschah mit mir und später spürte ich es deutlich, wie es bis in mein Bewusstsein drang, als ich die halben Nächte mit offenen Augen im Dunkeln lag und nachdachte, wie lange ich dieses Gefühl der Leere in mir trug. Wie lange wollte ich verhindern, dass es sich weiter in mir ausbreitete?

Ich suchte nach etwas, das meine Leere füllen sollte. Wusste nicht, was es war, was mir fehlte. Dann hatte ich diese Begegnung, eine wichtige Begegnung in meinem Leben. Das Leben machte mir ein Angebot. Weißt du, das Leben macht immer Angebote an uns.

Dann entscheiden wir uns entweder dafür oder dagegen. Wenn wir Glück haben und es wichtig für uns ist, bekommen wir das Angebot später wieder, damit wir prüfen können, ob wir zu Sehenden geworden sind, ob wir sehen können, was das Leben für sich einfordert.

Ich, ich entschied mich für das Angebot, damals, als ich noch das Gefühl der Leere in mir trug. Mir fehlte etwas. Etwas, das bis dahin für mich nicht existent war. Ich stand vor diesem großen Laden in unserem Viertel.

 

Es war ein Laden, den ich zuvor nicht zur Kenntnis genommen hatte. Ich stand einfach nur da, stand vor diesem Schaufenster und dachte darüber nach, wie viele Male ich daran vorbeigegangen und wie flüchtig mein Blick gewesen war.

Es mögen sicherlich einige tausend Male gewesen sein, tausend Male bis zur Entdeckung.

Die im Schaufenster ausgelegten Bücher sahen mich an und forderten mich auf, sie in die Hände zu nehmen. Meine Hand drückte die Türklinke nach unten, und die Tür öffnete sich nach innen.

Ich stand in einem schummrigen Laden, nur zaghaft drangen die Sonnenstrahlen durch das Fenster und beleuchteten die riesigen Bücherregale, die zum größten Teil von Büchern überbordeten.

Erst nach und nach gewannen meine Augen an Sicht und eroberten sich so den Raum, bis ich eine Gestalt entdeckte, die auf einer hohen Leiter, die an ein Regal gelehnt war, stand und nach einigen Büchern zu greifen schien.

Er nahm mich wahr, lächelte mich an, stieg die Leiter hinunter und kam mit langsamen Schritten auf mich zu. Aufrecht, wie ein Berg stand er vor mir.

Die Brille, die er auf seiner nicht enden wollenden Nase trug, zog er herunter, beugte sich vor und sah mich mit seinen großen Augen über den Brillenrand hinweg an.

Es schien so, als würde ein Lichtkegel, der durch eines der Fenster strahlte, durch ihn hindurchleuchten. Der Berg sprach: ‚Ich habe auf dich gewartet. Ja, ich kenne dich. Du bist doch der jüngere Sohn des Taxifahrers bei uns im Viertel!‘

Ja, Selma du hast richtig gehört, ich bin nicht der Erstgeborene, ich habe noch einen älteren Bruder. Natürlich kennst du ihn nicht.

Er hat Vater und mich sehr früh verlassen. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört. Ich sage es dir, denn es gab kein Lebenszeichen mehr von ihm.

All die langen Jahre hatten wir auf ihn gewartet und später haben wir nicht mehr über ihn gesprochen, als hätte es ihn nie gegeben, als hätte er nie gelebt, als wäre er nie ein Teil unseres Lebens gewesen, als hätte ich ihn nie berührt und ihn nie umarmt.

Für Vater und auch für mich war es nicht leicht. Und was? Wir haben versucht, ihn zu vergessen, was sollten wir sonst machen? Er war es schließlich, der uns verlassen hat. Verstehst du? Einfach aus dem Haus gegangen ist er und nie mehr zurückgekehrt.

Ohne eine Nachricht zu hinterlassen, ohne etwas wirklich Wichtiges zu hinterlassen, ist er gegangen. Wir standen da und wussten nicht, was das Leben mit uns anstellte. Das Leben, das Leben lässt alles zu, verstehst du? Alles lässt es zu.

In den ersten Wochen versuchten wir nur, jeden einzelnen Tag zu überleben. Die nicht enden wollenden Tage und die nicht enden wollenden Nächte, deren Stille uns nur einer weiteren Folter unterwarf. Wie eine schwere Bürde des Lebens trug unser Vater diesen Schmerz. Er hätte so gerne eine Antwort auf seine Fragen gehabt, bevor er starb. Auch ich hätte gerne eine Antwort gehabt.

Lass mich doch weitererzählen. Ich weiß nicht mehr, was ich erzählen wollte. Du hast mich durcheinandergebracht. Jetzt lass mich mal überlegen. Also er wusste, dass ich der Sohn des Taxifahrers war. Ja, Entschuldigung, einer der Söhne.

Er erzählte mir, dass ich öfters an diesem Schaufenster gestanden und mir die Bücher angesehen hätte.

Das alles war mir nicht bewusst.

Er sagte, er wollte mir etwas zeigen, und nahm meine Hand, die restlos in seiner verschwand. Ich spürte die Wärme und die Weichheit der Innenfläche seiner Hand, obwohl er mir sehr alt zu sein schien.

Er hatte schmiegsame Hände. Es waren andere Hände als die meines Vaters, die von harter Arbeit rau geworden waren. Ich ließ mich mitnehmen.

Aus einem der kleinen staubigen Regale nahm er ein Buch heraus, beugte sich erneut zu mir, schlug das Buch auf, blätterte es vor meiner Nase durch und erzählte mir etwas über dessen Inhalt.

Ich hatte das Gefühl, als bräche er mit beiden Händen frisch gebackenes Brot, dessen Geruch mir Appetit auf mehr machte und mich nähren sollte.

Niemals zuvor hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, wie ein Buch riecht. Der Berg ›Mensch‹ drückte mir das Buch in die Hand, klopfte mir zwei- bis dreimal auf die Schulter und sagte: ‚Bücher riechen immer nach Freiheit, mein Sohn.‘

Ich verließ den Buchladen, aber etwas war geschehen. Die Welt hatte sich verändert. Ich ging nicht mehr in dieselbe Welt hinaus, aus der ich in den Buchladen gekommen war.

Immer wenn sich eine Möglichkeit ergab, ging ich zum Buchladen und verbrachte dort viele Stunden. Im Laufe der Zeit bekam ich mit, dass der Berg ›Mensch‹ auch einen Namen hatte.

Er hieß Mikail. Ich nannte ihn Onkel Mikail. Da war ich noch ein Kind, weißt du, nur ein Kind.“

Die ganze Zeit über steht Selma angelehnt am großen Fenster. Die Kaffeetasse hält sie immer noch in ihrer Hand ohne zu bemerken, dass sie keinen einzigen Schluck daraus getrunken hat.

„Ich verstehe nicht, warum du nie etwas über deinen Bruder erzählt hast“, sagt Selma mit vorwurfsvollem Unterton, „Nein, nein, keine Ausreden! Wir hätten das Recht gehabt, es zu wissen.“

Etwas irritiert schaut Selma auf die Uhr, die ihr sagt, dass sie zur Arbeit fahren muss, und fährt fort: „Wir werden uns noch über vieles unterhalten müssen.

Alles will ich wissen, verstehst du? Alles! Und was ist mit Mutter? Sie weiß es doch, oder nicht? Nein, sie weiß es bestimmt, Mutter weiß alles.“

Energisch verlässt Selma das Haus, setzt sich auf ihr Fahrrad und fährt mit voller Kraft los. Unterwegs merkt sie, dass sie außer Atem ist, und steigt vom Fahrrad, schiebt es neben sich her, bis sie die Bank erreicht, auf der sie hin und wieder gesessen hatte, wenn sie einfach nur nachdenken wollte.

Die Bank steht weit entfernt vom störenden Verkehr unter einem großen Baum, der ihr Schatten bietet. Selma denkt über ihren Vater nach, und wie unfair sie es findet, erst jetzt über einen Bruder des Vaters etwas zu erfahren.

Vielleicht ist sie diesen Themen nicht gewachsen? Was hat der Vater gesagt: „Das Leben macht Angebote für uns, für uns Menschen. Und wir sollen erkennen können, was das Leben für sich einfordert.“ Oder Ähnliches?

Wahrscheinlich sind solche Dinge ein Teil des Erwachsenwerdens.

Selmas Gedanken schweifen ab, sie muss an Can denken und daran, was sie meint, über ihn herausgefunden zu haben. Sie muss eine Lösung finden, eine Lösung für Can.

Er sollte es nicht schwer haben. Er sollte die Stärke haben zu sich selbst zu stehen.

Selma hat sich zuvor nie Gedanken über so etwas gemacht. Wie würden wohl die Eltern darauf reagieren, wenn sie wüssten, dass ihr Sohn andere Jungs und später Männer lieben wird? Wie würde der Freundeskreis und wie würden die Verwandten in der Türkei reagieren, wenn sie wüssten, dass einer aus ihren eigenen Reihen anders ist?

Selma überlegt, ob sie jemals einem schwulen Türken begegnet ist und wenn ja, ob sie das bewusst wahrgenommen hat.

Mit schweren Gedanken fährt Selma zum Asia – Imbiss und geht, wie immer, direkt nach hinten durch, um sich das T-Shirt anzuziehen. Einige Kunden stehen an der Theke, als Selma dazukommt und mit Maya gemeinsam die Bestellungen aufnimmt.

Maya bemerkt Selmas eigenartige Stimmung und spricht sie, als, der letzte Gast den Laden verlassen hat, darauf an.

„Viel ist heute nicht los“, sagt Maya und sieht, wie Selma in Gedanken versunken die Tische putzt.

„Wie warm es doch heute ist, nicht wahr?“ fährt Maya fort und wiederholt, „Heute wird nicht mehr viel los sein.

Bei so einem Wetter wollen die Menschen etwas Kühles. Nun setz dich doch mal hin. Ich bringe uns etwas zu trinken. Was hältst du von Jasmin Tee, den magst du doch auch? Du nickst! Gut, ich mache uns welchen, sofort. Setz dich nur. Ich bringe die Teetassen.

Hast du auch genug gegessen? Ja, ich weiß. Ich höre mich an wie meine eigene Mutter. Du, glaub mir, ich werde ihr ähnlicher je älter ich werde.

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