Der schwarze Vorhang / Der Reporter

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Ich lief auf den Vorhang zu, schlug ihn zur Seite und betrachtete den kleinen Raum dahinter. Ein bequem wirkender Sessel mit Edelstahlrahmen und dicker schwarzer Lederpolsterung stand dort, davor ein Gestell, das mich an eine Notenablage für einen Orchestermusiker erinnerte. Auf einer nüchternen Ablage waren eine mit Wasser gefüllte Karaffe sowie ein Trinkglas bereitgestellt. Alles schien so gestaltet, dass man seiner Arbeit in völliger Entspannung nachgehen konnte. Selbst zwei, drei Schritte zu spazieren war möglich.

Vorsichtig setzte ich mich in den Sessel. In meinem Kopf drehte sich noch immer alles. Ich hatte noch nie ein solches Studio besucht, so denn Studio der richtige Ausdruck war. Und weshalb wurden hier deutsche Gedichte gebraucht? Welche Rolle spielte hier Faust?

Für heute hatte ich ein Taschenbuch von W. G. Sebald mitgebracht, Die Ringe des Saturn. Es war noch in meinem Reisekoffer gewesen; die mitunter ereignislose, dabei brillant formulierte Beschreibung eines Spaziergangs entlang der englischen Küste. Ich hoffte sehr, dass es für die Situation geeignet sein würde, öffnete es irgendwo – war es denn wichtig, wo genau ich zu lesen anfing? – und legte es auf die Notenablage.

Dann wartete ich.

Sachte bewegte sich der Vorhang im leichten Zug, der durch die spaltweit geöffneten Fenster entstanden war. Das leise Rascheln der Seide klang wie Schritte in frisch gefallenem Schnee. Mir fiel eine weißgraue Steppnaht mit simulierten Fehlstichen auf, die als Verzierung in den Stoff eingearbeitet war und ein feines, den gesamten Vorhang überziehendes, verworrenes Muster bildete. Linien trafen sich aus allen Richtungen, überschnitten sich, verschlauften, liefen ein kurzes Wegstück gerade, um sich erneut zu verschlaufen oder mit anderen Fäden zu treffen; oder vielleicht war es auch nur ein einziger, sehr langer Faden, der sich auf dem dunklen Untergrund immer wieder mit sich selbst verband.

Draußen heulten Sirenen.

Schritte. Die Tür öffnete sich, Personen traten ein. Ich hörte Miokos Stimme, darauf das kurze Gebrummel eines Mannes. Sie unterhielten sich über das Wetter, eine Kaltfront, die sich näherte. Es war seltsam, die beiden nicht sehen zu können. Ich starrte nur auf den glänzenden Vorhang und verhielt mich ganz still. Dann vernahm ich den schnaufenden Atem des Kunden, während er seinen irgendwie komplizierten Mantel auszog. Mioko lief währenddessen im Raum herum.

»Wir fangen jetzt an!«, rief sie plötzlich. »Komm her. Öffne den Holzkasten und nimm das Werkzeug heraus.«

Ich hörte, wie der Mann ihren Anordnungen Folge leistete: Leise schnappte ein Schloss, dann war ein Klappern zu hören, als würde ein metallischer Gegenstand aus einer Halterung genommen. Kurz darauf wurde etwas auf den Tisch vor dem Fenster gelegt, was ein weiteres Klappern verursachte.

»Geh zurück zum Bett«, befahl Mioko. »Und spitz deine Ohren: Rudolph musste uns verlassen. Aber ich habe jemand Neuen besorgt. Adler.«

»Was ist denn das für ein Name? Indianisch?«, fragte der Mann leise, und ich glaubte, eine beinahe kindliche Neugier aus seiner alten, dabei nicht unangenehmen Stimme zu hören.

»Warum setzt du nicht endlich deinen idiotischen Hut ab und ziehst dein Hemd aus und auch deine Hosen, bevor ich wütend werde«, entgegnete Mioko ruhig.

»Er ist bestimmt besser als Rudolph, oder?«

»Keine Sorge. Er weiß genau, was du brauchst. Außerdem, sei nicht so frech! Auf mich kommt es hier an, auf sonst niemanden. Ich habe dich über eine Änderung des Hintergrundprogramms informiert, weiter nichts.«

»Natürlich, Mistress.«

Ich fasste mich, saß ganz aufrecht und blickte auf die Passage, mit der ich beginnen wollte. Es raschelten Kleider, dann stieg jemand in das zunächst ächzende, bald verstummende Bett. Ich hoffte, es war jetzt der richtige Zeitpunkt. Ich räusperte mich zurückhaltend und fing mit meiner Sebald-Lektüre an.

»Als der Nachmittag sich schon neigte, spazierte ich durch den Park und schaute zuletzt noch hinein in das erst vor ein paar Monaten neu eröffnete Nocturama. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Augen sich an das künstliche Halbdunkel gewöhnt hatten und ich die verschiedenen Tiere erkennen konnte.«

Ich hörte einen leisen Seufzer. Ich wusste nicht, ob das mit Sebald oder mir zu tun hatte. Ich versuchte, nicht länger auf die Vorgänge im Raum zu achten, sondern mich voll und ganz auf meinen Text zu konzentrieren. Ich war so nervös, ich hatte den Anschluss verloren und setzte einfach irgendwo wieder ein.

»Es war ungewöhnlich dunkel geworden und schwül, als ich am Mittag nach einer Rast am Strand zu der einsam über dem Meer gelegenen Heide spazierte.«

Der Mann atmete schwer.

»Selten habe ich mich so ungebunden gefühlt wie damals bei dem stunden- und tagelangen Dahinwandern durch die teilweise nur spärlich besiedelten Landstriche hinter dem Ufer des Meers.«

Auf der anderen Seite des Vorhangs lief ein, wie mir schien, konzentriertes Programm ab. Das Seufzen hatte sich mittlerweile in Stöhnen verwandelt, und ich überflog die Seite, auf der Suche nach Sätzen, die die Situation noch anheizen würden. »Schon begann es dunkel zu werden zwischen den Zeilen der Ziegelhäuser.« Vorsichtig hob ich meine Stimme: »Einzig der Leuchtturm mit seiner funkelnden Glaskabine reichte noch in die Grad für Grad von der Erde abhebende Helligkeit hinein.« Ich hörte ein kurzes Aufstöhnen. »Eine Art Auswuchs unserer Ignoranz, mit dem wir, so wie manche Meerespflanzen und -tiere mit ihren Fangarmen, blindlings das Dunkel durchtasten, das uns umgibt.« Sekunden lang blieb es nun ganz still. Ich wusste nicht, ob ich meine Sache richtig machte und versuchte, die Spannung zu erhöhen, indem ich die Lesegeschwindigkeit steigerte: »Nirgends sah ich mehr einen Zusammenhang. Die Sätze lösten sich auf in lauter einzelne Worte, und es war ungewöhnlich dunkel geworden und schwül, als ich am Mittag nach einer Rast am Strand zu der einsam über dem Meer gelegenen Heide von Dunwich hinaufstieg.«

So ging es eine Weile.

Irgendwann vernahm ich ein langgezogenes, heiseres Rufen, und ich spürte: Dies war der entscheidende Moment. Ich senkte meine Stimme, um nicht zu stören und flüsterte: »Selbst die schneeweiß in der Bucht auflaufenden Wellen, so schien es mir, standen still, und ich wußte nicht mehr, ob ich das blasse Seeungeheuer am Fuß der Klippe tatsächlich gesehen hatte.«

Da gab es ein paar Augenblicke der vollkommenen Ruhe im Raum.

So schlecht ist es nicht, murmelte es lautlos in mir. Jetzt bin ich also Teil der Dienstleistungsgesellschaft. Im Dienste von Lust und der Poesie. Ein oraler Handwerker, warum nicht.

80 Dollar die Stunde. Ich musste grinsen. Das war schon okay.

Ich hörte, wie der Mann sich anzog. Ein Schloss schnappte zu, Mioko summte vor sich hin. Dann brachte sie den Kunden zur Tür und verließ mit ihm den Raum.

Langsam kam ich aus meinem Alkoven hervor. Die Bettstatt war durchwühlt, die rote Seide in Unordnung. Ein schwarzes Seil hing noch um einen der Pfosten am Kopfende geknüpft. Ich durchquerte den Raum, ging zum mittleren Fenster hin und öffnete es, um frische Luft hereinzulassen, schaute dabei hinaus in Richtung Times Square. Ein Mann verließ das Haus und lief zwischen den gusseisernen Schildkröten hindurch. Er trug einen schweren schwarzen Mantel, schwarze Hosen und einen schwarzen Hut. Noch bevor ich ihn genauer in Augenschein nehmen konnte, verschluckte ihn bereits der Strom der Passanten. Ich suchte nach ihm und glaubte auch einige Momente später, ihn erneut im Blickfeld zu haben, doch da erstarrte ich, denn der Mann, den ich jetzt sah, der gleiche, wie ich glaubte, hatte lange eisgraue Schläfenlocken, die unter seinem kastenförmigen Hut hervorbaumelten.

Ich schüttelte kurz und schnell meinen Kopf und schaute mich weiterhin nach dem Mann um, der gerade Pandora’s Box verlassen hatte, doch sah ich nur diesen Mann mit den Schläfenlocken, er schien der einzige, der dafür in Frage kam – und starrte ihm hinterher, bis er um die Ecke bog und verschwand.

Jemand kam ins Zimmer herein. Ruckartig drehte ich mich um. Mioko in ihrem fabelhaften Kostüm. Sie lächelte und sagte, ich hätte meine Sache gut gemacht. Dann fragte sie mich, wie es mir gehe. Ich wusste es nicht genau. Schließlich sagte ich, ich sei okay.

»Sehr schön.« Die Teiche ihrer Augen glitzerten. »Ich bin sehr froh. Du passt so gut zu meinem Stück. In zwei Tagen sehen wir uns?«

7

Eagle,

ich bin früh aufgewacht heute, im Frost und im Nebel. Mein Assistent war bereits bepackt: Stative, Kameras, Requisiten. Zwei meiner Models haben ihn den Berg hinauf begleitet; ein höriger Diener. Irgendwann schleppte ich mich hinterher und machte ein paar Bilder zum Sonnenaufgang in dieser hügeligen, ländlichen Gegend. West Virginia. Hier lebt ein merkwürdiges Völkchen. Die Frauen sind fast alle Hippies, laufen nackt in ihren Gärten herum und suchen permanent nach Entschuldigungen dafür, noch ein wenig im selbstgezimmerten Holz-Jacuzzi zu köcheln, während die örtlichen Männer ausnahmslos ‹berlebende irgendwelcher New Age-Bewegungen sind und voreinander mit ihren Verschwörungstheorien angeben und wie viele Rehe sie jüngst schossen zwecks Aufforstung des Waldes.

Versteh mich nicht falsch: Mir geht es gut. Die neuen Bilder sind alle in diesem Roadtrip-Stil, der mir gefällt. Der Prozess ihres Entstehens ist nahe an den Geschichten dran, die ich erzähle. Sie sind weniger inszeniert als das, was ich früher gemacht habe, weniger narrativ, die Handlung nicht sehr spezifisch, die Models kleiner in der Landschaft; ich spiele nach Möglichkeit nicht mit Metaphern und Allegorien. Es ist eine Art Wandel dahin, dass ich der Welt vertraue, interessanter zu sein als alles, was ich mir selbst ausdenken könnte. Aber es ist keine lineare Evolution. Ich falle auch immer wieder auf das zurück, was ich kenne und mag. Vielleicht hat sich gar nichts geändert.

 

Nur dieser Student, mit dem ich die ganze Zeit zusammen bin, mein Assistent, der Nicht-so-Schlaue, ist ein Problem. Er will immer nur über die Liebe reden und die ach so problematische Beziehung zu seiner Freundin, ununterbrochen. Das macht mich ganz fickrig, als spräche ich mit einem Zeugen Jehovas. Seine Ideen sind so konventionell und vorhersehbar. Deshalb gebe ich mit dir an und unserer seltsamen, schnellen Hochzeit, und wie die Geschichte jetzt im blauen Äther der Computerkommunikation ausgetragen wird. Für ihn klingt das äußerst pervers; mich bestätigt es, wenn ich darüber spreche. Du machst mich sehr glücklich. Wir passen zueinander.

Doch jetzt zu deiner Arbeit. Ich habe deinen jüngsten Bericht sehr genau gelesen, und ich gebe zu, ich habe Bedenken wegen deines neuen Jobs. Ich bin eifersüchtig. Was du da tust, greift in ein Terrain über, das uns allein gehörte. Warum kannst du nicht eine normalere Tätigkeit ausüben, Benzin ausschenken an einer Tankstelle oder mit Hunden Gassi gehen? Auch bin ich skeptisch, was deine Vermutung über die Herkunft deines Kunden angeht. Ich muss über all das nachdenken und sage nur: Pass auf dich auf!

In Liebe,

Deine Frau

8

Regel Nummer eins für Deutsche, zumal im Ausland: die Nazi-Sache nie auf die leichte Schulter nehmen. Äußerst aufmerksam sein. Sich der Grausamkeiten, die die schlimmsten sind, die je passierten, immer bewusst sein.

Sei nett. Deine Großeltern waren es nicht.

Während des gesamten folgenden Tages schien eine Wintersonne sehr angenehm. Immer wieder dachte ich an Pandora’s Box und den Klienten und fragte mich, ob es wirklich der Mann mit den Schläfenlocken gewesen war und um was für ein Stück es sich handelte, das Mistress Mioko auf ihrer Bühne da inszenierte. Gab es hier irgendeine Art von Aufgabe, die ich zu erfüllen hatte?

In was für ein Szenario hatte Mistress Mioko mich hier involviert?

Instinktiv lehnte ich diese Verantwortung ab. Sie war einfach zu kitschig. Musste das wirklich so sein, dass ich, als Deutscher, egal, wohin ich ging, mit diesem schlimmen alten Zeug konfrontiert wurde? Gab es hier eine Art Holocaust-Hausaufgaben zu lösen? Jedenfalls handelte es sich um eine Attacke der Vergangenheit auf meine übrige Zeit.

Ich war doch viel zu cool für seinen solchen Schwachsinn –

Stundenlang lief ich durch die Stadt, seltsam gehetzt, hielt mich dabei in Richtung Westen und erreichte schließlich den schimmernden, hier und dort bereits von Eisschollen durchtriebenen Hudson. Über der dünnen weißen Wolkendecke glühte ein milchiges Licht, Boote der Polizei und Küstenwache kreuzten, Uniformierte suchten vom Wasser aus die Ufergegend mit Ferngläsern ab, Gischt spritzte auf. Fähren schaukelten hinüber nach Jersey, und als ich die Promenade erreichte, drängten immer mehr bemantelte Menschen an mir vorbei, strömten zur Dockstelle hin, auf dem Weg zurück in ihre Behausungen oder Stammkneipen, zum Feierabendbier. Eine Fähre hupte das Signal zur Abfahrt, und Personen fingen zu sprinten an, rannten vor ihren Berufen davon, Krawatten bogen sich um Hälse, Frauen hielten Handtaschen fest, huschten wie Gazellen auf Speed in Stöckelschuhen über die Holzplanken des Stegs.

Ich sah mir dies alles an, diese erhaltene Ordnung, in der Menschen Papiere über Tische wandern ließen am Tage und ein Bötchen nachhause nahmen, wenn die Arbeit getan. Es sah so einfach aus, so selbstverständlich, so weit entfernt.

Da war etwas abgestorben in mir. Ich war mir nicht sicher, was es war.

Ich stand am Rande des Flusses und betrachtete die Eisschollen. Möwen landeten darauf. Ich beneidete sie.

Zum Abend hin beschloss ich, das Apartment in der Orchard zu säubern, um wenigstens zu irgendeinem greifbaren Ergebnis zu kommen. Zunächst staubsaugte ich, dann wusch ich den alten Holzboden nass, machte als nächstes die Badewanne sauber, entfernte den Schmutz aus dem Abfluss und polierte die alten Messingarmaturen. Allein die Wasserflecken auf dem Spiegel über dem Waschbecken bekam ich einfach nicht ab, ebenso wenig die alten schwärzlichen Abdrücke von Fingern neben der Eingangstür. Danach widmete ich mich der Küchen- ecke. Ich räumte all das alte Zeug aus dem Kühlschrank, nahm jedes einzelne Fach heraus und schrubbte es. Schließlich kam das Wohnzimmer an die Reihe: alle Regale, der Tisch zwischen den Fenstern, und auch die handgroßen Blätter der einzigen Zimmerpflanze im Raum, einer prächtig gedeihenden Monstera Deliciosa, die das gesamte rechte Fensterbord einnahm, staubte ich einzeln ab.

Über zwei Stunden dauerte die Prozedur. Ich dachte dabei an nichts. Ich hatte nur den dringenden Wunsch, alles sauber zu machen und rein.

Nach meinem Dinner – getoastetes Wonderbread mit Erdnussbutter; zu mehr war ich nicht mehr in der Lage – überlegte ich, wie ich den weiteren Abend zubringen sollte. Nichts fiel mir ein. Sex mit meiner Frau, das wäre möglich gewesen. Unschlüssig lief ich durch die Wohnung und unternahm ein paar lange, ereignislose Wanderungen um den immerhin blank geputzten Küchentisch herum.

Später lag ich auf der Matratze im Wohnzimmer und betrachtete die abblätternde Farbe an der Decke. Sie wusste so genau, was sie tat, sie blätterte einfach ab.

Ich stützte mich auf, mit dem Gesicht zu den schlierenfreien Fenstern hin.

Relax, es ist nur ein Job.

Und alle Jobs sind hart, außer man tut genau das, was einem am besten gefällt, aber das ist selten ein Job.

Ich stand auf, ging zum Küchenschrank, nahm das Fläschchen Glen Grant heraus, das von unserer Hochzeitsnacht übrig geblieben war, goss mir einen Doppelten ein und gab einen Tropfen Wasser hinzu.

Aus Büchern vorlesen, das war im Grunde okay. Das war eine sinnvolle Aufgabe. Das hatte mir schon immer Spaß gemacht, das Lesen, und meistens war es ja gar nicht mehr möglich, sich richtig darauf einzulassen.

Dies zumindest ermöglichte mir mein neuer Job

9

Am Morgen besuchte ich die große Verleihbibliothek Ecke 40. Straße und Fünfte Avenue, die Sektion mit den deutschen Klassikern. Sicher war es nicht ganz verkehrt, eine kleine Auswahl für die Bühne bereit zu halten. Ich beschloss, mich zunächst auf die Philosophie zu konzentrieren, von der ich zumindest ein klein wenig verstand, was es mir immerhin ermöglichen sollte, interessante Texte zu finden, auch wenn mir nicht vollständig klar war, was interessant im Zusammenhang mit Raum Nummer fünf überhaupt bedeutete. Zudem konnte ich es, während ich die lange Regalreihe abwanderte, kaum mehr nachvollziehen, was mich einst mit dem Studium der Philosophie hatte beginnen lassen – die schlichte Tatsache vielleicht, dass es sich dabei um die größte Fakultät an der Hochschule handelte und ich einfach nur der Herde gefolgt war? Mein Denken jedenfalls war für die Philosophie alles andere als geschaffen, es war dafür nicht scharf genug. Ich besaß, wenn ich Glück hatte, ein Brotmesserdenken, ja, ich konnte Brot damit schneiden, das lapprige Wonderbread am ehesten, wäre es nicht ohnehin schon vorgeschnitten, aber nie wäre es mir als natürlich vorgekommen, den harten Stein existentieller Fragen damit bearbeiten zu wollen.

Wahllos griff ich ein paar große Namen heraus und legte sie in den roten, aus Plastik gestanzten Ausleihekorb.

Als nächstes besuchte ich die Judaistik-Abteilung. Auch in dieser Hinsicht wollte ich nicht vollkommen unvorbereitet sein, falls meine Beobachtung aus dem Fenster wirklich gestimmt hatte.

Nach einigen Minuten, einer Viertelstunde vielleicht – ich beschäftigte mich auf die Schnelle vor allem mit der Verfolgung während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – kam ich auf einen Gedanken. Ich überlegte, ob mein Vorlesen hinter dem schwarzen Vorhang vielleicht ein Verlangen nach genau jener Kultur befriedigte, aus der man vertrieben worden, die verloren gegangen war – und ob auf diese Weise Pandora’s Box ein Stück des geraubten Zuhauses wiederbrachte. Dann allerdings blätterte ich in einem Buch, das mir ein umfassendes Bild der »Entwicklung des jüdischen Glaubens, seiner komplexen Geschichte und verschiedenen Zweige« versprach, und schloss aus den dortigen Beschreibungen, dass der Mann, den ich gesehen hatte, was Stil und Kleidung betraf, wohl entweder zur Gruppe der Chassiden oder der Litauer gehörte, die beide in Osteuropa sich entwickelt hatten, nicht aber in Deutschland, weshalb also heimatliche Gefühle gegenüber deutscher Literatur mehr als unwahrscheinlich waren. Wieder wurde ich unsicher: Was ging vor sich in Zimmer Nummer fünf?

Ich gab den Code ein, lief den Marmorgang entlang, stieg die Stufen nach oben und wurde auf halber Treppe von Mioko begrüßt, die auf dem Weg in den Salon hinunter war, um unseren Kunden zu empfangen. Streng zurückgebunden trug sie ihre Haare an diesem Tag, ohne Perücke, dazu einen schwarzen Latexanzug, der in ihren Bewegungen leise knirschte. Im Vorbeigehen fragte sie, wie es mir gehe, und mechanisch antwortete ich, ich fühle mich fein.

Ich öffnete die Tür mit der verschnörkelten Ziffer 5, betrat den erneut in weichem Vormittagslicht liegenden Raum, schlug den Vorhang zurück und machte es mir in meinem Sessel bequem, positionierte meine Titel. Für drei nebeneinander aufgeschlagene Bände bot der Notenständer Platz. Ich blätterte im Buch zur Linken und wählte eine Anfangsstelle. Dann nahm ich mir vor, ganz ruhig zu werden und meine Kräfte zu sammeln.

Ich wartete und starrte auf den schwarzen Stoff – und wieder versuchte ich, dessen Schlaufenmuster in seiner Ganzheit zu erfassen, doch versank mein Blick nur im Liniengestrüpp. Immerhin entdeckte ich, dass einige der Verziernähte sich teilten und in zwei Strängen weiterführten, da öffnete sich bereits die Tür, Geplauder näherte sich, und bald schon gab das Bett nach unter dem Gewicht eines Körpers.

Ich beugte den Kopf und konzentrierte mich.

Um warm zu werden, las ich ein wenig Kant. Damit würde ich eine Art Grundstein für die heutige Behandlung legen, so hoffte ich.

»Es müsste eine andere Zeit gedacht werden, unter der die Zeit, welche die formale Bedingung meiner innern Erfahrung ausmacht, enthalten wäre. Also gäbe es eine Zeit, in welcher und mit welcher zugleich eine gegebene Zeit verflösse, welches ungereimt ist.«

Ein etwas wirrer, wenngleich dahingleitender und nicht vollkommen blödsinniger Anfang. Ich begann, mich sicherer zu fühlen und fuhr einige Seiten lang so fort, hoffend, auf diese Weise langsam und solide in Richtung Fortschritt und Klärung hinzuarbeiten.

»Nun scheint es zwar natürlich, dass, sobald man den Boden der Erfahrung verlassen hat, man doch nicht mit Erkenntnissen, die man besitzt, ohne zu wissen woher, und auf den Kredit der Grundsätze, deren Ursprung man nicht kennt, sofort ein Gebäude errichten werde, ohne der Grundlegung desselben durch sorgfältige Untersuchungen vorher versichert zu sein, dass man also die Frage vorlängst werde aufgeworfen haben, wie denn der Verstand zu allen diesen Erkenntnissen a priori kommen könne, und welchen Umfang, Gültigkeit und Wert sie haben mögen.«

Mit dieser Passage – ein einziger Satz, unglaublich –, die ein regelrechtes Aufstöhnen hervorrief, schloss ich Kant nach etwa zehn Minuten ab und ließ, um die Stimmung weiterhin anzufachen, zumal lockerer vorzugehen, sowie gleichsam Zeit zu schinden vor einem später anzustrebenden Showdown, ein sich erstaunlich frisch anfühlendes Kapitel aus Hegels Phänomenologie des Geistes folgen.

»Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet.«

Ich hielt für einen Moment inne. Ich war abgelenkt worden vom harten Reiben eines Seiles – als ob ein Knoten fest zusammengezogen würde. Schnell fuhr ich fort:

»Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, dass nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden.«

Da bemerkte ich, wie etwas sich löste, begleitet von einem erleichterten Seufzen, und während ich weiterhin von der Natur des Geistes las, steigerte sich alles, dem nun hektischer werdenden Atmen nach zu urteilen, und ich ertappte mich dabei, wie meine Augen neugierig nach einer Öffnung im Stoff suchten, um einmal auf die andere Seite zu sehen, doch das Gewebe war dicht. Ich schaute zurück zur Musikablage, hatte aber Hegels Faden verloren und sprang stattdessen in den daneben liegenden Herder hinein: »Groß muss das Ganze sein, wo in jeder Einzelheit schon so ein Ganzes erscheint.« Das war nicht schlecht, doch schon ging ich zu Hebbel weiter, der ganz rechts aufgeschlagen war, drei Autoren nebeneinander, deren Nachname mit »He« begann, ich musste sie wohl der Reihe nach aus dem Regal gegriffen haben: »Die Erde ist ein Wrack im Schiffbruch, auf dem die Leute sich um den Zwieback schlagen.« Dies war eine zu offensichtliche Aussage und gefiel mir weniger und schien auch auf der anderen Seite nicht sonderlich anzukommen, also setzte ich Hebbel schnell wieder ab, suchte den kleinen Stapel durch und positionierte Nietzsche an seiner Stelle, eine Kanone sozusagen, und begann, mit Zarathustras Nachtlied zu variieren, in dem »lauter nun reden alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen. Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden.«

 

Ich beschloss, bis zum Ende der Behandlung beim überintensiven Nietzsche zu bleiben, eine Entscheidung, die mir ein wenig Ruhe gab und es mir ermöglichte, nun auch an meiner Vortragskunst zu feilen, um noch stärkere Reaktionen zu provozieren. So begann ich, mit meiner Stimme zu spielen – zu flüstern, dann das Tempo zu verlangsamen – und wieder zu beschleunigen, dramatische Pausen zu machen, während derweilen von draußen der Regen gegen die Scheiben schlug. Ja, es begann mir zu gefallen: Ich sendete meine Botschaft auf die andere Seite des Vorhangs, dort wurde sie empfangen, womöglich durch ein leises Stöhnen bestätigt, und ich antwortete erneut, und postwendend kam ein weiterer Laut zurück –

»Tritt hinaus aus deiner Höhle: die Welt wartet dein wie ein Garten. Der Wind spielt mit schweren Wohlgerüchen, die zu dir wollen; und alle Bäche möchten dir nachlaufen. Alle Dinge sehnen sich nach dir –«

Es gab dann einen Zeitpunkt, da schreckte ich wie aus einer Trance hervor und sah mich für Augenblicke lang ganz klar, wie aus der Vogelperspektive. Als ob das Adlerhafte in mir aufgestiegen war, um das Gehäuse einmal von oben zu betrachten: wie ich da saß und las, und ich erinnerte mich, wie eine frühere Kommilitonin einmal behauptet hatte, viel mehr als ein Philosoph oder Historiker sei ich immer ein Darsteller gewesen. Ich verstand nun, was sie meinte, und dass sie Recht hatte damit. Doch begriff ich auch, worum es bei dieser Darstellung ging? Verlor ich nicht gerade den Überblick, meine Rolle betreffend in diesem Zimmer Nummer fünf? Ich konnte es nicht leugnen, mich umfing eine Art von Bühnenrausch, und ich genoss meine Macht, genoss die hörbaren Bestätigungen von der anderen Seite, jenen gerade beschleunigenden Atemrhythmus des Kunden.

»Apollo, als ethische Gottheit, verlangt Moderation von seinem Gefolge und, damit diese aufrecht erhalten werden kann, Wissen um das Selbst. Von daher die Ermahnung ›Kenne dich selbst‹ und ›Nichts im Übermaß!‹«

Vielleicht, so überlegte ich, lag ja im Text selbst eine Antwort darauf, was hier vor sich ging, und es war womöglich kein Zufall, dass ich gerade jetzt Nietzsche las, denn hatte dieser nicht zu zeigen versucht, wie die westliche Welt ihre ganzheitliche Haltung zum Dasein, zu Geschichte und Kunst immer mehr verlor und zu all dem nicht mehr in einer alle Barrieren überschreitenden und mit allen Sinnen empfangenden Beziehung stand? Nur der rationale Aspekt der Rezeption überlebe, was einen Verlust darstelle, hatte Nietzsche geklagt, und ich fragte mich: War das in diesem Raum, den Mioko geschaffen hatte, in diesem Stück, das sie inszenierte, nicht anders? Hier existierte doch die klassische Einheit; der schwarze Vorhang selbst ermöglichte es, dass die beiden Pole der Kunst, des Lebens sich heilend trafen: ich im appolinischen Raume sitzend mit meinen Büchern, Mioko und der Kunde im dionysischen Rausch auf der anderen Seite. Vielleicht gab es hier tatsächlich eine sinnvolle Kommunikation, einen tief gehenden, vollständigen Austausch und damit so etwas wie wahres Theater –

»Die Feigen fallen von den Bäumen. Sie sind gut und süß; und indem sie fallen, reißt ihnen die rote Haut. Ein Nordwind bin ich reifen Feigen!«

Oder war ich einfach nur von Nietzsches Pathos infiziert?

10

Eagle!

Hallo, hier spricht deine Frau. Hab in irgend so einem Kaff mit Internet-Anschluss angehalten, um dir näher zu sein.

Die Arbeit geht langsam voran. Freunde von Freunden helfen mir gerade, zeigen mir die Gegend. Die sind ein richtiges Paar, fast ein Cartoon. Turteln ununterbrochen, zwinkern sich zu, und dabei leuchten sie derart, es tut meinen Augen weh. Ob wir jemals so zusammen sein könnten? Allerdings war ich auch ganz froh, als ich wieder im Auto saß, im Rückspiegel mein zufriedenes, allein gelassenes Gesicht.

Später am Tag wurde ich dieser alten Südstaaten-Familie vorgestellt. Die Mutter, eine gelangweilte Hausfrau, trinkt den ganzen Tag über Rotwein und brabbelt von den feinen Tragödien des Südens. Dabei glotzt sie aus dem Fenster auf Kudzu-Lianen, die ihren Blick erdrosseln. Sie hat eine pubertierende Tochter, die lachsfarbene Sportklamotten trägt, drei Größen zu klein und einen Pferdeschwanz hoch auf dem Kopf. Der Gatte und Vater fehlt, auf Montage im Irak, doch ist er überall in Familienporträts zu sehen, die im Haus verteilt hängen: ein steifer, ungeschlachter Mensch, der in dunkelblauen Anzügen steckt. Mutter und Tochter haben jedenfalls entschieden, dass ich zu den Guten gehöre, wohl weil ich erfolgreich bin und aufwendig produziere. Ich nicke und lächle, beobachte die Tochter, die ich fotografieren will, aber ich fürchte, sie finden bald meine wahre, zersetzende Natur heraus, und dann werde ich aus dem Ort gejagt, von einem Lynchmob.

Meinen nervtötenden Assistenten habe ich übrigens gefeuert. In der Frühe fahre ich weiter. Ein Mädchen vom Ort wird mich begleiten. Sie hat große Lust auf das angebliche Abenteuer, ein paar Tage mit mir zu verbringen und liebt die Vorstellung, mein Model zu sein. Wenn sie wüsste, wie langweilig das viele Fahren ist, dieses Starren durch die Windschutzscheibe, bis man vollkommen leer ist, verödet. Sinnlose, endlose, immer auf einem Niveau bleibende Geschwindigkeit.

Gegen Mittag werden wir hoffentlich in Oxford, Mississippi sein. Faulkner stammt von dort. Da werde ich wieder versuchen, die richtige Bühne zu finden, um den perfekten Moment von Mädchenglück abzulichten. Verdrehtes, überstrapaziertes gothic Amerika. Alles im Würgegriff toter Lianen und badend im roten Schlamm.

Nun zu dir. Ich habe deine jüngsten Zeilen mehrmals gelesen und fühlte mich dabei wie eine Motte, die immer wieder gegen eine Glühbirne fliegt, mit der Nase voran. Es ist so deutsch, dass du deinen Job in dieser Pandora’s Box als ein Projekt, ein Experiment in Sachen Erlösung deklarierst, als eine Art Mission. Wie diese pseudo-japanische Domina und du die Welt bessern wollt, mithilfe der Kunst und Literatur. Was für ein Schwachsinn. Das ist doch nur der ganz spezielle Verarschungstrick dieses Etablissements. Kohle, darum geht’s. Sei nicht so naiv. Ich bin sauer auf dich, dass du darauf reinfällst: dir einzubilden, etwas Besonderes, Edles zu tun. Du arbeitest in der Sex-Industrie, vergiss das nicht. Es ist schmutzig, schmutzig, schmutzig, weiter nichts. Versöhnungstempel? Ich bitte dich. Es scheint mir, als sei deine Phantasie festgefahren und zwar an einem engen, gefährlichen Ort.

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