Verschwundene Reiche

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Die Grenzen des zweiten burgundischen Reiches dehnten sich rasch aus. Das ursprüngliche Zentrum war Genava (Genf) am Lacus Lemanus (Genfer See), wo die Burgunder in ein Gebiet einwanderten, das kurz vorher durch die Vertreibung eines helvetischen Stammes frei geworden war. Kurze Zeit später wandten sie sich der Region am Zusammenfluss der Flüsse Arus (Saône) und Rhodanus (Rhône) im Herzen Galliens zu. Im Verlauf eines Jahrzehnts hatten sie sich in Lugdunum (Lyon), Divio (Dijon), Vesontio (Besançon), Augustodunum (Autun), Andemantunum (Langres) und Colonia Julia Vienna (Vienne) angesiedelt. Grenzfestungen in Avenio (Avignon) und in der Nähe des Rhône-Deltas sowie bei Eburodunum (Embrun) in den Bergen sicherten eine geschlossene territoriale Einheit mit herausragenden Verkehrsverbindungen.

Das wenige, was über die Burgunder zur Zeit ihrer Ankunft bekannt ist, stammt von einem gallisch-römischen Schriftsteller, der verfolgte, wie sie sich in seinem Heimatort Lugdunum niederließen. Sidonius Apollinaris dürfte 452, als er sie kennenlernte, ungefähr 20 Jahre alt gewesen sein. In seinen Briefen erwähnt er die »haarigen Riesen«, die »sieben Fuß groß« waren und die »in einer unverständlichen Sprache reden«.24 über diese burgundische Sprache wissen wir noch weniger. Einige Worte wurden in Gesetzestexten festgehalten (siehe unten), und die Bedeutung der überlieferten Namen der burgundischen Herrscher ist entschlüsselbar. Gundoband bedeutet »Tapfer in der Schlacht«, Godomar heißt »Berühmt in der Schlacht«. Einige heutige Ortsnamen lassen sich auf einen Personennamen zurückführen, an den die skandinavische Nachsilbe -ingos angehängt ist. Das Dorf Vufflens im Waadt beispielsweise wurde als »Vaffels Ort« übersetzt.25 Das ist nicht viel, an das man anknüpfen kann.

In dem Jahrhundert, das zwischen dem Ende des ersten und dem Ende des zweiten Reiches lag, sind fünf Könige überliefert, die alle der alten Linie von Gibica entstammen:

Gundioch/Gundowech (reg. 437–474)

Chilperich I. (reg. 474–480)

Gundobad (reg. 480–516)

Sigismund (reg. 516–523)

Gundimar/Godomar II. (reg. 523–534)

In einer Römersiedlung in der Nähe von Genf wurden die Fundamente eines burgundischen Königspalasts entdeckt, der wahrscheinlich um das Jahr 500 entstanden ist und eine Halle und eine christliche Kapelle umfasst.26 Die Historizität von König Godomar wird durch einen Grabstein im alten Klosterfriedhof von Offranges in der Nähe von Evian bezeugt:


In hoc tumulo requiescat bonae memoriae errovaccus qui vixit anns XIII et mensis III et transit X KL septembris mavurtio viro clr conss sub unc conss brandobrigi redimitionem a dnmo gudonaro rege acceperunt.27

Der erste Teil der Inschrift ist klar. Ein Junge namens Ebrovaccus, 13 Jahre und vier Monate alt, der »in diesem Hügel liegt«, starb, als Mavortius Konsul war. Der zweite Teil hat zu vielerlei Spekulationen angeregt. »Godomar war König«, ein Stamm mit keltisch klingendem Namen, die Brandobrigen, wurde entweder freigelassen oder freigekauft. Die frühesten burgundischen Münzen wurden Anfang des 6. Jahrhunderts mit kaiserlicher Lizenz in Ravenna geprägt; sie zeigen Gundobads Monogramm und den Kopf des römischen (byzantinischen) Kaisers. Somit bringen sie sehr anschaulich den Status eines rex als eines anerkannten kaiserlichen Stellvertreters zum Ausdruck.28

Die Burgunderkönige betrieben eine geschickte Heiratspolitik. Gundioch verheiratete seine Schwester mit Ricimer (405–472), der zeitweilig Gehilfe von Flavius Aetius und de facto Gebieter des sterbenden Reiches war. In der folgenden Generation wurde Chilperichs Tochter Clothilda (474–545) mit Chlodwig verheiratet, dem König der Franken, zwölf Jahre bevor dieser bei Vouillé die Westgoten besiegte (siehe dazu S. 25ff.) Clothilda wurde später heilig gesprochen, weil sie ihren Gemahl dazu gebracht hatte, das Christentum anzunehmen. Sie ist in der Kirche St. Geneviève in Paris bestattet.29

Chlothildas Onkel Gundobad, der sich mit dem Titel eines römischen Patriziers schmückte, erlangte die volle Kontrolle über sein Erbe erst nach einem dreißigjährigen Familienstreit, im Zuge dessen das burgundische Königreich aufgeteilt wurde und drei Zentren – Lugdunum, Julia Vienna und Genava – die Regierungsgewalt beanspruchten. Dieser Bürgerkrieg schwächte den jungen Staat, mit dem die Franken und die Westgoten daher leichtes Spiel hatten.30 Gundoband verdankte seine römische Laufbahn seinem Verwandten Ricimer. Ihm wurde die kurzlebige Ehre zuteil, einen Kaiser, Glycerius, auf den Thron in Ravenna zu setzen. Doch später war er die meiste Zeit damit beschäftigt, sich mit seinen Verwandten zu streiten. Immerhin konnte er sich durch Tributzahlungen die Franken vom Hals halten. Sein Bruder Godegisel konnte sich, mit Chlothildas Mutter Caretana an seiner Seite, bis zum Ende des Jahrhunderts in Genava behaupten. Danach stellte er die Tributzahlungen an die Franken ein und konzentrierte sich auf den Aufbau der Kirche und die Gesetzgebung. Zwei Gesetzesbücher werden ihm zugeschrieben, das Lex Romana Burgundiorum und das Lex Gundobada.

Der Burgundische Codex (oder die Codices), der in 13 Manuskripten erhalten geblieben ist, ist bezeichnend für diese Zeit, in der die germanischen Stämme das Christentum annahmen, schriftkundig wurden und Gesetze kodifizierten.31 Anders als der Codex Euricianus (siehe oben S. 34) muss er als eine Ergänzung zum bestehenden römischen Recht betrachtet werden; er besteht aus einer Sammlung von Gewohnheitsrechten (mores) für die Burgunder und einer Reihe von Statuten (leges), die für die ehemaligen römischen Bürger galten, die unter den Burgundern lebten. Die moderne Variante des Burgundischen Codex besteht aus 105 »Konstitutionen« und vier zusätzlichen Verordnungen. Der Großteil der Gesetze wurde in Lugdunum von Gundobad verkündet und später unter Sigismund überarbeitet; sie behandeln eine Vielzahl von Themen, angefangen mit Geschenken, Mord und Befreiung der Sklaven bis zu Weinbergen, Eseln und Ochsen, die in Pfand gegeben werden. Für nahezu alle Vergehen wird ein Wiedergutmachungspreis genannt und eine weitere Summe, die als Bußgeld oder Strafe zu zahlen ist:

XII Mädchenraub

Wenn jemand ein Mädchen raubt, soll er gezwungen werden, den neunfachen Preis für ein solches Mädchen zu zahlen und er soll eine Strafe zahlen, die sich auf zwölf Solidi beläuft.

Wenn ein Mädchen, das geraubt wurde, unversehrt zu seinen Eltern zurückkehrt, soll der Entführer das sechsfache Wergeld für das Mädchen aufbringen; zudem soll die Strafe auf zwölf Solidi festgesetzt werden.

Wenn jedoch das Mädchen den Mann aus freiem Willen erwählt und in sein Haus kommt und er mit ihr verkehrt, soll er den dreifachen Brautpreis entrichten; wenn sie darüber hinaus unversehrt in ihr Elternhaus zurückkehrt, soll ihm alle Schuld erlassen werden.32

In einer dieser Konstitutionen werden ausführlich Regeln zum Aufstellen von Wolfsfallen mit gespannten Bogensehnen (tensuras) beschrieben (XLVI). In anderen wird festgelegt, welche Maßnahmen gegen Juden zu ergreifen seien, »die ihre Hand gegen einen Christen erheben« (CII), oder es wird eine Verdoppelung der Geldstrafe für Diebstähle oder andere Vergehen in Weingärten bei Nacht verfügt.33 Man beschäftigte sich ausführlich mit der Festlegung der Strafmaße:

– Für die Tötung eines Hundes: 1 Solidus

– Für den Diebstahl eines Schweins, Schafes, einer Ziege oder eines Bienenvolks: 3 Solidi

– Für die Vergewaltigung einer Frau: 12 Solidi

– Für das Abschneiden der Haare einer Frau ohne Grund: 12 Solidi

– Für die Ermordung eines Sklaven: 30 Solidi

– Für die Ermordung eines Zimmermanns: 40 Solidi

– Für die Ermordung eines Hufschmieds: 50 Solidi

– Für die Ermordung eines Silberschmieds: 100 Solidi

– Für die Ermordung eines Goldschmieds: 200 Solidi34

(Frauen wurden die Haare abgeschnitten, damit sie als Kriegerinnen kämpfen konnten.) Bis auf einige burgundische Begriffe wie Wergeld oder Wittimon war der Codex auf Lateinisch abgefasst. Mehrere Grafen bezeugten ihn mit ihren Siegeln, wodurch eine seltene Liste burgundischer Eigennamen entstand:


Abcar Unnan Sunia Wadahamar Aveliemer Viliemer Hildegern Gundemund Avenahar Sigisvuld Widemer Walest Annemund Hildeulf Gundeful

Sigismund, einem Sohn von Gundobad, der das Christentum annahm und später von der Kirche heilig gesprochen wurde, wird häufig die Bekehrung seines gesamten Volkes zum Christentum zugeschrieben. Zusammen mit seinen Brüdern führte er einen erfolglosen Feldzug gegen die Franken, besser jedoch gelang ihm die Unterdrückung der arianischen Enklaven, die sich nach der Teilung des Reiches hatten halten können. Es wird angenommen, dass er seinen kleinen Sohn erdrosseln ließ, um ihn von der Thronfolge auszuschließen, und dass er, nachdem er von den Franken entführt worden war, in einem Brunnen in Coulmiers in der Nähe von Orléans sein Ende fand. Er wurde zum Märtyrer erklärt, und der Kult um seine Person verbreitete sich in weiten Teilen Europas.36 Zu seinen bedeutendsten Hinterlassenschaften gehört eine ausführliche Korrespondenz (um 494–523) mit seinem Chefberater, dem Erzbischof (und späteren Heiligen) Avitus von Vienne37 sowie die Gründung der Abtei Aganaum (heute St. Maurice-en-Valais), einem Ort des laus perennis, des »unaufhörlichen Gotteslobs«.38

 

Die Vorherrschaft des Katholizismus in Burgund wurde 517 durch das Konzil von Epaon (vermutlich Albon in der heutigen Dauphiné) bekräftigt, auf dem Avitus, dessen Briefe eine der sehr seltenen zeitgeschichtlichen Quellen bilden, Richtlinien für das gesellschaftliche und kirchliche Leben festlegte. Die Regeln, nach denen Arianer wieder in die Kirche aufgenommen werden konnten, wurden gelockert. Die Vorschriften für die Klöster und die Konvente wurden dagegen verschärft, ebenso jene, die sich auf Ehe und Blutsverwandtschaft bezogen. Letztere Maßnahme erzürnte Sigismund derart, dass er künftig der heiligen Kommunion in der Kirche fernblieb und seinen Übertritt zum Arianismus androhte. Erst nachdem der Bischof von Valence ihm geholfen hatte, von einer Krankheit zu genesen, lenkte er ein.39

Das (zweite) Königreich der Burgunder fand sein Ende nach dem Sieg der Franken in den scheinbar endlosen Fränkisch-Burgundischen Kriegen in den ersten Jahrzehnten des 6. Jahrhunderts. Dass Clothilda, die burgundische Ehefrau von Chlodwig (Chlodwig starb 511), in diesen Kriegen eine wichtige Rolle spielte, wurde ihrer langjährigen Unterstützung für das Christentum zugeschrieben, aber auch ihrem politischen Engagement für ihre Söhne in deren Fehde mit ihren burgundischen Verwandten. Das Königreich wurde von den Franken angegriffen, zunächst aus dem Norden und dann, nach ihrem Sieg über die Westgoten bei Vouillé, auch aus dem Westen. Im Jahr 532 oder 534 wurde Gundimar von ihnen gefangen genommen, geächtet, verurteilt und hingerichtet, und sein Erbanspruch fiel an die Franken.

Mehr als drei Jahrhunderte unterstand das ehemalige burgundische Reich nun der fränkischen Oberherrschaft; in dieser Zeit verschwand der ursprüngliche Unterschied zwischen Franken und Burgundern und die fränkisch-burgundischen Oberherren vermischten sich mit der Kultur und der Gesellschaft der früheren gallo-romanischen Bevölkerung. Zwei Dynastien brachten die Nachkommen von Chlodwig und Chlothilda hervor. Die Merowinger, die bis 751 herrschten, führten ihre Herkunft auf Merewig oder Merovée zurück, den Großvater von Chlodwig, und trugen ihre Haare lang als Zeichen ihres königlichen Status. Die Karolinger, die von 751 bis 987 regierten, wurden als »Hausmeier« (Vorsteher der Palastverwaltung) am Merowingerhof in Jovis Villa an der Maas bekannt und stammten von dem berühmten Krieger Karl Martell ab. Ihr berühmtester Sohn war Karl der Große (reg. 768–814), dessen Reich sich von der Spanischen Mark bis nach Sachsen erstreckte und der sich vom Papst zum Kaiser krönen ließ.

In diesen Jahrhunderten vollzogen sich auch grundlegende sprachliche Veränderungen. Zu Zeiten von Chlodwig und Gundobad waren die alte fränkische und die skandisch-burgundische Sprache neben dem Latein der Gallo-Römer gesprochen worden. In der Zeit von Karl dem Großen wurden diese Sprachen durch mehrere neue Idiome ersetzt, die zur allgemeinen Kategorie des Francien oder »Altfranzösisch« gehören. Fränkisch überlebte nur in den Niederlanden als Vorläufer des Niederländischen und des Flämischen. Latein hielt sich in stilisierter Form als Kirchensprache und als Schriftmedium. Das Burgundische ging vollkommen unter. Die zahlreichen Varianten des Altfranzösischen werden gewöhnlich in zwei Gruppen unterteilt – die langues d’oïl und die langues d’oc, deren Namen sich aus der in diesen Sprachen üblichen Bezeichnung für »ja« ableiten. In ersteren ist aus dem lateinischen hoc illud im Laufe der Zeit oïl und daraus das moderne »oui« entstanden; in den langues d’oc, die auch als Okzitanische Sprache bezeichnet werden, entwickelte sich aus hoc das Wort oc für »ja«. Die Trennlinie zwischen oïl und oc verlief mitten durch das frühere burgundische Gebiet und ist auch heute noch auf der Sprachenkarte sichtbar.40

Innerhalb des fränkischen Herrschaftsbereichs gab es immer eine territoriale Einheit, die als »Burgund« bezeichnet wurde. Viele Merowinger stilisierten sich als Könige von »Francia et Burgundia« oder von »Neustrien et Burgundia«. (Neustrien war der frühmittelalterliche Name für die Region um Paris.) Ende des 6. Jahrhunderts errichtete einer der Enkel von Chlodwig und Clothilda, Guntram (reg. 561–592), ein eigenständiges Regnum Burgundiae, das eineinhalb Jahrhunderte Bestand hatte, bis es von Karl Martell unterworfen und seinem Reich einverleibt wurde. Dieses geheimnisvolle Fürstentum erscheint als Nr. II auf der Liste von Bryce, wenngleich man es besser als das »dritte Burgunderreich« bezeichnen müsste. Wahrscheinlich weil es nicht vollständig souverän war, wurde seine Existenz häufig ignoriert. Doch die beiden vorhergegangenen burgundischen Reiche waren auf ähnliche Weise Oberherren unterworfen gewesen.

Guntram (Guntramnus) ist eine interessante Figur, nicht weil er später heilig gesprochen wurde, sondern auch weil seine Armeen bis nach Britannien und Septimanien im Südwesten des Frankenreiches zogen. Als »König von Orléans« übte er eine Zeit lang sogar die Herrschaft über Paris aus. Er war ein Zeitgenosse des Bischofs und Chronisten Gregor von Tours, der sorgfältig die Entwicklungen während seiner Regentschaft aufzeichnete, die durch eine nicht enden wollende Abfolge von Kriegen, von dynastischen Streitereien, Morden, Intrigen und Verrat geprägt war. Guntrams Frauenbeziehungen waren ähnlich vielfältig wie seine militärischen Feldzüge:

Der ehrenwerte König Guntram nahm sicli zuerst eine Konkubine namens Venerande, eine Sklavin, die zu seinem Volk gehörte, mit welcher er einen Sohn namens Gundobad hatte. Später heiratete er Marcatrude, die Tochter von Magnar, und schickte seinen Sohn Gundobad nach Orléans. Doch als auch sie einen Sohn gebar, wurde Marcatrude eifersüchtig, so hieß es … und vergiftete [Gundobads] Trunk. Dadurch zog sie, nach dem Willen Gottes, den Zorn des Königs auf sich und wurde von diesem verstoßen. Daraufhin nahm er Austregild, die auch Bobilla genannt wurde, zur Frau. Sie schenkte ihm zwei Söhne, von denen der ältere Clothar und der jüngere Chlodomer genannt wurden.41

An einer Stelle unterbricht Gregor von Tours seine Schilderung und schiebt eine Beschreibung von Divio (Dijon) ein, das eine besondere Rolle in der burgundischen Geschichte spielt. Davor hatte er von Gregorius gesprochen, dem Bischof von Langres:

[Divio], wo Bischof [Gregorius] tätig war … ist eine Festung mit sehr robusten Mauern, mitten in einer Ebene errichtet, ein sehr schöner Ort, mit reichem und fruchtbarem Land, sodass … zur entsprechenden Jahreszeit eine Fülle von Erzeugnissen dort angeliefert wird. Im Süden fließt ein Fluss … der sehr fischreich ist, und aus dem Norden kommt ein weiterer kleiner Strom, der … unter einer Brücke hindurch … um den gesamten befestigten Ort herumfließt … und die Mühlen vor dem Tore mit bewundernswerter Geschwindigkeit antreibt … Die vier Tore weisen nach den vier Himmelsrichtungen, und 33 Türme schmücken die Mauer, die 30 Fuß hoch ist und 15 Fuß dick … Im Westen liegen Hügel, sehr fruchtbar und voller Weingärten, in denen ein solch edler Falerner erzeugt wird, dass [die Bewohner] den Wein von Ascalon verschmähen. Die Alten sagen, dass dieser Ort von Kaiser Aurelian gegründet wurde.42

Trotz dieser opulenten Umgebung verbrachte Guntram, wenn man Gregor Glauben schenken darf, seine letzten Lebensjahre mit Fasten, Beten und Weinen. Seine Hauptstadt war Cabillo (Chalons-sur-Saône), wo er in der Kirche St. Marcellus beigesetzt wurde. Durch spontane Akklamation seiner Untertanen wurde er zum Heiligen erklärt, und später wurde er zum Schutzpatron reuiger Mörder.

Ein Korrektiv zu den bisweilen als übertrieben frankenfreundlich eingestuften Darstellungen von Gregor bilden die Schriften von Marius d’Avenches (532–596), des Bischofs von Lausanne (des späteren St. Marius Aventicensis), der gleichermaßen für seine Frömmigkeit und seine Gelehrsamkeit bekannt war. Er war ein Beschützer der Armen und soll eigenhändig seine Äcker bestellt haben; als Gelehrter setzte er die Arbeit von St. Prosper von Aquitanien fort und erweiterte Prospers Weltchronik bis ins Jahr 581.43 Der bedeutendste Geistliche der Zeit war vermutlich St. Caesarius von Arles (gest. 542), ein wortmächtiger Prediger und Theologe. Geboren in Cabillo, studierte er in Lerinum und wirkte fast 40 Jahre als Primas von Gallien.44 Der irische Missionar St. Kolumban (um 540–615) schließlich dürfte ebenfalls zu Guntrams Lebzeiten in die Region gekommen sein. Er lebte zeitweise als Gast am burgundischen Hof und eine Weile als Eremit in den Vogesen.45

Auf dem Höhepunkt seiner Macht, um 587, beherrschte Guntrams Regnum Burgundiae den größten Teil von Gallien, einschließlich Bordeaux, Rennes und Paris, ebenso wie das frühere Burgund von Gundobad. Doch das Reich erwies sich als zu groß und als überdehnt und lud daher seine Nachbarn zu Plünderungszügen ein. Guntrams kriegerische Nachfolger vollzogen mehrere komplizierte Thron- und Gebietswechsel. Mehrere Herrscher werden von den Chronisten als Könige von Burgund, Neustrien und Burgund oder als Könige »aller Franken« bezeichnet; neben Guntram gehören dazu Childebert II. (reg. 592–595), Theuderich II. (reg. 595–613), Sigebert (reg. 613), Chlothar II. (reg. 613–629), Dagobert (reg. 629–639), Chlodwig II. (reg. 639–655) und Chlothar III. (reg. 655–673).

Einige Abschnitte der Merowinger-Herrschaft liegen weitgehend im Dunkeln, doch ein Chronist, der als Fredegar, Fredegarius oder Pseude-Fredegarius (gest. um 660) bekannt ist, wirft einen Lichtblick auf das dritte Viertel des 7. Jahrhunderts. Er lebte in einem Kloster, möglicherweise in Chalons oder Luxueil, und versuchte zunächst einige bereits bestehende Chroniken »zu verbessern«. Ab 624 erstellte er in 18-jähriger Arbeit einen ausführlichen Kommentar über die Ereignisse der Zeit, der deutlich zeigt, dass in allen Schichten der fränkisch-burgundischen Gesellschaft die Blutrache gepflegt wurde. Ein Satz von Attila ist in diesem Zusammenhang sehr treffend: »Quid viro forti suavis quam vindicta manu querere?« (»Was könnte einen starken Mann mehr erfreuen, als eine Blutfehde zu pflegen?«). Fredegar erwähnt einen Vorfall, an dem der byzantinische Kaiser beteiligt war und der anschaulich belegt, wie wenig ein menschliches Leben wert war. Nachdem zwei burgundische Gesandte bei einer Prügelei in dem von Byzanz beherrschten Karthago getötet worden waren, bot Kaiser Maurikios eine Wiedergutmachung in Gestalt von zwölf Männern an, mit denen die Burgunder »tun könnten, was sie wollten«.46 Mit besonders heftigen Schmähungen bedenkt Fredegar die westgotische Fürstin Brunechildis, die aus Hispania an den burgundischen Hof kam und dort angeblich Gewalt und Hass schürte: »Tanta mala et effusione sanguinem a Brunechildis in Francia factae sunt.47

Fredegars Darstellung endet mit der Geschichte des Flaochad, genere Franco (gebürtiger Franke) und Majordomus, der sich an einem burgundischen Adeligen namens Willebad rächen wollte. Mit ihren Anhängern im Gefolge trafen die beiden vor den Mauern von Augustodunum aufeinander:

 

Berthar, ein transjuranischer Franke, … griff Willebad als Erster an. Und der Burgunder Manaulf, der vor Wut mit den Zähnen knirschte … trat mit seinen Männern nach vorn, um zu kämpfen. Er war einst mit Berthar befreundet gewesen und sagte nun »Komm unter mein Schild, und ich werde dich schützen« … und er hob sein Schild, um ihm Deckung zu bieten. Doch [Manaulf] stieß mit seiner Lanze nach seiner Brust … Als Chaubedo, Berthars Sohn, sah, dass sein Vater in Gefahr schwebte, stieß er Manaulf zu Boden, durchbohrte ihn mit seinem Speer und tötete alle, die seinen Vater verwundet hatten. Und mit Gottes Hilfe rettete der Junge dadurch Berthar vor dem Tode. Wer von den Herzögen seine Männer lieber nicht auf die Seite Willebads Seite gestellt hatte, plünderte nun seine Zelte … Die Männer, die sich nicht am Kampf beteiligt hatten, schafften große Mengen Goldes und Silber sowie Pferde und andere Gegenstände fort.48

Ein Historiker bemerkte dazu: »Das Erstaunliche an der frühmittelalterlichen Gesellschaft ist nicht der Krieg, sondern der Frieden.«49

Zu Fredegars Zeiten wurden die Merowinger zu reinen Marionetten der Hausmeier und Grafen in den königlichen Palästen. Zudem verlagerte sich das politische Machtzentrum in das fränkische Austrasien (das Ostfrankenreich). Dagobert, der über Neustrien herrschte (das »neue Land im Westen«), wurde in einem französischen Kinderlied verspottet: »Le Bon Roi Dagobert/A mis sa Culotte à l’envers« (»Der gute König Dagobert/trug seine Hose verkehrt herum.«)50 Er machte Paris zu seiner Hauptstadt. Eine entscheidende Schlacht bei Tertry in der Picardie im Jahr 687 verfestigte die Unterordnung Burgunds unter Austrasien.

Anfang des 8. Jahrhunderts wurde von Bischof Savarich von Auxerre eine separatistische burgundische Bewegung ins Leben gerufen, deren Aktivitäten aber gerade zu jenem Ergebnis führten, das sie hatte vermeiden wollen. Karl Martell (688–741), der Begründer nicht nur der Dynastie der Karolinger, sondern maßgeblich auch des karolingischen Reiches, fiel über Burgund her, um es gefügig zu machen. Nachdem er aus der historischen Schlacht gegen die Sarazenen bei Tours im Jahr 732 als Sieger hervorgegangen war, vertrieb er diese auch aus ihren Festungen in der Provence und im Languedoc. Die Erstürmung der von den Sarazenen gehaltenen Stadt Arles im Jahr 736 bildete einen der Höhepunkte dieses Feldzugs:

Nachdem sie ihre Truppen bei Saragossa zusammengezogen hatten, waren die Muslime im Jahr 735 in das fränkische Gebiet eingefallen, hatten den Rhein überquert und Arles erobert und geplündert. Von dort stießen sie in das Herz der Provence vor, was zur Einnahme von Avignon führte. … Muslimische Soldaten plünderten Lyon, Burgund und Piemont. Abermals eilte Karl Martell zu Hilfe und eroberte auf zwei Feldzügen in den Jahren 736 und 739 den Großteil der verlorenen Gebiete zurück. … Er setzte den bedrohlichen Vorstößen der Muslime über die Pyrenäen [ein für alle Mal] ein Ende.51

Er zerstörte aber auch die Hoffnung, dass das Regnum Burgundiae in naher Zukunft wieder auferstehen könnte.

Im Jahrhundert nach Karl Martell blühte das Frankenreich zunächst auf, geriet dann in Schwierigkeiten und zerfiel schließlich. Karl der Große hielt sich die meiste Zeit entweder im Norden, in Aachen, auf oder war mit Konflikten an der Peripherie seines Reiches beschäftigt, mit Kriegen gegen die Mauren, die Slawen und die Awaren, und mischte sich kaum in die Angelegenheiten Burgunds ein. Doch 773 versammelte er im burgundischen Genf eine große Armee für seinen lombardischen Krieg. Ermutigt durch Unterstützungsbekundungen des Papstes, zog er mit seinen Truppen in zwei großen Marschkolonnen über die Alpen, wobei eine den Pass des Mont Cenis und die andere den Großen Sankt Bernhard überquerte. Nachdem er Pavia, die Hauptstadt der Lombardei, nach langer Belagerung niedergeworfen hatte, kroch er als Büßer auf den Knien die Stufen des Petersdoms hinauf. Später schuf er in Rom den ersten Kirchenstaat.52

Wie es unter seinen Vorfahren üblich gewesen war, beabsichtigte auch Karl der Große, sein Reich zwischen seinen Söhnen aufzuteilen. Am Ende blieb das Reich jedoch als Einheit erhalten, da nur einer seiner Söhne überlebte; erst 843 wurde es schließlich unter seinen drei Enkeln geteilt. Die Teilungen des Frankenreiches durch den Vertrag von Verdun sollten für lange Zeit bestehen bleiben und die europäische Geschichte nachhaltig beeinflussen. Einer der Enkel erhielt das westfränkische Reich, aus dem sich später das Königreich Frankreich entwickelte. Ein anderer bekam das ostfränkische Reich, aus dem schließlich Deutschland erwuchs. Der älteste Enkelsohn erhielt einen langen Streifen in der Mitte und zugleich die Kaiserwürde. Das »Mittelreich« (Lotharingien) von Lothar setzte sich aus drei Gebieten zusammen. Ein Territorium im Norden erstreckte sich von der Nordsee bis nach Metz, wofür sich der Name Lotharingien (Lothringen) einbürgerte. Der zweite Teil, der in der Mitte lag, war ein erweitertes »Burgundia« einschließlich der Provence. Das dritte Gebiet war ein langer Schlauch, der sich nach Süden durch Italien und bis nach Rom erstreckte. Als integrierte Einheit war Lothars Herrschaftsgebiet ziemlich kurzlebig, doch seine Bestandteile konnten sich lange Zeit der Angliederung an Frankreich oder an Deutschland entziehen. Burgund erwies sich am widerständigsten.


In der karolingischen Geschichte spielte die Zahl drei eine wichtige Rolle; dreimal gab es eine dreifache Reichsteilung. Man kann sich leicht merken, dass jeder der Enkel von Karl dem Großen ein Drittel erhielt und dass Lothars »Mittelreich« aus drei Teilen bestand. Doch der dritte Schritt wird häufig vergessen. Fünfzig Jahre nach dem Vertrag von Verdun wurde das ehemalige Regnum Burgundiae, das jetzt das Mittelstück des Mittelreiches bildete, abermals in drei Teile geteilt. (Die Eselsbrücke dafür lautet »3 × 3 × 3«.) Diese letzte Teilung erfolgte in drei Stadien – in den Jahren 843, 879 und 888 [Verträge von Ribemont, d. Red.] – und brachte drei neue Reiche hervor: das Herzogtum Burgund im Nordwesten, das Königreich Niederburgund im Süden und das Königreich Hochburgund im Nordosten.

Die erste Aufspaltung des Reiches von Karl dem Großen im Jahr 834 war daher nur der erste Schritt in einem längeren Prozess. Lothar erhielt zwar den größten Teil des burgundischen Reiches, einschließlich Lyon, aber ungefähr ein Achtel wurde dem Westfrankenreich zugeschlagen. Die Ausgliederung dieses strategisch bedeutsamen Teils, der aus dem oberen Tal des Flusses Saône bestand und auch Guntrams Hauptstadt Chalon umfasste, war eine der wenigen Bestimmungen des Vertrages von Verdun, die sich als dauerhaft erwies, und verschaffte den neuen Herrschern einen Brückenkopf an den Südhängen der kontinentalen Wasserscheide. Somit verfügten die Streitkräfte des Westfrankenreiches und später die Armeen Frankreichs über ein geschütztes Einfallstor nach Italien.

Im Vertrag von Verdun erhielt dieses neue Territorium des Westfrankenreiches den Namen Regnum Burgundiae, doch diese Bezeichnung war juristisch praktisch bedeutungslos, denn dem Gebiet wurde lange Zeit kein besonderer Status verliehen. Eine dauerhafte Lösung wurde erst in den 880er-Jahren gefunden, als im Westfrankenreich die Verwaltungsstrukturen reformiert und Herzogtümer und Grafschaften gebildet wurden. Dabei wurden sieben Prinzipate eingerichtet, an deren Spitze ein dux (Herzog) stand, dem eine Vielzahl kleiner und großer Grafen untergeordnet war. Das Herzogtum Burgund nahm nun seinen Platz ein neben Aquitanien, der Bretagne, der Gascogne, der Normandie, Flandern und der Champagne. Es verkörperte Burgund Nr. X auf der Liste von Bryce, wenngleich es chronologisch das vierte burgundische Reich war.

Erwartungsgemäß blieb das Herzogtum nicht von Konflikten verschont. Die Hauptfigur in einer Reihe von komplizierten Auseinandersetzungen war Richard Justitiarius, genannt »der Gerichtsherr« (um 850–921), ein Bruder der westfränkischen Königin Richildis, der Ehefrau von Karl dem Kahlen. Richard, dessen Familiensitz in Autun lag, reiste nach Rom, als sich Karl um die Kaiserwürde bemühte, wurde schließlich mit der Verwaltung des (westfränkischen) Burgund beauftragt und erhielt zunächst den Titel marchio (Marquis oder Markgraf) und später den Titel Herzog. Berühmt wurde sein Bekenntnis auf dem Sterbebett: »Ich sterbe als Räuber, aber ich habe das Leben ehrbarer Männer verschont.«

Nach 1004 übernahmen die französischen Könige die direkte Herrschaft über das Herzogtum von den Nachkommen des Gerichtsherrn. Manchmal wurde das Herzogtum als Lehen vergeben, andere Male unterstand es dem König persönlich. Bis 1361 gab es zwölf Herzöge, angefangen mit Robert le Vieux (gest. 1076) bis zu Philippe von Rouvres (reg. 1346–61). Zu den abhängigen Vasallen gehörten die Grafen von Chalons, von Mâcon, Autun, Nevers, Avallon, Tonerre, Senlis, Auxerre, Sens, Troyes, Auxonne, Montbéliard und Bar; alle diese Fürstenhäuser können auf eine lange, wechselvolle Geschichte zurückblicken. Später wurde das Verwaltungszentrum des Herzogtums nach Dijon verlegt, das an einem nach Süden fließenden Nebenfluss der Saône liegt, der passenderweise Bourgogne heißt und über das Plateau de Langres den Zugang zur Champagne oder flussaufwärts zum Oberlauf der Seine und nach Paris ermöglicht.53