Verschwundene Reiche

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Alt Clud

Das Königreich Strathclyde

(5.–12. Jahrhundert)


Dumbarton Rock

I

Dumbarton Rock zählt nicht gerade zu den wichtigsten historischen Stätten Großbritanniens. Man findet den Ort nicht unter den Top 50 der britischen Sehenswürdigkeiten. Schon gar nicht spielt er in der Liga von Stonehenge oder Hampton Court oder seinen berühmteren schottischen Nachbarn Stirling und Edinburgh. Wenn man ihn überhaupt kennt, dann vor allem als auffällige Landmarke.

Und doch ist das bescheidene Dumbarton einer jener ganz besonderen Orte, die die Macht haben, den krassen Gegensatz zwischen dem, was ist, und dem, was einst war, heraufzubeschwören. Die Vergangenheit ist nicht nur ein fremdes Land, von dem wir nur ahnen, dass es je existierte; sie versteckt ein weiteres verborgenes Land hinter sich, und dahinter noch eines und noch eines – wie ein Satz russischer Matrjoschkas, bei dem die größeren Puppen die kleineren in sich bergen. Und die Oberfläche zeigt nicht verlässlich an, was darunter liegt. In diesem Fall zeigt die Oberfläche ein Land, das wir als Schottland kennen. Ein anderes Land namens England liegt jenseits der Grenze. Doch Dumbarton lockt uns in eine Welt vor der »Erfindung« Englands und Schottlands.

Geologisch gesehen ist Dumbarton Rock einfach ein vulkanischer Pfropfen, der letzte Rest eines prähistorischen Vulkans, dessen äußerer Kegel im Laufe der Zeit durch Erosion abgetragen wurde. Seit der letzten Eiszeit ragt er aus der Schwemmebene am Nordufer des Firth of Clyde heraus, genau dort, wo der Leven aus den Highlands herabströmt. Strategisch war er überaus wichtig. Jahrhundertelang beherrschte er den Verkehr auf dem Firth, bewachte den Zugang zum Kerngebiet. Er schreckte Invasoren und Eindringlinge ab, die von der Irischen See aus den Fluss hinaufsegeln wollten, und er schützte all jene, die auf günstigen Wind oder die Ebbe warteten, um flussabwärts zum Meer zu kommen. Im Süden auf dem Ufer gegenüber liegen Paisley mit seiner prächtigen mittelalterlichen Abtei, Greenock und Gourock. Im Osten zieht sich Clydebank mit seinen Werften am Ufer entlang und dahinter die Großstadt Glasgow. Die Kilpatrick Hills und die »Bonnie, bonnie banks of Loch Lomond« sind im Norden zu entdecken. Im Westen kommen dort, wo sich der Firth zu einem gewaltigen Mündungstrichter verbreitert, kleine und große Inseln in den Blick, Bute, Arran und Ailsa Craig, und im fernen Nebel das einsame Mull of Kintyre. Nichts, so möchte man glauben, könnte schottischer sein.

Die Lage von Dumbarton Rock kann man aus der Luft, beim Landeanflug auf den Flughafen Glasgow, besonders gut erfassen. Die Haupteinflugschneise führt die Flugzeuge vom Norden heran, über die farngrünen Hänge auf den Punkt des Clyde zu, wo der schmale Fluss endet und der Firth beginnt. Wenn man rechts aus dem Flugzeugfenster schaut, sieht man die moderne Hängebrücke über den Clyde aus nächster Nähe und genießt einen unbeschreiblichen Blick auf die glänzenden Wasser darunter. Besonders dramatisch ist die Aussicht an schönen Sommerabenden. Der rotglühende Sonnenuntergang umrahmt die Lochs und Inseln in der Ferne. Die weite Fläche des Firth glänzt silbern, und die Zwillingsspitzen des Rock ragen gegen das Licht auf wie ein Paar ägyptischer Pyramiden.1

Der Firth of Clyde ist den Gezeiten unterworfen. Wie alle Buchten und Mündungstrichter an Großbritanniens Westküste erlebt er in sechsundzwanzig Stunden zweimal Flut und zweimal Ebbe, und diese ständige Bewegung hat nicht aufgehört, seit das Meer zum ersten Mal in diesen Teil Europas vordrang. In der Eisenzeit stand eine erste Befestigung oben auf dem Felsen; über die Jahrtausende hinweg haben Wachposten die Prozessionen von ledernen und hölzernen Booten und Kriegsschiffen beobachtet, die mit steigender Flut hereinsegelten oder mit der Ebbe hinaus. In spätrömischer Zeit warnten sie vor dem Nahen hibernischer Piraten, die die Römer Scotti nannten.A Im 9. Jahrhundert blieb ihnen wahrscheinlich vor Schreck der Atem weg, als sie die Langbootflotten der Wikinger erblickten. In jüngerer Zeit beobachteten sie die Truppentransporter und Handelsschiffe, die das Empire zusammenhielten, und die stattlichen Passagierschiffe, die auf den Atlantik hinausdampften.


Kein Wunder, dass die Stadt im Schatten des Felsen die längste Zeit vom Schiffbau lebte. Die Werft von Dumbarton war zu klein, um die großen Ozeandampfer aufzunehmen, die im nahe gelegenen Clydebank gebaut wurden; stattdessen spezialisierte sie sich auf die kleineren Dampfboote und Raddampfer, die in den letzten 200 Jahren ihren Dienst auf dem Clyde verrichteten. Das Dampferfahren »doon the watter« von Glasgow aus war lange eine typische Freizeitaktivität in dieser Region.2 Europas allererster kommerzieller Dampfbootbetrieb begann hier im Jahr 1812, als die Comet von Glasgow nach Greenock fuhr. In den folgenden Jahrzehnten wurde der Dienst nicht nur auf alle Häfen am Firth ausgedehnt, sondern sogar auf so weit entfernt liegende Hafenstädte wie Oban und Stornoway. Die rot, weiß und schwarz gestrichenen Schornsteine der Dampfer, Postboote und Fähren von David MacBraynes Unternehmen waren später überall zu sehen und zogen Millionen von Ausflüglern und Reisenden an. Das Nachfolgeunternehmen Caledonian-MacBrayne oder »Cal-Mac« gehört auch heute noch zum Lokalkolorit.3 Und noch immer gilt das Sprichwort: »Die Erde ist des Herrn und alles, was auf ihr ist, doch die Highlands und die Inseln gehören MacBrayne«.

Die Industrie breitete sich mit der Zeit auch im Vale of Leven, dem Tal des gleichnamigen Flusses, am Ufer entlang bis nach Balloch am Loch Lomond aus. Färbereien, Druckereien und Gießereien konzentrierten sich in Alexandria, Jamestown und Bonhill. Arbeiter aus dem Vale of Leven wurden in Dumbarton »Jeelies« genannt, weil sie ihre Marmeladenbrote, die jeelies, im Fabrikhof aßen, während die Einheimischen zum Mittagessen nach Hause gingen.

Es gibt keinen besseren Weg, die eigene Position historisch und geografisch einzuordnen, als eine Fahrt auf dem Dampfschiff über den Firth. Selbst eine kurze Überfahrt von Wemyss Bay nach Rothesay auf der Insel Bute oder von Ardrossan nach Brodick auf Arran ist überaus reizvoll, denn in nur etwas mehr als einer halben Stunde überbrücken die Passagiere Schottlands wichtigste Grenzlinie zwischen den Lowlands und den Highlands. Wemyss Bay in Ayrshire, 30 Meilen westlich von Glasgow, gehört zur LallansB – Heimat des Dichters Robert Burns. Rothesay und Bute gehören zur Gaeltacht – dem Land der Clans, der Tartans und der gälischen Sprache. Man sollte die Reise an einem jener »frischen« Tage machen, für die der Firth berühmt ist. Eine steife Brise bricht schon die Dünung und bläst Gischt von den Wellenkämmen. Die starke Fähre bäumt sich auf und rollt selbstbewusst unter den heiseren Rufen der Möwen und dem beißenden Geruch des Seetangs. Aschgraue Wolken jagen über den Köpfen dahin, sie ziehen zu schnell, um ihre Regenlast abzuladen; Flecken von blauem Himmel geben schmale Sturzbäche aus Sonnenlicht frei, das hier und da auf dem Wasser und auf dem leuchtenden Grün der gegenüberliegenden Küste spielt. Die weißen Bugwellen tanzen mit den weißen Segeln der Yachten, die vorübereilen. Mit festem Griff an der Reling, roten Wangen und zum Bersten gefüllten Lungen beobachtet man gebannt das Schauspiel aus Farbe und Bewegung. Ein Regenbogen glänzt über dem Wasser vor Bute. Dann legt sich eine gewisse Ruhe über die Fähre, wenn sie in den Windschatten des Hafens kommt, und man tritt, gebührend erfrischt, ans Ufer – in einem anderen Land.

Dies ist die Landschaft, die auf ewig mit dem Namen Harry Lauder (1870–1950) verbunden bleiben wird. Er war einer der berühmtesten Entertainer des frühen 20. Jahrhunderts und vermutlich der erste Sänger, der über eine Million Platten verkaufte. Lauder sang beliebte sentimentale Lieder in einem breiten schottischen Akzent und sprengte alle Klassengrenzen mit seiner einzigartigen Mischung aus Gleichmut und Zartheit.

Songs wie »I love a lassie, a bonnie Hielan’ lassie« oder »Keep right on to the end of the road« brachten ihm ein Vermögen ein, mit dem er sein Herrenhaus in Laudervale nahe Dunoon baute. Seine vielen Tourneen in die Vereinigten Staaten begannen stets mit einer Dampferfahrt den Firth hinauf von Dunoon zum Princes Pier in Greenock.

Roamin’ in the gloamin’ on the bonnie banks of Clyde,

Roamin’ in the gloamin’ wi’ ma lassie by ma side.

When the sun has gone to rest, that’s the time that I like best.

O it’s lovely to be roamin’ in the gloamin’.4C

Fin Besuch in Dumbarton Castle erzählt ein paar ältere Geschichten, wie sie auch in allen Führern und Websites zu finden sind:

Dumbarton Rock steht über dem Leven am Zusammenfluss mit dem Clyde und ist das bekannteste historische Gebäude der Stadt. Die Burg, die in siebzig Meter Höhe auf dem gleichnamigen Felsen steht… ist eine auffällige Landmarke am Clyde. Der Felsen war … seit prähistorischen Zeiten befestigt. Die Burg war eine königliche Festung, lange bevor die Stadt königliche Privilegien erhielt; ihr Besitz [wechselte] von den Schotten zu den Engländern und wieder zurück. Sie spielte eine wichtige Rolle in den Unabhängigkeitskriegen und wurde kurzzeitig genutzt, um Wallace nach seiner Gefangennahme unterzubringen. Von hier aus wurde auch Maria Stuart nach Frankreich in Sicherheit gebracht. Und sie war auf dem Weg nach Dumbarton Castle, als sie bei Langside vernichtend geschlagen wurde.5

 

William Wallace »Braveheart« und Maria Stuart sind die beiden Namen aus der schottischen Geschichte, die fast jeder kennt.

Bei näherem Hinsehen ist der Doppelgipfel des Felsens von einer tiefen Schlucht durchzogen: mit seinen etwas mehr als siebzig Metern ist der »White Tower Crag« etwas höher als der »Beak«. Das älteste erhaltene Bauwerk ist ein Steinbogen aus dem 14. Jahrhundert, von dem aus eine Treppe mit 308 Stufen nach oben führt. Am Fuß des Felsens beherbergt das Governor’s House aus dem 18. Jahrhundert ein kleines Museum. Hier erfährt man von der netten jungen Führerin, dass der frühe englische Historiker Beda eine befestigte Stadt namens »Alcluith«, »Felsen des Clyde«, erwähnte und dass Dumbarton einst zusammen mit Castle Dundonald in Ayrshire die wichtigste königliche Festung des Königreichs Strathclyde war. »Wir wurden im Jahr 870 von den Wikingern überfallen«, erzählt uns die Führerin. Als sie gefragt wird, wer »wir« denn seien, antwortet sie mit einem Lächeln: »Ich bin von hier, ich bin eine Piktin.«

Der Ausblick vom White Tower Crag belohnt alle, die hinaufsteigen, für ihre Mühe. Die moderne Stadt liegt ihm direkt zu Füßen, sie wimmelt von Menschen, die von hier oben aus wie Ameisen aussehen. Das Stadtzentrum von Glasgow, zehn Kilometer entfernt, hüllt sich in Dunst, doch in Richtung Westen verbessert die feuchte Luft die Sicht wie ein Vergrößerungsglas. Der Firth präsentiert sich als riesige ausgestreckte Hand, deren Finger rechts nach Gareloch und Loch Long, in der Mitte nach Holy Loch und am Horizont auf die Hügel von Arran und Argyll weisen. Weit im Norden erheben sich die blaugrauen Spitzen des Ben Lomond und des Ben Oss. Jenseits des Flusses liegen die mit Kiefern überzogenen Hänge der Glennifer Braes in Renfrewshire und der Hill of Stake; und links im Vordergrund sieht man die Landebahnen des Flughafens.

Holy Loch ist ein Name, der es in den 1960er- und 1970er-Jahren oft in die Schlagzeilen schaffte. Es ist der kleinste Meeresarm am Firth, nur zwei oder drei Meilen lang, aber er bildet einen wunderbaren, geschützten Hafen. Über dreißig Jahre lang befand sich dort ein U-Boot-Stützpunkt der United States Navy – Schauplatz vieler Demonstrationen der Bewegung für nukleare Abrüstung. Die offiziell und euphemistisch als Refit Site One (Instandsetzungsposten Eins) bezeichnete Basis beherbergte die SUBRON-14-U-Boot-Flotte, die im Atlantischen Ozean patrouillieren sollte. Es gab ein Schwimmdock, ein großes Depotschiff, eine Flotille von Schleppern und Lastkähnen und bis zu zehn U-Boote mit Atomraketen der Polaris/Poseidon-Klasse. Wenn diese Unterwasserkolosse aus ihrem Dock glitten und in den Firth hinausfuhren, war der Felsen etwa 50 Kilometer flussaufwärts durch das Periskop des Kapitäns gut zu erkennen. Heute gehört der Hafen wieder der Royal Navy, aber das muss nicht so bleiben. Die Regionalregierung Schottlands wird von der Scottish Nationalist Party beherrscht. Falls sie je das von ihr vorgeschlagene Referendum zur völligen Unabhängigkeit des Landes gewinnt, fordert sie sicher sofort die Schließung des Stützpunktes.6

Dumbarton kämpft heute ums Überleben im postindustriellen Zeitalter. Die Blütezeit des Schiffbaus dort endete in den 1960er-Jahren, und man hat bisher keinen angemessenen Ersatz gefunden. Der Kai ist betoniert worden, um einen Parkplatz zu schaffen, und Supermärkte füllen den Raum, den einst die riesigen Lagerhäuser nutzten. In manchen Reiseführern zu Schottland wird die Kleinstadt nicht einmal erwähnt. Noch früher traf der industrielle Niedergang das Vale of Leven. Viele Fabriken wurden schon vor 1939 geschlossen. Die dort herrschende Dauerarbeitslosigkeit radikalisierte die Bevölkerung, und die Region bekam den Beiname »Little Moskow«, passend zum »Red Clydeside« ganz in der Nähe. In den 1950er-Jahren wurde der abgewirtschaftete Distrikt immer wieder für gewaltige Projekte des sozialen Wohnungsbaus für den Großraum Glasgow genutzt. Vierzig oder fünfzig Jahre später waren die riesigen, verfallenen Wohnanlagen wie etwa Mill of Haldane in Fast Balloch Schauplätze ähnlich groß angelegter Kampagnen zur Stadterneuerung.

Eine positive Entwicklung begann, als eine führende schottische Whiskybrennerei nach Dumbarton umzog und den entlassenen Hafenarbeitern Arbeit gab. »George Ballantine’s Einest« ist einer der beliebtesten und bekanntesten Marken von verschnittenem Whisky weltweit. Jede Flasche trägt stolz die Bezeichnungen »Scotch Whisky, Fully Matured, Finest Quality«, »George Ballantyne & Sons, Founded in 1827 in Scotland« und »By Appointment to the Late Queen Victoria und the Late King Edward VII«. Unten auf dem Etikett steht: »Bottled in Scotland«, »Product of Scotland« und »Allied Distillers Limited, Dumbarton G82 2SS«.7 Es kann gar kein Zweifel aufkommen: Dies ist schottischer Scotch aus Schottland.

Anfang des 21. Jahrhunderts liegt Dumbarton tatsächlich in Schottland, und Schottland ist Teil des Vereinigten Königreichs. Aber das war nicht immer so, und es wird vielleicht auch in Zukunft nicht immer so sein. Man muss nur auf Dumbarton Rock stehen und die Jahrhunderte zählen. Vor hundert Jahren war Clydeside die Lebensader eines Ballungsraums, der den Industrieunternehmen des Empires diente. Vor zweihundert Jahren war es das Zentrum einer Region des Vereinigten Königreichs, oft als »Nordbritannien« bezeichnet, die allmählich das Schottische verlor und immer britischer wurde. Vor dreihundert Jahren stand es gerade auf der Schwelle zu einer noch nie dagewesenen Verfassungsunion mit England. Vor vierhundert Jahren wurde es von einem König regiert, der kürzlich nach London ausgewandert war, aber dennoch Schottlands Herrscher blieb. Vor fünfhundert Jahren, vor der Schlacht von Flodden Field, war es Teil eines Landes, das sich als gleichrangiger Nachbar Englands betrachtete. Vor tausend Jahren, unter König Macbeth und anderen, gehörte es zu einem Reich, in dem die meisten Menschen noch Gälisch sprachen. Und vor eintausendfünfhundert Jahren gehörte es zum »Alten Norden«.

Dumbarton ist ein englischer Name, die anglisierte Form eines gälischen Vorläufers, Dun Breteann, mit der Bedeutung »Festung der Briten«. Dies wiederum liefert einen Hinweis auf die Menschen, die am Clyde lebten, lange bevor die Englisch und Gälisch sprechenden Siedler hier ankamen. Es ist schon ziemlich seltsam, dass bei der Gründung der Bezirksverwaltung im Jahr 1889 die ältere Schreibung des Namens wiederbelebt wurde, um »Dunbartonshire« einen authentischen Anstrich zu geben. (Der Bezirk wurde 1975 wieder abgeschafft und ist seitdem in der größeren Region Strathclyde aufgegangen.) Dennoch ist die Form des Namens, die am häufigsten mit dem Felsen in Verbindung gebracht wird, um die Welt gegangen, getragen von den Erinnerungen schottischer Emigranten. Es gibt ein Dumbarton in Westaustralien, ein zweites in Queensland, ein drittes in Neuseeland und ein viertes in New Brunswick, Kanada. In den Vereinigten Staaten gibt es Dumbartons zu Dutzenden: in Maryland, in Virginia, in South Carolina, in Louisiana, in Wisconsin … Man findet Dumbarton Oaks in Washington, DC; Dumbarton Village in Houston, Texas; eine Dumbarton Bridge über die Bucht von San Francisco; eine Dumbarton Church in Georgetown, DC; eine Dumbarton School in Baltimore und ein Dumbarton College in Illinois. Im amerikanischen Bürgerkrieg brachte die US Navy einst ein Schiff der Konföderierten namens Dumbarton auf, und die Royal Navy hat ein Fischereischutzboot namens HMS Dumbarton Castle. Außerdem findet man noch ein Dunbarton in New Hampshire.8 Ob die Einwohner dieser vielen Dumbartons wissen, fragt man sich, wie alles angefangen hat? Zumindest für sie ist es vielleicht wichtig, dass Dumbarton nicht immer eine relativ unwichtige Trabantenstadt einer modernen Metropole war. Genährt durch das fruchtbare Ackerland des benachbarten Levanach – des Vale of Leven, ursprüngliche Heimat des Clan Lennox – bildete es den Mittelpunkt eines mächtigen Reiches, die Hauptstadt eines ausgedehnten Staates. Es war ein richtiger Königssitz.

II

Heute spricht kaum noch ein Historiker vom »finsteren Mittelalter«. Sie wissen, dass der Dichter Petrarca in der Frühen Renaissance, genauer in den 1330er-Jahren, diesen Ausdruck prägte, und empfinden den zugrunde liegenden Gegensatz zwischen dem »Licht« der antiken Welt und der angeblichen »geistigen Finsternis« der späteren Zeit als ahistorisch.9 In der britischen Geschichte wird das Konzept der »Dunklen Jahrhunderte« nur für die zwei oder drei Jahrhunderte verwendet, die mit dem Rückzug der römischen Legionen begannen und für ihre Quellenarmut berüchtigt sind. Genau in diesem Zeitraum herrschen die Herren von Alt Clud, dem Königreich von Dumbarton Rock.

Unklarheit ist damit also das Kennzeichen der Zeit. Zusammenhängende Darstellungen sind nur unter großen Schwierigkeiten möglich, und historische Untersuchungen bieten eine Spielwiese für alle, die gern spekliheren. Fakten bilden winzige Inselchen sicheren Wissens in einem riesigen Meer aus Leerstellen und Chaos. Die wenigen Quellen sind oft in ausgefallenen Sprachen geschrieben, mit denen nur sehr wenige Spezialisten etwas anzufangen wissen. Alle Urteile würden profitieren, wenn man sie in unbestrittene (sehr wenige), abgeleitete, durch Analogien gebildete oder vorläufige (die meisten) einteilen würde.

Außerdem gibt es da noch das tief sitzende Problem der Parteinahme. Die frühe Geschichte der Britischen InselnD war durch einen Überlebenskampf zwischen den alten Briten, den irischen Gälen, den Skoten, den Pikten und einer bunten Mischung einwandernder germanischer »Angelsachsen« geprägt. In der Moderne haben einige dieser Gruppen begeisterte Anhänger gefunden. Die Engländer, die heute die beherrschende Mehrheit stellen, haben – wenigstens in der populären Geschichtsschreibung – den Triumph ihrer Vorfahren oft als gegeben vorausgesetzt. Sie bewundern die imperialistischen Römer und identifizieren sich mit den Angelsachsen, aber sie verachten die Kelten. Sie schätzen Beda, der ein germanischer Northumbrier war und den sie Venerabilis (»verehrungswürdig«) nennen, und lassen seine Historikerkollegen außer Acht. Sie mögen die keltischen Quellen nicht, die sie nicht lesen können, und lassen sie regelmäßig als fantastisch oder unzuverlässig unter den Tisch fallen. Die Schotten, deren Vorfahren letztlich in Schottland triumphierten, können ebenso egozentrisch sein. Heute gibt es nur noch wenige Menschen, die für die Sache des »Alten Nordens« eintreten.

Dieser Begriff – die Waliser sprechen von Yr Hen Ogledd – erfordert eine Erklärung. Die alten Briten, Dutzende regionaler Stämme, die ganz Großbritannien vor der römischen Eroberung beherrschten und der Insel ihren Namen gaben, wurden allmählich vertrieben oder in nachrömischer Zeit integriert, und ihre frühere Vorherrschaft in allen Teilen der Insel ist weitgehend vergessen. Ihre offensichtlichsten Nachkommen, auf Englisch als die »Welsh«, die »Fremden« bekannt, bewohnen heute nur eine Ecke ihres früheren Heimatlandes, ein Überbleibsel, das die herandrängenden Engländer »Wales«, das »Fremde Land«, nannten.E Das war einmal anders. Nach dem Ende des römischen Britannien und dem Zustrom von »Angelsachsen« hielten sich die Briten in drei Hauptregionen besonders lange. In einer davon, dem heutigen Wales, haben sie überlebt. In den anderen beiden, dem heutigen Cornwall und dem »Alten Norden«, haben sie es nicht geschafft. Und doch war ihre Präsenz dort sehr real und hatte über Jahrhunderte Bestand. Alt Clud war der langlebigste Rest der Vormacht der alten Briten im nördlichen Britannien, der Region, die schließlich zu Schottland werden sollte.

Man sollte deshalb vielleicht mit einer unbestrittenen Tatsache beginnen: Dieses Reich gab es wirklich. Seine Geschichte spiegelt sich in archäologischen und linguistischen Belegen, in den Chroniken seiner Nachbarn, in Königslisten und in Anspielungen aus Dichtung und Sagen; es existierte sechs- oder siebenhundert Jahre lang. Sein ursprünglicher Name und seine genauen Grenzen sind unbekannt. Aber wir wissen mit absoluter Sicherheit, dass es da war. Zwischen der Abenddämmerung des römischen Britannien und dem Morgengrauen Englands und Schottlands gab es verschiedene keltische Reiche im nördlichen Britannien. Alt Clud ging als Letztes unter.

 

Die Kelten der Britischen Inseln teilten sich in römischer Zeit – wie auch heute noch – in zwei unterschiedliche Sprachgruppen. Auf der Grünen Insel, Éire, sprachen die gälischen oder goidelischen Kelten eine Sprache, die Linguisten als »Q-Keltisch« bezeichnen. Ihr Wort für »Sohn« war mac. Auf der größeren Insel Prydain (Britannien) sprachen die britischen Kelten Brythonisch oder »P-Keltisch«. Ihr Wort für »Sohn« war map. Für den Uneingeweihten klingen der goidelische und der brythonische Zweig des Keltischen unterschiedlich und sehen auch so aus, aber ein guter Lehrer kann die Lautverschiebungen von den gemeinsamen Wurzeln her schnell erklären. Die charakteristische Satzstellung mit Prädikat–Subjekt–Objekt blieb unverändert, und morphologische Verschiebungen folgten oft parallelen Mustern. Goidelische wie brythonische Kelten nahmen zum Beispiel neue Systeme der Silbenbetonung an, doch während die goidelischen sich für den Akzent auf der ersten Silbe des Wortes entschieden, ging man im Brythonischen dazu über, die vorletzte Silbe zu betonen. Beide Sprachgruppen schwächten die Konsonanten zwischen Vokalen ab. Im Goidelischen verwandelte sich t zu th, im Brythonischen zu d, sodass ciatus (Schlacht) zu cath (Irisch) und cad (Walisisch) wurde. Der w-Anlaut wurde im Goidelischen durch f und im Brythonischen durch gw ersetzt, sodass »wahr« im Irischen fir und im Walisischen gwir heißt. Englische Ohren sind an diese Laute nicht gewöhnt. Da aber das Goidelische/Gälische wie auch das brythonische »Altwalisisch« auf Dumbarton Rock zu hören waren, klingt ihr Nachhall, allerdings nicht immer richtig und vollständig verstanden, noch deutlich in der Hintergrundmusik mit.10

In den vier Jahrhunderten unter römischer Herrschaft waren die Romano-Briten in der Provinz Britannia deutlich weniger latinisiert als ihre keltischen Verwandten in Gallien oder Iberien. Manche waren sicher zweisprachig und griffen bei Kontakten mit Römern auf das Lateinische zurück, während sie untereinander Brythonisch sprachen; andere konnten womöglich gar kein Latein. Als das Westreich zusammenbrach, gingen sie nicht wie die Franzosen oder Spanier zu einer neulateinischen Mundart über, sondern kehrten zum Brythonischen zurück, bis sie neue linguistische Herausforderungen in Gestalt der fremden Sprachen germanischer Invasoren, gälischer »Skoten« aus Irland und später Nordisch sprechender Wikinger meistern mussten.

In der Moderne haben sich alle daran gewöhnt, Britannien in England, Schottland und Wales zu unterteilen. Aber diese moderne Landkarte muss man aus seinem Denken verbannen, wenn man den früheren Aufbau der Insel wirklich verstehen will. Damals, als die Provinz Britannia zusammenbrach, gab es kein England, da die angelsächsischen Vorfahren der Engländer gerade erst ankamen. Es gab kein Schottland, weil die Schotten noch gar nicht da waren, und es gab kein klar umrissenes Wales. Die früheren Romano-Briten und ihre P-keltische Sprache verbreiteten sich über den größten Teil, wenn über ganz Prydain, und während sich das ethno-linguistische Puzzle verschob, konnte man »Wales« in jedem Winkel finden, in dem sich Briten halten konnten.

Man kann mehrere Stufen der Romanisierung im nachrömischen Britannien ausmachen. Die Städte und das sie umgebende Hinterland in der früheren Provinz Britannia blieben stark romanisiert. Die Stämme weiter im Norden, vor allem jene auf der anderen Seite des Hadrianswalls, waren bestenfalls teilweise romanisiert worden, und die noch weiter nördlich lebenden »Pikten« blieben praktisch unberührt von römischer Kultur und Lebensart.

Im 5. und 6. Jahrhundert fielen die »Angelsachsen« in Britannien ein. Bei ihrem Vordringen nach Westen trieben sie in den Midlands einen Keil zwischen die Briten auf beiden Seiten. Nach der Schlacht von Chester im Jahr 616 sicherten sich die Angeln im mächtigen Staat Mercia ein Territorium, das vom Humber zum Mersey und damit von Küste zu Küste reichte. Seit damals waren die Briten im Norden von den größeren Ballungen ihrer Landsleute in anderen Gebieten abgeschnitten (obwohl es weiterhin Kontakte entlang der westlichen Seestraßen gab). Auch die Unterschiede zwischen den Walisern in »Wales« und den Nordwalisern, deren bedrängte britische Gemeinschaft langwierige Rückzugsgefechte führen musste, wuchsen.

Trotz seiner verschwommenen Umrisse kann der »Alte Norden« allerdings nicht nur als Fußnote des großartigen Spektakels der britischen Geschichte abgetan werden. Er umfasste wenigstens sieben bekannte Reiche, deren Taten nicht weniger heldenhaft waren als jene ihrer angelsächsischen Pendants. Er hinterließ sehr viele Ortsnamen und ein Literaturkorpus – im Walisischen als Yr Hengerdd oder die »alte Dichtung« bekannt –, neben dem der Beowulf wie ein schnöseliger Nachzügler wirkt.11

Die Sprache des Alten Nordens wird gewöhnlich in die Kategorie des Cumbrischen eingeordnet. Das ist eine Unterguppe des P-keltischen Brythonisch und daher mit dem Walisischen, Kornischen und Bretonischen verwandt. Natürlich liegt für Historiker ein großes Problem darin, dass Kumbrisch selten niedergeschrieben wurde und von Linguisten nur aus ziemlich mageren Informationsschnipseln erschlossen werden kann. Ein solcher Schnipsel ist der Name Cumbria (»Land der Waliser«) selbst, der einst ein weit größeres Territorium umfasste als heute. Einen weiteren Schnipsel liefern die Zählsysteme cumbrischer Hirten. Es ist gut belegt, dass Menschen, deren Muttersprache verloren geht, vor allem an zwei Dingen festhalten: den Zahlen, mit denen sie zählen gelernt haben, und den Gebeten, in denen sie zu ihrem Gott sprechen. Einen verblüffenden Beleg für dieses Phänomen findet man in einigen Hochlandgemeinden der Borders im heutigen Nordengland und Südschottland. Die Anglisierung setzte sich in jenen Gebieten vor Jahrhunderten in Gestalt der Nordengländer oder der Lowland-Schotten durch, doch die Hirten dort zählen ihre Schafe noch immer mit den Zahlwörtern ihrer brythonischen Vorfahren. Die Ähnlichkeiten sind unübersehbar, und sie spiegelten sich noch in einigen Inschriften wider, die bis vor nicht allzu langer Zeit am alten Schafmarkt in Cockermouth zu sehen waren.12 Hier finden wir die allerletzten Echos des Alten Nordens.

Das Christentum saß im spätrömischen Britannien fester im Sattel als weithin angenommen. Erst im Jahr 380 machte Kaiser Theodosius I. das Christentum offiziell zur Staatsreligion, und so blieb ihm kaum Zeit, vor dem Rückzug der Legionen alle Schichten der Gesellschaft zu durchdringen.13 Allerdings starb der hl. Alban schon um 304 in Verulamium den Märtyrertod. Das Edikt von Mailand garantierte den Christen im Jahr 313 religiöse Toleranz, und an manchen Orten sind christliche Riten belegt. In der Zeit darauf waren Lateinkenntnisse und das Bekenntnis zur christlichen Religion die beiden Marksteine der Romanitas, die zivilisierte Briten im Angesicht der heidnischen Eindringlinge schätzten.

Tabelle 1: Zahlwörter in Nordenglisch, Lowland-Schottisch und modernem Walisisch


Die Römer hatten den Begriff Picti für jene Stämme benutzt, die an den alten Sitten und Gebräuchen – am Tätowieren, an der überkommenen Religion und an einer dezidierten Abneigung gegenüber jeglicher römischer Bildung – festhielten, und Iren wie Briten waren gewohnt, die Pikten als ein eigenes Volk zu betrachten.14 Die irischen Gälen nannten sie Cruithne, ein Begriff, mit dem sie vielleicht einst alle Bewohner Britanniens bezeichnet hatten. Die walisische Bezeichnung Cymry, gewöhnlich als »Gefährten« oder »Landsleute« übersetzt, war eine Selbstbezeichnung der Briten des Westens (des heutigen Wales) ebenso wie ein Name für die »Männer des Alten Nordens«, aber offenbar nicht für die Pikten. Man kann deutliche Anklänge an die cives Romani heraushören.

Die römischen Legionen stießen zwar mehrmals über die Grenzen ihrer Provinz Britannia hinweg nach Norden vor, besetzten aber nie die ganze Insel. Das Land zwischen dem Hadrians- und dem Antoninuswall, das Intervallum, war noch nicht einmal dreißig Jahre lang Mitte des 2. Jahrhunderts unter ihrer Herrschaft. Dennoch blieben sie lange genug, um enge Bindungen mit den kooperativeren Stämmen aufzubauen und bei ihnen die wesentlichen Informationen über Nordbritannien zu sammeln. Ptolemäus, der Geograf des 2. Jahrhunderts, der in Alexandria lebte, hatte mit Soldaten und Seeleuten gesprochen, die aus Britannien zurückkehrten, und zeichnete nach ihren Angaben eine Karte mit vielen Fluss-, Stadt-, Insel- und Stammesnamen. Im hohen Norden jenseits des Antoninuswalles verzeichnete er die Caledonii. Im Gebiet zwischen den Wällen siedelte er vier Stämme an – die Damnonii, die Novantae, die Selgovae und die Votadini. In Damnonien lokalisierte er sechs oppida oder »Städte«: Alauna, Colanica, Coria, Lindon, Victoria und Vindogara (Colanica findet man auch in einer anderen Quelle, die dem sogenannten Geografen von Ravenna zugeschrieben wird). Lindon, das Llyn Dun oder »Seefort«, ist unter Vorbehalten mit Balloch am Loch Lomond gleichgesetzt worden. Alauna jedoch ist weniger unsicher. Der Name bedeutet »Landspitze« oder »Sporn« und passt wunderbar zur Lage von Dumbarton Rock.15