Verschwundene Reiche

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Theoderichs jüngerer Bruder Eurich (reg. 466–484) ergriff die Macht inmitten militärischer Konflikte, nicht nur zwischen Westgoten und Reichstruppen, sondern auch zwischen verschiedenen westgotischen Parteien. Er tötete seinen Bruder, schlug einen tobenden keltischen Kriegherrn namens Riothamus, zog wieder über die Pyrenäen und siedelte eine Einheit ostgotischer Söldner aus römischen Diensten auf seinem Territorium an. Als Gesetzgeber wie auch als oberster Krieger erwies er sich als die vielseitigste Persönlichkeit seiner Familie: Obwohl er Latein konnte, sprach er zumeist mit Hilfe eines Dolmetschers Gotisch mit ausländischen Gesandten. Die arianischen Gottesdienste in seiner königlichen Kapelle wurden ebenfalls in gotischer Sprache gehalten. Allmählich dehnte er seine Herrschaft über die ganze Iberische Halbinsel aus. Der Codex Euricianus von 471 war der erste Versuch einer schriftlichen Zusammenfassung germanischer Gewohnheitsrechte in der nachrömischen Welt.15 Das war ein Zeichen politischer Reife. Im Jahr 476 überredete Eurich den vorletzten Kaiser des Westens, Julius Nepos, die nur noch nominelle römische Oberherrschaft über das Territorium der Westgoten aufzugeben. Bereits vor seinem Tode war das Römische Reich im Westen völlig in sich zusammengebrochen. Das Tolosanische Reich blieb verwaist als souveräner Staat zurück.

Die Forschung hat die Entwicklung des westgotischen Königtums im 5. Jahrhundert genau nachgezeichnet. In der ersten Phase gab es vor allem die Tendenz, alle Formen römischer Rechtspraxis und lateinischer Titel nachzuahmen. In der mittleren Phase sahen die Reges Gothorum sich schon als etwas Besseres, nicht mehr nur als reine foederati. Und in der letzten Phase, als Nachfolger des Reiches, agierten sie auf Augenhöhe mit dem Kaiser. Während eben dieser Entwicklung verlor die Oberschicht der westgotischen Gesellschaft, die optimates, über die Jahrzehnte hinweg allmählich an Einfluss. In der germanischen Tradition waren alle Krieger gleich gewesen – die nachrömische Monarchie dagegen betonte die Hierarchie und die Königswürde.16

Der fränkische Chronist Gregor von Tours (534–594) hat Eurich das Etikett eines Katholikenverfolgers angehängt, aber diese Unterstellung ist ungerecht. Ein paar unliebsame Geistliche wie Bischof Quinctianus von Civitas Rutenorum (Rodez) wurden ins Exil geschickt, aber es geschah nichts, was an die brutalen Verfolgungen heranreichte, die die arianischen Vandalen in Nordafrika in Gang setzten.17

Kurz nach dem Tod Eurichs und des letzten westlichen Kaisers Romulus Augustulus akzeptierte der Ostgote Theoderich, der sich auch Flavius Theodoricus nannte, den byzantinischen Befehl, auf Italien zu marschieren und das Kaisertum wiederherzustellen. Im Jahr 488 überquerte er deshalb die Alpen mit einem riesigen Heer, zerstreute die Verteidiger der nachrömischen Ordnung in alle Winde und tötete ihren Anführer Odoaker nach einer dreijährigen Belagerung Ravennas eigenhändig. Mit Hilfe seiner westgotischen Verwandten überrannte er dann die italienische Halbinsel von einem Ende bis zum anderen und nahm den Titel eines »Vizekaisers« an. Gestützt auf die militärische und kulturelle Macht von Byzanz und deren große Kriegsmarine, drohte sein ostgotisches Königreich mit der Hauptstadt Ravenna bald seine Nachbarn und Rivalen zu überragen. Neben dem westgotischen Tolosanischen Reich grenzte es an das (zweite) Reich der Burgunder, das gerade im Rhônetal entstanden war (siehe S. 119.).18

Eurichs Sohn Alarich II., der als Junge im Jahr 484 den Thron bestiegen hatte, war der Achte in der Königslinie. Er verwandte viel Energie darauf, Nachbarn und Untertanen gleichermaßen für sich zu gewinnen. Seine größte Leistung bestand in der Vorbereitung des berühmten Breviarum Alarici, einer überaus gelungenen Kompilation des römischen Rechts. Dieses Werk, das Gesetze nicht nur sammelte, sondern auch auslegte, wurde von einem Komitee aus Adligen und Geistlichen gebilligt, bevor es 506 in Kraft trat. Es sollte zu einem Standardtext im ganzen nachrömischen Gallien bis ins 11. Jahrhundert hinein werden.19 Darüber hinaus umwarb Alarich die Ostgoten. Er heiratete Theoderichs Tochter und zeugte mit ihr einen kleinen Sohn, was die Aussicht auf ein riesiges pangotisches Bündnis eröffnete.

Dann allerdings tauchte Alarichs Nemesis in Gestalt Chlodwigs auf, des Königs der germanischen Franken, der seit den 480er-Jahren begonnen hatte, sein Reich vom Rheinland aus nach Gallien hinein auszudehnen und schon fleißig dabei war, die Burgunder zu schwächen. Chlodwig war ein frisch bekehrter Katholik mit grenzenlosem Ehrgeiz und der Herrscher, der sich von einer Vereinigung der Goten wohl am stärksten bedroht fühlte.20 Im Jahr 497 hatte er sich mit den Bretonen – von den Angelsachsen aus Britannien vertriebene Briten, die sich in der späteren »Bretagne« niederließen (A.d.Ü.) – an der Westküste Aquitaniens zusammengeschlossen, wo die Hafenstadt Burdigala (Bordeaux) kurz besetzt wurde. Kurz darauf feierte er einen überwältigenden Sieg über seine östlichen Nachbarn, die Alemannen, und konnte sich jetzt mit voller Aufmerksamkeit dem Süden zuwenden. Alarichs Instinkt sagte ihm, dass er einer Konfrontation aus dem Weg gehen sollte. Einmal hatte er einen fränkischen Flüchtling namens Syagrius ausgeliefert, der es gewagt hatte, Chlodwig herauszufordern. Gregor von Tours berichtet, dass der Westgote darauf bestand, nach Ambaciensis (Amboise) zu reisen, wo er Chlodwig zu einem Gespräch auf einer Loire-Insel traf:

Igitur Alaricus rex Gothorum cum viderit, Chlodovechum regem gentes assiduae debellare, legatus ad eum dirigit, dicens: »Si frater meus vellit, insederat animo, ut nos Deo propitio pariter videremus…«

Als nun Alarich der Gotenkönig sah, dass König Chlodwig ohne Unterlass die Völker bekriegte und sich unterwarf, schickte er Gesandte an ihn und sprach: »Wenn es meinem Bruder beliebt, so wäre es der Wunsch meines Herzens, dass wir uns einmal sehen, so Gott will.« Chlodwig aber wies dies nicht zurück und kam zu ihm. Sie … sprachen, aßen und tranken miteinander … und schieden dann in Frieden.21

Wie sich herausstellte, ließ Chlodwig sich nicht so leicht besänftigen. Er war seit Kurzem durch Eheschließung mit den Burgundern liiert und außerdem mit dem byzantinischen Kaiser verbündet, der ihm den Titel eines Reichskonsuls übertragen hatte, und er wollte seinen Rivalen zuvorkommen. Gemeinsam beschloss man einen Feldzug ins Reich der Westgoten. Die Byzantiner sollten vor der Südküste patrouillieren, die Franken von Norden her einmarschieren. Ein Verhandlungsangebot des Ostgoten Theoderich wurde abgelehnt. Im Frühling des Jahres 507 erstrahlte ein »lodernder Meteor« am Nachthimmel:

Igitur Chlodovechus rex ait suis: »Valde molestum fero, quod hi Ariani partem teneant Galliarum …«

König Chlodwig sprach daher so zu seinen Kriegern: »Es schmerzt mich, dass diese Arianer einen so großen Teil Galliens besitzen. Lasst uns mit Gottes Hilfe einmarschieren und lasst sie unsere Macht spüren …« So zog das Heer weg [von Tours] in Richtung Poitiers … Als die Franken den Fluss Vigenna [die Vienne] erreichten, der durch Regen angeschwollen war, wussten sie nicht, wie sie übersetzen sollten, bis eine riesige Hirschkuh erschien und ihnen eine Furt durch den Fluss zeigte … Als der König sein Zelt auf einem Hügel nahe Poitiers aufschlug, sah er Rauch von der Kirche St. Hilaire aufsteigen und nahm dies als ein Zeichen, dass er über die Häretiker triumphieren werde. Es war alles für die schicksalhafte Schlacht vorbereitet: So griff Chlodwig Alarich den Gotenkönig auf der Ebene von Vouillé [in campo Vogladense] an, drei Wegstunden von der Stadt entfernt. Wie es ihr Brauch war, täuschten die Goten eine Flucht vor. Doch Chlodwig tötete Alarich von eigener Hand und entkam selbst [einem Hinterhalt] dank der Stärke seines Brustpanzers und der Schnelligkeit seines Pferdes.22

Das Ergebnis war also eindeutig (und die Vouglaisiens haben hier einen positiven Beweis für die Herkunft ihres Namens). Binnen weniger Stunden war die Macht der Westgoten in Gallien gebrochen. Und die Franken machten weiter Druck: Manche von ihnen ritten über das Zentralmassiv, um Landstriche bis hin zur Grenze Burgunds zu erobern. Chlodwig marschierte nach Burdigala, wo er überwinterte, bevor er im folgenden Frühling Tolosa plünderte. Ein Rest von Alarichs Heer leistete noch in Narbonne Widerstand, die meisten Westgoten jedoch zogen sich hinter die Pyrenäen zurück. Das gallische Kernland ihres Königreiches hatten sie aufgegeben. Von dieser Zeit an herrschten die Westgoten nur noch auf der Iberischen Halbinsel, wo sie ihre Macht bis zur Ankunft der Mauren zwei Jahrhunderte später bewahren konnten.

Für den fränkischen Sieg gibt es die verschiedensten Erklärungen. Die Version der Sieger, die Gregor von Tours verbreitete, betonte die helfende Hand eines katholischen Gottes. Selbst Edward Gibbon hob die Bedeutung der Religion hervor und schrieb dem gallo-römischen Adel fantasievoll die Rolle einer katholischen fünften Kolonne zu. Seine Interpretation wird heute angezweifelt.23 Auf sichererem Grund bewegt er sich dagegen, wenn er vom unbeständigen Kriegsglück schreibt: »So beschaffen ist die Macht der Fortuna – wollten wir weiterhin unser Nichtwissen unter diesem populären Namen verbergen –«, so Gibbon hochtrabend, »dass es fast genauso schwierig ist, die Kriegsereignisse vorherzusehen wie ihre Folgen zu erklären.«24

 

Über ein Jahrzehnt lang verfolgte der Ostgote Theoderich seine pangotischen Träume. Er war der Vormund von Amalrich, junger Erbe Alarichs II., sein Enkel, und der nominelle Herrscher eines, wie man hoffte, gerade entstehenden »Reiches«, das sich von den Alpen bis zum Atlantik erstrecken würde. Doch die Säulen seiner eigenen Macht bröckelten. Er konnte die Ordnung in Italien nicht aufrechterhalten, geschweige denn die Franken in Gallien herausfordern oder den Westgoten in Spanien helfen. Die römischen Kaiser in Konstantinopel nutzten die günstige Gelegenheit zu einer weiteren strategischen Offensive. Kurz nach Theoderichs Tod im Jahr 526 startete Kaiser Justinian einen Zug in den Westen.25 Für den Rest des 6. Jahrhunderts setzten sich kaiserliche Soldaten in Italien fest, während Alarichs Nachfolger ihre Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel festigten und die Nachfolger des Franken Chlodwig die mühsame Aufgabe antraten, Gallien in das Frankenreich und das Frankenreich in Frankreich zu verwandeln.

III

Obwohl das westgotische Tolosanische Reich neunundachtzig Jahre lang große Gebiete beherrschte, gibt es nur minimale greifbare Belege für seine Existenz. Archäologische Grabungen haben kaum etwas zutage gefördert.26 Ein Gold-solidus Alarichs II. ist erhalten geblieben, die meisten Münzen aus dem westgotischen Tolosa dagegen sind reichsrömische Prägungen. Hunderte Marmorsarkophage aus der Zeit tragen keine Erkennungsmerkmale. Fast alles, was wir wissen, entstammt fragmentarisch erhaltenen Schriftquellen. Selbst das Schlachtfeld der Auseinandersetzung mit Chlodwig ist nicht ganz sicher zu orten. Eine Gruppe von Altertumswissenschaftlern setzt Gregors campus Vogladensis mit Vouillé gleich, eine andere beharrt darauf, dass das in der Nähe liegende Dorf Voulon gemeint sei.27 Die Westgoten kommen in den weitgefächerten Übersichten über das historische Erbe von Toulouse und Aquitanien praktisch nicht vor.28 Erst vor einiger Zeit ist eine umfassende Bibliografie zusammengestellt worden, die den Forschern hilft, das Puzzle zusammenzusetzen.29

Die Kirche Nostra Domina Daurata – Notre-Dame de la Daurade –, deren Ursprünge mit den Westgoten in Verbindung gebracht werden, wurde 1761 total zerstört, um Platz für den Bau von Flussquais zu schaffen. Sie hatte einst den Schrein einer Schwarzen Madonna beherbergt. Das ursprüngliche Gnadenbild wurde schon im 15. Jahrhundert gestohlen, die erste Ersatzfigur verbrannten die Revolutionäre 1799. Überlebt haben Drucke einer frühmittelalterlichen achteckigen Kapelle mit Marmorsäulen und goldenen Mosaiken. Die heutige Basilika ist wie die Kathedrale des hl. Saturninus (Saint Sernin) ganz und gar aus moderner Zeit.30

Glücklicherweise sind die Karten und die Museen nicht völlig leer. Eine Häufung von Ortsnamen mit der Endung -ens, wie etwa Douzens, Pezens und Sauzens, alle im Département de l‘Aude, soll westgotische Wurzeln verraten. Das Dorf Dieupentale (Tarn-et-Garonne) weist den einzigen Namen rein westgotischer Herkunft auf: diup bedeutet »tief« und dal »Tal«. Auch bestimmte schlichte Bronzewaren, Adlerfibeln und Glaswaren werden aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Funden in den früheren Donauprovinzen Roms den Westgoten zugeordnet. Und auf der Straße zwischen Narbonne und Carcassonne fährt man am beeindruckenden Walrücken der Montagne d’Alaric entlang. Lokale Quellen erklären den Namen als Erinnerung an Befestigungen aus der Zeit Athaulfs und an einen hartnäckigen Mythos um die letzte Ruhestätte Alarichs II. Auf dem Berg finden sich die Ruinen eines mittelalterlichen Klosters, St. Pierre d’Alaric, und am Nordhang eine anerkannte Weinlage mit Qualitätsweinen des AOC Corbières.31

Die schlagendsten Hinweise einer westgotischen Vergangenheit tauchen heute ganz unerwartet in wilden Legenden auf, in historischen Erzählungen und vor allem in einem kleinen Dorf tief in den Ausläufern der Pyrenäen. Rennes-le-Château ist ein von einer Mauer umgebener Weiler auf der Spitze eines Hügels im Pays de Razès; er besteht aus vielleicht zwanzig Häusern, einer Kirche und einer mittelalterlichen Burg. Man hat von dort, unterhalb des »Heiligen Berges« Pic de Bugarach, Ausgangspunkt von Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde, einen bezaubernden Blick über das Val des Couleurs. Dieser Weiler, der sich an der Stätte der antiken Stadt Rhedae befinden soll, erlangte im 19. Jahrhundert eine gewisse Bekanntheit, weil man ihn mit der unüberwindlichen Festung der Westgoten nach ihrer Vertreibung aus dem nicht allzu fernen Tolosa gleichsetzte. Die Steinpfeiler der Pfarrkirche sollten westgotischen Ursprungs sein, und sagenhafte Gerüchte über vergrabene Schätze waren im Umlauf.32

Im Jahr 1885 übernahm der außergewöhnliche, um nicht zu sagen berüchtigte Pfarrer Bérenger Saunière (1852–1917) die Gemeinde. Zusammen mit seinem Nachbarn und Kollegen, dem Abbé Boudet aus dem nahen Rennes-les-Bains, Autor eines bizarren Bandes über alte keltische Sprachen,33 dilettierte Saunière sowohl in Geschichte wie auch in den okkulten Wissenschaften. Bei der Renovierung seiner Kirche fand er angeblich drei in einem westgotischen Pfeiler versteckte Pergamente mit codierten Botschaften. Kurz darauf protzte er mit einem Reichtum, dessen Herkunft er nicht erklärte; die prächtige Villa und der pseudomittelalterliche Bibliotheksturm, die er bauen ließ, sind noch heute zu bewundern. Seine Beichte auf dem Totenbett schockierte seinen Beichtvater so sehr, dass er dem Geistlichen die letzte Ölung verweigerte. Dessen liebstes Motto war angeblich ein Balzac-Zitat: »Il y a deux histoires: l’histoire officielle, menteuse, et l’histoire secrète, où sont les véritables causes des événements« (»Es gibt zwei Arten von Geschichte: die verlogene offizielle und die geheime, in der man die wahren Ursachen der Ereignisse finden kann«).34

Man muss fairerweise sagen, dass die Westgoten nur eines der vielen Elemente in dem fantastischen Potpourri von Geschichten sind, die seit Saunières Tod kursieren. Sie befinden sich in der Gesellschaft der Katharer, Templer, Rosenkreuzer, der schattenhaften Prieuré de Sion und des Heiligen Grals höchstselbst. Dan Browns Sakrileg ist nur eines von einem Dutzend Bücher, die sich dieser modernen Legende bedienen.35 Je nach Geschmack ist der geheime Schatz von Rhedae als der »Schmuck der Westgoten« beschrieben worden, der angeblich aus Rom oder aus Tolosa stammte, oder als der »Hort von Jerusalem«, den die Westgoten aus Byzanz mitgebracht hätten. Die Verbindung zur sogenannten »Blutlinie Christi« hängt an noch weiter hergeholten Annahmen, vor allem an der Vorstellung, dass Maria Magdalena nach Südgallien gereist sei und ihre Nachkommen in westgotische Familien eingeheiratet hätten.

Und dennoch ist die moderne französische Nation trotz aller Bemühungen der Vouglaisiens und der Rennains – nicht zu verwechseln mit den Rennois aus Rennes-les-Bains – mit den Westgoten nie richtig warm geworden. In Spanien ist ihre Präsenz viel stärker zu spüren als in dem Land, in dem ihre Existenz als Staat begann. Und das war auch so zu erwarten. Nach dem Rückzug aus Aquitanien setzten sich die Westgoten als beherrschendes Element auf der Iberischen Halbinsel fest. Ihr zweites Reich, das Königreich von Toledo, hatte doppelt so lange Bestand wie das von Tolosa und ist tief im modernen spanischen Bewusstsein verankert.36 Die westgotischen Könige einschheßlich der Herrscher von Tolosa werden in Madrid mit Statuen geehrt,D nicht aber in Toulouse.

Man muss deshalb die Fantasie spielen lassen, um die verlorene westgotische Kultur der aquitanischen Zeit zurückzuholen. Es wäre zum Beispiel möglich, sich von den bekannten Realien des westgotischen Spaniens aus in der Zeit zurückzuarbeiten. Schließlich dominierten die religiösen und künstlerischen Praktiken, die die Westgoten wohl aus Aquitanien mitgebracht hatten, in Teilen der Iberischen Halbinsel bis ins späte 6. Jahrhundert; die gotische Sprache, die Sidonius in Tolosa hörte, hielt sich in Toledo bis zum 7. Jahrhundert; und die politische Kultur der Westgoten, wie sie Eurich als Erster definierte, entwickelte sich bis ins 8. Jahrhundert hinein weiter. Natürlich muss man sehr vorsichtig vorgehen. Nicht alle Dinge, die das westgotische Etikett tragen, wie etwa der westgotische Kirchengesang oder die westgotische Schrift, stammen wirklich von den Westgoten. Und der iberische Kulturboden, in den die westgotischen Bräuche hineinverpflanzt wurden, war zwar ähnlich romanisiert, aber dennoch nicht mit dem des gallischen Aquitanien identisch.

Dennoch gibt es verschiedene Hinweise, bei denen man ansetzen könnte. In der Kirchenarchitektur könnte die ausgesuchte Schlichtheit der westgotischen Kirche San Pedro de la Nava in Zamora durchaus Parallelen im nachrömischen Gallien gehabt haben. Ihre erhaltenen Hufeisenrundbögen und Tunnelgewölbe waren eindeutig von einer früheren Tradition inspiriert. Der Symbolismus und Stil der westgotischen Kirchenkunst hatte byzantinische Wurzeln und fand ganz sicher auch in Tolosa seinen Ausdruck. Der Einfluss der gotischen Sprache auf die einheimische Bevölkerung war zwar begrenzt, aber sicher auf beiden Seiten der Pyrenäen ziemlich ähnlich. Worte wie suppa (Suppe) oder bank (Bank) gehören zu der langen Liste von Germanismen, die die neulateinischen Mundarten übernommen haben.37 Und da in der Kindheit gelernte Gebete am besten sitzen, können wir mit einiger Berechtigung davon ausgehen, dass die gotische Form des Vaterunsers, wie sie auf jeder Etappe der Reise der Westgoten von der Donau bis an den Douro rezitiert wurde, auch in Nostra Domina Daurata fromm gebetet wurde:



∗∗∗

Das Schicksal des Tolosanischen Reiches provoziert natürlich auch zum Nachdenken über »kontrafaktische Geschichte«. Was wäre, wenn die Westgoten Chlodwig geschlagen hätten? Die Möglichkeit dazu bestand durchaus, und sie eröffnet Ausblicke auf eine nicht realisierte Zukunft. Kurz vor der Schlacht von Vouillé kontrollierten die Franken vielleicht ein Drittel des nachrömischen Gallien. Die Westgoten, arianische Christen, stiegen zu den Herren der Iberischen Halbinsel und Südgalliens auf und waren mit den Ostgoten in Italien verbandelt. Der Bischof von Rom nahm keine herausgehobene Position unter den fünf Patriarchen der Christenheit ein, und der weitaus größte Teil Europas war nach wie vor heidnisch. Wenn Alarich II. Chlodwig abgewehrt hätte, wäre die Vorstellung eines Westeuropa unter pangotischer Hegemonie durchaus realistisch gewesen, während sich eine geschwächte römische Kirche vor dem doppelten Ansturm des Arianismus und der byzantinischen Orthodoxie hätte zurückziehen müssen. In diesem Fall hätte es Frankreich wohl nie gegeben, oder es hätte sich vielleicht anderswo oder auf andere Art entwickelt. Die zukünftige Macht des Papstums, die die Franken fördern sollten, wäre vielleicht nie zustande gekommen. Nichts ist unausweichlich. Nichts ist hundertprozentig vorhersagbar.

 

Doch man sollte den vielen Altemativszenarien, die es zu jeder geschichtlichen Epoche gibt, nicht zu viel Aufmerksamkeit widmen: Die Vergangenheit ist kein Brettspiel, das man wiederholen kann, so oft man will. Was passiert ist, ist passiert. Was nicht, nicht. Der Franke Chlodwig tötete den Westgoten Alarich und die Franken trieben die Westgoten aus dem Land, nicht umgekehrt. Deshalb ist es nicht unlogisch, wenn man behauptet, dass »die Geschichte Frankreichs in Vouillé begann«.

Die Geschichte der »nachrömischen Dämmerung« ist auch so schon kompliziert genug: Historiker müssen die Unterschiedlichkeit der »Barbaren« ebenso berücksichtigen wie die überaus multikulturelle und multiethnische Vermischung mit der vorhandenen Bevölkerung. In diesem Zusammenspiel ergaben sich immer wieder unerwartete Wendungen und Kapriolen. Und vor allem: Der Zeitraum war gewaltig. Die Spanne zwischen dem Zusammenbruch des römischen Westreichs im Jahr 476 und dem Auftauchen erkennbarer moderner Staaten wie Frankreich oder England umfasst mindestens 500 Jahre. Die nachrömische Dämmerung hielt sich doppelt so lange wie das Westreich selbst.

In dieser Hinsicht dient das Beispiel der Westgoten als eine Fallstudie für das »barbarische Europa« als Ganzes. Ihr Aufenthalt in Aquitanien war nur eine Zwischenstation auf einem sehr langen Weg. Wie ihre Verwandten, die Ostgoten und die Langobarden, und ihre zeitweiligen burgundischen Nachbarn gehörten sie einer ethnischen und sprachlichen Untergruppe an, die heute völlig ausgestorben ist. Ihre Bräuche und ihre Sprache standen dem Fränkischen sehr fern. (Dieses bildet den Ursprung des Niederländischen und Flämischen, und mit seiner Hilfe wurde aus dem gallo-römischen Latein das Altfranzösische.) Höchstwahrscheinlich konnte sich Alarich II. in Amboise gar nicht mit Chlodwig unterhalten, ohne auf das Lateinische oder einen Dolmetscher zurückzugreifen. Mehr noch, die Westgoten trafen unterwegs viele andere »Barbaren«, die zweifellos ihre Sprache, ihre Kultur und ihren Genpool »kontaminierten«. Unter ihnen waren ostgermanische Vandalen, mittelgermanische Sueben oder »Schwaben«, das Turkvolk der Hunnen und die Alanen, die wie die heutigen Osseten aus dem Iran stammten.39

Das Gedächtnis spielt den Menschen so manchen Streich. Einen davon könnte man vielleicht die »perspektivische Verkürzung der Zeit« nennen. Wenn die Europäer heute auf die Vergangenheit zurückblicken, sehen sie die moderne Geschichte im Vordergrund, die mittelalterliche Geschichte in mittlerer Entfernung und das nachrömische Halbdunkel als einen schwach erkennbaren Streifen am fernen Horizont. Gestalten wie Alarich oder Chlodwig bleiben weit entfernte, konturlose Punkte, bis sie aus ihrem historischen Umfeld herausgenommen, vergrößert, herausgeputzt und umschwärmt werden, weil es der Politik späterer Tage oder dem Nationalstolz gerade förderlich ist. An Chlodwig I., König der Franken, den Sieger von Vouillé, erinnert ein prächtiges Grab in der Pariser Abtei St. Denis. Alarich II., den Chlodwig tötete, hatte über ein größeres Reich geherrscht als dieser. Und doch besitzt er kein bekanntes Grab, kein modernes Denkmal.

Die historische Erinnerung ist alles andere als unparteiisch. Die Westgoten müssen das gewusst haben. In ihrer ganzen Weisheit begruben sie ihre Anführer auf althergebrachte Weise, die die Toten ehrte, aber keine Spuren hinterließ. Die Grabstätte von Alarich I., »dem Herrscher aller«, wurde in den Sand des Meeres hinausgetragen, lange bevor seine Nachfolger das Tolosanische Reich gründeten. Nur der eine oder andere deutsche Romantiker erinnert sich an diesen Moment:

Nächtlich am Busento lispeln

Bei Cosenza dumpfe Lieder.

Aus den Wassern schallt es Antwort

Und in Wirbeln klingt es wieder.40

A Arius von Alexandria († 336), der wichtigste Häresiarch des 4. Jahrhunderts, wurde vom Konzil von Nizäa verurteilt, weil er die volle Gottähnlichkeit Christi und damit die vorherrschende Meinung zum Wesen der Dreifaltigkeit leugnete. Nach Nizäa wurden seine Lehren von den Machthabern des Reiches geächtet.

B Nestorius, Patriarch von Konstantinopel 428 bis 431, der wichtigste Häresiarch des 5. Jahrhunderts, wurde vom Konzil von Ephesos für seinen Glauben verurteilt, dass das Wesen Christi ebenso menschlich wie göttlich sei.

C Eine bisher nicht lokalisierte, zumeist in der Gegend von Châlons-en-Champagne vermutete Stätte.

D Neben dem Königspalast an der Plaza de Oriente.