Verschwundene Reiche

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Heute stehen die Barbaren im Vorgarten. Die meisten Schulkinder sind nie mit Homer oder Vergil in Berührung gekommen; manche erhalten überhaupt keinen religiösen Unterricht, egal in welcher Form; und das Lernen moderner Fremdsprachen ist fast zum Erliegen gekommen. Geschichte selbst muss um einen untergeordneten Platz im Curriculum kämpfen, neben offenbar wichtigeren Fächern wie Wirtschaft oder Informatik, Soziologie oder Media Studies. Materialismus und Konsumgesellschaft geben den Ton an. Junge Leute müssen in einer Welt des falschen Optimismus lernen. Anders als ihre Eltern und Großeltern wachsen sie mit sehr wenig Gespür für das gnadenlose Vergehen der Zeit auf.

Die Aufgabe des Historikers geht daher über die Pflicht hinaus, die allgemeine Erinnerung zu pflegen. Wenn an wenige Ereignisse der Vergangenheit überall und ständig erinnert wird und andere ebenso wichtige Themen dabei unter den Tisch fallen, braucht man entschlossene Kundschafter, die die ausgetretenen Pfade verlassen und einige der weniger schicken Erinnerungsstätten bewahren. Das ähnelt der Arbeit von Ökologen und Naturschützern, die sich um bedrohte Arten kümmern, und jener, die, indem sie das Schicksal des Dodo und des Dinosauriers untersuchen, ein wahres Bild vom Zustand unseres Planeten wie auch von seinen Perspektiven entwerfen.

Die vorliegende Geschichte einer Auswahl ausgestorbener Reiche habe ich mit eben dieser Neugier erforscht. Der Historiker, der sich auf die Spuren des »Königreichs Strathclyde« oder der »Republik für einen Tag« begibt, ist ebenso aufgeregt wie ein Biologe, der das Versteck des Schneeleoparden oder des Sibirischen Tigers aufspürt. John Keats beschreibt dieses Gefühl so: »Sah Könige, Fürsten, Ritter stehn –/So bleich, wie Tod nur bleich sein kann …«16

Das Thema der menschlichen Hybris ist natürlich nicht neu. Es ist älter als die Griechen, die das Wort erfanden und auf der Zeit ihrer größten Macht die schon halb im Wüstensand versunkenen Statuen der ägyptischen Pharaonen entdeckten.

»My name is Ozymandias, King of Kings:

Look on my works, ye Mighty, and despair!«

Nothing beside remains. Round the decay

Of that colossal wreck, boundless and bare

The lone and level sands stretch far away.

Mein Name: Ozymandias, König der Könige!

Schaut auf mein Werk, ihr Mächtigen, und verzweifelt.

Nichts anderes hat überlebt als das.

Rings um den Trümmerbruch

der Riesenstele dehnt sich ohne Maß

die Ebene voller Sand als weites Tuch.17

∗∗∗

Vom ersten Tag an habe ich mich bei der Planung dieses Buches auf zwei Prioritäten konzentriert: den Unterschied zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit herauszuarbeiten und die Funktionsweise des historischen Gedächtnisses zu erforschen. Deshalb ist jede Fallstudie dreigeteilt. Teil I jedes Kapitels skizziert eine Region in Europa, wie sie heute aussieht. Teil II erzählt die Geschichte eines »vanished kingdom«, das sich einst in jener Gegend befand. Teil III untersucht, wie sehr dieses »vanished kingdom« in Erinnerung geblieben ist oder vergessen wurde; allzu oft erinnert man sich kaum daran und hat es halb vergessen, oder es ist völlig aus dem Gedächtnis verschwunden.

Zudem habe ich mir alle Mühe gegeben. Verschwundene Reiche aus den vielen wichtigen Epochen und Regionen der europäischen Geschichte auszuwählen, wie der Umfang des Buches es zuließ. Tolosa zum Beispiel lag im Westen Europas, Litauen und Galizien im Osten. Alt Clud und Éire befanden sich auf den Britischen Inseln, Preußen im Baltikum, Tsernagora auf dem Balkan und Aragon auf der Iberischen Halbinsel und im Mittelmeerraum. Die »fünf, sechs, sieben Königreiche« des Burgund-Kapitels umfassten im Mittelalter sowohl das heutige Frankreich wie auch Teile Deutschlands; bei Savoyen geht es vor allem um die Frühe Neuzeit und um die Verbindung von Frankreich, der Schweiz und Italien; Rosenau und die UdSSR gab es nur im 19. bzw. 20. Jahrhundert.

Natürlich kann man das Thema der Verschwundenen Reiche mit einer begrenzten Anzahl von Beispielen, wie ich sie hier präsentiere, nicht erschöpfend behandeln. Die »Geschichte des halb vergessenen Europa« ist viel komplexer, als jede Auswahl sie darstellen kann. Viele Kandidaten mussten herausfallen, und sei es auch nur als Platzgründen. Eine dieser Studien, »Kernow«, befasst sich mit dem Reich König Marks im nachrömischen Cornwall und schmückt sich mit Gedanken zum Thema des kulturellen Genozids und Auszügen aus dem Werk des kornischen Dichters Norman Davies. Eine andere Untersuchung, »De Grote Appel: Eine kurzlebige holländische Kolonie«, berichtet von New Amsterdam, bevor es zu New York wurde. Eine dritte, »Carnaro: Die Regentschaft des ersten duce«, erzählt die außergewöhnliche Geschichte von Gabriele d’Annunzios Machtübernahme in Fiume im Jahr 1919 und schließt mit seinem wunderbaren Gedicht »La pioggia nel pineto«, »Regen im Pinienhain«.

Bei all diesen Unternehmungen habe ich natürlich intensiv auf die Werke anderer zurückgegriffen. Kein Historiker kann so gründlich über alle Bereiche und Epochen der europäischen Geschichte Bescheid wissen, und gute Generalisten weiden sich mit Genuss an den Mahlzeiten, die ihre spezialisierten Kollegen ihnen auftischen. Jeder, der unvertrautes Terrain betritt, muss sich mit Karten, Führern und Berichten all jener wappnen, die schon dort waren. In den frühen Phasen meiner Forschungen erhielt ich unglaublich wertvolle Tipps von spezialisierten Kollegen wie dem verstorbenen Rees Davies zum Alten Norden, von David Abulafia zu Aragon oder von Michał Giedroyć zu Litauen, und fast alle Kapitel haben stark von Spezialuntersuchungen und gelehrten Gesprächen profitiert. Kurz gesagt ist jeder einzelne Abschnitt meiner kleinen Kathedrale aus den Ziegeln, Steinen und Entwürfen anderer Historiker entstanden.

Platons Metapher vom »Staatsschiff« hat mir immer sehr gefallen. Die Vorstellung eines großen Schiffs mit Steuermann, Besatzung und vielen Passagieren, das durch das Meer der Zeit pflügt, spricht mich unwiderstehlich an – ebenso wie die vielen Gedichte, die es feiern: O navis, referent in mare te novi fluctus! O quid agis? Fortiter occupa portum! Nonne vides ut nudum remigio latus…18

Soll dich wieder, o Schiff, tragen ins Meer die Flut!

O was hast du im Sinn? Standhaft behaupte den

Hafen! Siehest du nicht, wie

Deine Seite von Rudern leer.E

Oder aber:


Thou, too, sail on, O Ship of State! Auch Du ziehe weiter, o Staatenschiff,
Sail on, O Union, strong and great! Du Union, so stark und groß!
Humanity with all its fears Die Menschheit mit all ihrer Furcht, ihrem Leid,
With all the hopes of future years, Mit all ihrem Hoffen auf kommende Zeit,
Mit Beben hängt an Deinem Los!

Diese Zeilen des Dichters Henry Wadsworth Longfellow hat Präsident Roosevelt handschriftlich am 20. Januar 1941 an Winston Churchill gesandt. Begleitet waren sie von einer Notiz: »Ich glaube, diese Verse wenden sich an Ihr Volk ebenso wie an uns.«20

Eben diese Gedanken kommen einem in den Sinn, wenn man sich den Kopf über »kingdoms that have vanished« zerbricht. Denn die »Staatsschiffe« segeln nicht ewig weiter. Manchmal trotzen sie den Stürmen, manchmal gehen sie unter. Gelegentlich retten sie sich in einen Hafen und werden repariert; bei anderen Gelegenheiten werden sie, irreparabel beschädigt, abgewrackt; oder sie sinken, sie gleiten hinab und finden eine verborgene Ruhestätte unter Krebsen und Fischen.

Das lässt andere Assoziationen hochkommen, solche, bei denen der Historiker zum Strandguträuber und Schatzsucher wird, einem Sammler von Treibgut aller Art, der Wracks hebt, einem Tiefseetaucher, der den Meeresboden absucht, um zu bergen, was verloren war. Dieses Buch fühlt sich wohl in der Kategorie historischer Bergungsversuche. Es sammelt die Spuren gesunkener Staatsschiffe und lädt den Leser ein, freudig mitzuerleben, wie die angeschlagenen Galeonen zumindest auf dem Papier ihre umgestürzten Masten wieder aufrichten, die Anker lichten, die Segel füllen und in der Dünung des Ozeans erneut auf Kurs gehen.

Norman Davies

Peterhouse und St Antony’s

für die deutsche Übersetzung Juni 2013

A Engl.: The Ascent of Everest. Deutsch: Mount Everest. Kampf und Sieg, Wien 1954. A.d.Ü.

B Dieser Heraklit ist nicht der Naturphilosoph, sondern ein hellenistischer Dichter. Das Gedicht ist in der englischen Fassung von William Johnson Cory ziemlich bekannt. Die hier gewählte Übersetzung ist von Doris Meyer aus ihrem Buch Inszeniertes Lesevergnügen, Stuttgart 2005. (A.d.Ü.)

C Rede Churchills 1940, A. d. Ü.

 

D Aus „To Helen“ von E. A. Poe, A. d. Ü.

E Übers. K. F. Preiß, A.d.Ü.

1
Das Tolosanische Reich

Zwischenhalt der Westgoten

(418–507 n. Chr.)


Wegweiser nahe Vouillé

I

Vouillé, früher Vouillé-la-Bataille, ist ein kleines Landstädtchen mit etwa dreitausend Seelen im französischen Département Vienne und chef-lieu eines Gemeindeverbandes in der Region Poitou-Charentes. Es liegt an der Route Nationale 149, der alten römischen Straße von Poitiers nach Nantes, und wird von einem hübschen Flüsschen, der Auxance, durchflossen, das zum Atlantik mäandert. Das Dorf kann zwei Kirchen vorweisen, zwei Schulen, einen winzigen Platz, den man durch einen Bogen betritt, einen großen terrain de pétanques, schöne Gärten am Wasser, ein Rathaus, eine Handvoll Restaurants, ein bescheidenes Sportstadion, einen hohen Wasserturm, ein denkmalgeschütztes Chateau-Hotel, Le Périgny, einen Wochenmarkt am Samstag und keinerlei Berühmtheiten. Allerdings fand hier, wie man vermutet, im frühen 6. Jahrhundert eine Schlacht statt. Eine Gedenkplakette, angebracht vom örtlichen Geschichtsverein im Jahr 2007 zum 1500. Jahrestag, ist so gut versteckt, dass nicht jeder in der Touristeninformation am Dorfplatz genau sagen kann, wo man sie findet.1

In einem dieser köstlichen adjektivischen Schnörkel, die die französische Sprache so schätzt, erfreuen sich die Einwohner von Vouillé des Namens Vouglaisiens oder Vouglaisiennes; die bei Wanderfreunden beliebte Umgebung nennen sie Pays Vouglaisien. Es kann niemanden überraschen, dass sie auf ihren patrimoine, das Erbe ihrer Vorfahren, sehr stolz sind. Eine Aussage des Präsidenten des örtlichen Verkehrsvereins aus dem Jahr 1972 findet man auf der Website wie auch auf einem schlichten Denkmal, das am Carrefour de Clovis errichtet wurde. »L’histoire de la France«, so heißt es dort nicht ganz unbescheiden, »commença donc a Vouillé« (»Die Geschichte Frankreichs begann in Vouillé.«)2

II

Am 24. August 410 erreicht der Westgote Alarich endlich das eigentliche Ziel jener vielen Barbarenhäuptlinge, die in das zerfallende Römische Westreich eingefallen waren. Im dritten Anlauf plünderte er Rom:

Nachdem er die Stadt umzingelt und die Bewohner noch einmal ausgehungert hatte, gelang ihm bei Nacht der Eintritt durch die Porta Salaria … Diesmal war der König nicht in der Stimmung, die Hauptstadt der Welt zu verschonen. Die Plünderungen dauerten zwei oder drei Tage. Den Kirchen wurde ein gewisser Respekt entgegengebracht … [aber] der Palast des Sallust … wurde niedergebrannt; und Grabungen am Aventin, damals ein schickes Adelsviertel, zeigen Spuren der Zerstörung durch Feuer. Man machte reiche Beute und zahllose Gefangene, darunter die Schwester des Kaisers, Galla Placidia.

Am dritten Tag führte Alarich sein triumphierendes Heer hinaus … und marschierte nach Süden … Sein Ziel war es, nach Afrika überzusetzen, wahrscheinlich, weil er sein Volk in jenem reichen Land ansiedeln wollte … Aber seine Tage waren gezählt. Er starb vor Ende des Jahres in Consentia [Cosenza].3

Alarichs Name bedeutete »der Herrscher aller«.

Alarichs Volk, die Westgoten, waren als erster Germanenstamm überhaupt in das Römische Reich eingefallen. Sie stammten ursprünglich aus dem fernen Baltikum, hatten aber schon länger in der aufgegebenen Provinz Dakien (in heutigen Rumänien) als halbsesshafte Ackerbauern gesiedelt, die normalerweise lange in einem fruchtbaren Gebiet blieben, bis sie ins nächste weiterzogen. Und sie waren zum arianischen Christentum bekehrt worden.A Von ihren früheren Wohnsitzen vertrieben, suchten sie eine neue Zuflucht, schafften es jedoch nie bis nach Afrika. Stattdessen verhandelten sie, als sie nach der Plünderung Roms in Süditalien gestrandet waren, mit den Römern über neue Siedlungsplätze im Reich. Ihr Erfolg inspirierte ihre gotischen Verwandten, die sie im tiefsten Osteuropa zurückgelassen hatten. Innerhalb von drei Generationen folgten ihnen ihre Cousins, die Ostgoten, auf dem Weg nach Italien.4

Die Westgoten waren kein Stamm im üblichen Sinn, auch herrschen gewisse Zweifel, ob ihr Name etymologisch überhaupt mit dem »Westen« in Verbindung gebracht werden kann. Unterschiedlicher ethnischer Herkunft waren sie allemal, sammelten sich auf Alarichs Wanderzügen um den erfolgreichen Anführer und nahmen den Zusatz »West-« erst an, nachdem sie sich vom Hauptstrom der gotischen Wanderung gelöst hatten.

Alarichs Heldentaten brachen den Bann, durch den sich andere barbarische Häuptlinge hatten zurückhalten lassen. Wie ein byzantinischer Kommentator bemerkte, wurde das Reich nicht durch »Flüsse, Lagunen oder Wälle« geschützt, »sondern durch Angst« – und Angst ist »ein Hindernis, das kein Mensch je überwunden hat, solange er von seiner Unterlegenheit überzeugt war«.5 Dank Alarich verloren die Barbaren das Gefühl, unterlegen zu sein.

Die spektakulären Riten zu Alarichs Bestattung provozierten Kommentare bei den Zeitgenossen und regen moderne Historiker und Ethnologen zu vielen Spekulationen an:

Ihre Wildlieit offenbarten die Barbaren beim Leichenbegängnis eines Helden, dessen Mut und Glück sie mit trauervollen Lobpreisungen feierten. Sie zwangen ihre Gefangenen zur Umleitung des Flüsschens Busentinus, das die Mauern von Consentia bespült. Das mit den prächtigen Beutestücken und Trophäen Roms geschmückte Königsgrab wurde im leeren Fluss angelegt, das Wasser anschließend wieder in sein natürliches Bett zurückgelassen und der geheime Ort, an dem Alarichs Gebeine ruhen, durch die grausame Abschlachtung der Gefangenen, die das Werk ausgeführt hatten, für immer verborgen.6

Allerdings erreichte »der Herrscher aller« trotz seines unglaublichen Ansehens keines seiner langfristigen Ziele. Er war der ewige Wanderer, der ständig die Gefolgschaft wechselte. Mal war er Roms Verbündeter, mal Roms Feind, mal Roms Zerstörer, mal ein anerkannter Schutzherr des Kaisers und mal der Partner eines Usurpators gewesen.7

Zu Alarichs Zeit wurde das Westreich von barbarischen Horden überschwemmt, die aus allen Richtungen über die Reichsgrenzen hinwegzogen. Britannien konnte dem Ansturm von Pikten aus dem Norden, Schotten aus Hibernien und germanischen Plünderern, die »die sächsische Küste« im Südosten belagerten, nicht mehr standhalten. Das römische Gallien lag im Bann der »Horde der Horden«, die den gefrorenen Rhein im Winter 406/07 überquerte. Kriegerische Rotten der Vandalen, Alanen und Sueben plünderten Aquitanien im Süden und drängten über das Gebirge auf die Iberische Halbinsel. Weitere Horden, darunter die Hunnen, standen schon bereit, um dem Weg der Westgoten durch die Donauprovinzen zu folgen.

Alarichs Nachfolger als Anführer der Westgoten schloss deshalb einen Handel mit dem Römischen Reich. Athaulf – der »edle Wolf« – erklärte sich bereit, Italien zu verlassen und seine barbarischen Verwandten aus Gallien und Spanien zu vertreiben. Seine einzige Bedingung war, dass er wieder den Status des kaiserlichen foederatus oder »Verbündeten« erhielt, den Alarich einst innehatte. In der Fassung eines Zeitgenossen, des Historikers Paulus Orosius, ist Athaulfs »Erklärung« eine interessante Lektüre:

»Im vollen Vertrauen auf Tapferkeit und Sieg«, sagte Athaulf, »trachtete ich einst danach, das Antlitz der Welt zu verändern, Roms Namen auszutilgen, auf seinen Trümmern die Herrschaft der Goten zu errichten und mir, gleich Augustus, den unsterblichen Ruhm des Gründers eines neuen Reiches zu erwerben. Wiederholte Erfahrung lehrte mich allmählich, dass … Gesetze wesenüich notwendig sind und dass dem wilden und unbezähmbaren Gemüt der Goten das heilsame Joch der Gesetze und der Zivilregierung unerträglich war … nunmehr hege ich den aufrichtigen Wunsch, die Dankbarkeit kommender Geschlechter möge das Verdienst eines Fremden anerkennen, der sich des Schwertes der Goten nicht bediente, um das Glück des Römischen Reiches zu zerstören, sondern um es wiederherzustellen und zu erhalten.«8

Das Jahrzehnt nach Alarichs Tod war voller gewalttätiger Konflikte nicht nur zwischen den Westgoten und ihren Rivalen, sondern auch unter den führenden westgotischen Familien. Athaulf führte sein Volk von Italien nach Südgallien und Spanien, wo sie die Vandalen, Sueben und Alanen angriffen. Gleichzeitig entzündete sich eine schwelende Fehde zwischen Alarichs Dynastie und den rivalisierenden Amalfingern neu. Athaulf, der mit der gefangenen Galla Placidia verheiratet war, wurde 415 in seinem Palast in Barcelona ermordet, zusammen mit ihren gemeinsamen Kindern. Ebenso erging es seinem direkten Nachfolger Sigerich, dem »König für fünf Tage«. Der Mann, der dann an die Spitze kam, ein kühner Krieger und raffinerter Diplomat namens Wallia, gilt manchen als ein illegitimer Sohn Alarichs. Es war Wallia, der den entscheidenden Vertrag aushandelte, in dem die Westgoten ihren Status als kaiserliche Verbündete bestätigt und dauerhafte Wohnsitze im römischen Aquitanien zugewiesen bekamen.

Das »Tolosanische Reich« trat demnach als ein abhängiger, aber autonomer kaiserlicher Regionalstaat ins Leben. Es umfasste einen von drei Teilen Galliens und wurde von Stammeshäuptlingen regiert, die unter der kaiserlichen hospitalitas standen. Auf der Grundlage eines Dekrets des Kaisers Honorius nahmen die Westgoten im Jahr 418 ihre neue Hauptstadt Palladia Tolosa (das heutige Toulouse) in Besitz. Nach Wallia wurden sie für den Rest des Jahrhunderts von fünf Königen regiert: Theoderich I., Thorismund, Theoderich II., Eurich und Alarich II. Theoderich I. und Alarich II. fielen im Kampf. Thorismund und Theoderich II. wurden ermordet. Eurich, der jüngere Bruder Thorismunds und des zweiten Theoderichs, führte das Reich auf den Gipfel seines Reichtums und seiner Macht.9

Allem Anschein nach übernahmen die Westgoten die Herrschaft in Aquitanien nach einer langen Zeit der Unruhe, ohne auf ernsthaften Widerstand zu stoßen. Der gallo-römische Adel, der sich einst einem rebellischen gallischen Sonderreich angeschlossen hatte, war nicht gerade für seine Fügsamkeit bekannt. Doch die neuen Herren waren eifrige Nachahmer römischer Ideale, und es gab keine Auflehnung gegen ihre Regierung der harten Hand. Die westgotischen Könige nahmen gern Geiseln und bestraften ungehorsame Untertanen, aber sie schwelgten nicht in sinnloser Gewalt. Römer traten in ihren Dienst, vor allem der General Nepotanius, der Admiral Namatius aus Saintes und Victorius, der dux super septem civitates, oder »Gebieter über Septimanien«.10 Die Westgoten erließen keine eigenen Gesetze für die Gallorömer, was auf eine Bereitschaft zur Assimilation schließen lässt; eine neue Einteilung des Landbesitzes ging nicht mit größeren Konfiszierungen einher; und in religiösen Dingen entwickelten sich die arianischen Praktiken des westgotischen Klerus parallel zum gut etablierten Netzwerk römischer Bistümer und Landkirchen. Die Tatsache, dass die Synode von Agde im Jahr 506 auf westgotischem Territorium stattfand, lässt vermuten, dass die Nichtarianer keine Angst um ihre Sicherheit hatten.11

Der römischen Stadt Tolosa (Toulouse), auf einer Ebene unterhalb einer alten keltischen Bergfestung entstanden, hatte Kaiser Domitian zu Ehren der Göttin Pallas Athene, der Schutzpatronin der Künste, den Beinamen Palladia verliehen. Umgeben von einer alten augusteischen Stadtmauer war sie mit Aquädukten, Theatern, Bädern und einem aufwändigen Abwassersystem ausgestattet und lag an der strategisch wichtigen Via Aquitania, die durch Südgallien vom Mittelmeer zum Atlantik führte. Seit dem 4. Jahrhundert war sie ein aktives Zentrum des Christentums im Reich und Bischofssitz. Der hl. Saturninus, einer der ersten Apostel Galliens, war um 257 in Tolosa den Märtyrertod gestorben – er wurde von einem wilden Stier durch die Straßen geschleift. Die Basilika, die seine Reliquien hütete, bildete den Mittelpunkt der Gottesverehrung nach dem vom Konzil von Nizäa definierten Glaubensbekenntnis. Die Hauptkirche der Arianer war die in der Mitte des 5. Jahrhunderts über einem früheren Apollo-Tempel errichtete Nostra Domina Daurata.

 

Aquitanien konnte damals schon auf eine lange Tradition lebhafter theologischer Debatten zurückblicken. Der hl. Hilarius von Poitiers (um 300–368) war auch als Malleus Arianorum, ein früher »Hammer der Arianer«, bekannt. Der hl. Experius († 410), Bischof von Tolosa, bleibt als der Empfänger eines Briefes von Papst Innozenz I. in Erinnerung, in dem dieser den Kanon der Heiligen Schrift festlegte. Der Priester Vigilantius, der um 400 wirkte, galt dagegen als ein kühner Dissident, der den abergläubischen Heiligen- und Reliquienkult verurteilte. Der hl. Prosper von Aquitanien (um 390–455) war Historiker, Schüler des Augustinus und der erste Fortsetzer der Universalgeschichte des Hieronymuse12, und der hl. Rusticus von Narbonne († 461) schließlich, ein Vorkämpfer dessen, was später als »Katholizismus« gelten sollte, kämpfte gegen die neue nestorianische HäresieB ebenso wie gegen den älteren Arianismus seiner westgotischen Herren.

Sobald die westgotische Herrschaft etabliert war, dehnte sich das Reich stark aus. In fast jedem Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts kamen neue Gebiete dazu. Die Eroberung von Narbo Martius (Narbonne) im Jahr 436 verschaffte einen direkten Zugang zum Mittelmeer. Die ganze Septimania folgte später als ein Geschenk des Römischen Reiches. Nach dem Hunneneinfall Mitte des Jahrhunderts streiften die Westgoten weit im Norden umher, ein gutes Stück über die Loire hinaus, und im Jahr 470 drangen sie in Mittelgallien ein und verleibten sich die Civitas Turonum (Tours) sowie Arvernis (Clermont) ein. Danach brachten sie Arelate (Arles) und Massilia (Marseille) in ihren Besitz und erreichten bei einem systematischen Eroberungsfeldzug auf der Iberischen Halbinsel die Säulen des Herkules (Gibraltar). Von 474 an herrschte Vincentius, ein Römer in westgotischen Diensten, als Statthalter des Königs in Iberien mit dem Titel eines dux hispaniarum. Zur Jahrhundertwende kontrollierte man den größten aller Staaten im nachrömischen Westen und galt bereits als Gewinner unter den barbarischen Räubern des Reiches.

Theoderich I. (reg. 419–451) war mit zahlreichen Söhnen und Töchtern gesegnet und setzte sie ein, um ein ausgefeiltes Netzwerk dynastischer Allianzen aufzubauen. Vor allem aber blieb er bei zeitgenössischen Chronisten wie bei späteren Historikern wegen seines kühnen Einsatzes bei der Abwehr von Attilas Hunnen in Erinnerung. Er starb als treuer Verbündeter des kaiserlichen Generals Flavius Aëtius im Juni 451, als er seine Krieger in die blutige Schlacht auf den Katalaunischen FeldernC führte, die Gallien vor den furchtbaren Steppenreitem bewahrte.13 Drei seiner Söhne folgten ihm nacheinander auf dem Thron.

Nach Gibbon hatte Thorismund (reg. 451–453) eine Schlüsselrolle in der siegreichen Schlacht gespielt, in der sein Vater starb. Seine Truppen hatte er in Reserve auf den nahen Höhen gehalten, bis er schließlich von oben heranjagte und die Hunnen vom Felde trieb. Doch der Sieg brachte ihm wenig, wurde er doch von seinem Bruder Theoderich ermordet, bevor er seine Macht festigen konnte, angeblich weil er drohte, das Bündnis mit Rom aufzukündigen.

Theoderich II. (reg. 453–466) hat die historische Berichterstattung einerseits durch den schönen Namen seiner Ehefrau Königin Pedauco – was »Gänsefuß« bedeutet – bereichert und andererseits durch eine Beschreibung seiner Person aus der Feder eines Augenzeugen, wie es sie sonst für germanische Könige nicht gibt. Der lateinische Autor Sidonius Apollinaris (432–488) war Bischof von Arvernis und damit ein Untertan der Westgoten. In einem seiner erhaltenen Briefe kommt er der Bitte eines Freundes nach und beschreibt den König ausführlich:

Freilich ist es der Mann auch wert, … gekannt zu werden … Sein Körper ist gerade recht, er ist kein Riese von Gestalt, aber doch größer und stattlicher gewachsen als der Durchschnitt. Er hat einen wohlgerundeten Kopf, auf dem sein Lockenhaar von der glatten Stirn zurück auf den Hinterkopf reicht. Der Nacken sitzt nicht schlaff auf den Schultern, sondern steht kraftvoll empor. Buschige Augenbrauen bekrönen die beiden Bogen der Augen. Wenn er aber seine Augenlider senkt, dann reichen die Spitzen der Wimpern fast bis zur Wangenmitte. Ohren und Ohrläppchen werden entsprechend der Sitte seines Volkes von den zurückgekämmten Haaren bedeckt. Die Nase ist edel gekrümmt. Die Lippen sind schmal und werden durch keine Ausdehnung der Mundwinkel vergröbert. Die unterhalb der Nasenlöcher sprossenden Haare werden täglich abgeschnitten … der Bart, wenn er sich in der unteren Gesichtshälfte erhebt, [wird] ständig vom Barbier geschoren … Kinn, Kehle und der nicht fette, sondern kraftstrotzende Hals haben eine milchweiße Haut, die … von jugendlicher Röte übergossen wird; nicht Zorn, sondern ehrfürchtige Scheu bewirken nämlich häufig bei ihm diese Färbung. Die Schultern sind wohlgerundet, die Oberarme muskulös, die Unterarme kräftig, und breit die Hände; der Brustkorb wölbt sich über den zurücktretenden Bauch empor. Zwischen den Rippenbögen unterteilt ein schmales Rückgrat die Rückenpartie. Beide Hüften strotzen vor starken Muskeln. Im gegürteten Leib herrscht Lebenskraft. Fest wie Horn ist der Oberschenkel, der von Gelenk zu Gelenk voll männlicher Kraft erscheint. Seine Knie sind völlig frei von Falten und voller Schönheit. Die Unterschenkel stützen sich auf feste Waden, aber die Füße, die so mächtige Gliedmaßen tragen, sind dennoch zart.

… Vor Tagesbeginn sucht er mit einem ganz kleinen Gefolge die Gemeinschaft seiner Priester auf und betet mit großem Ernst … freilich … mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung … Der Rest des Morgens wird durch die Sorge um die Verwaltung des Reiches bestimmt. Neben dem Thronsessel steht der oberste Waffenträger. Die Schar der in Pelze gekleideten Gefolgsleute … bleibt … aus der unmittelbaren Umgebung verbannt … Unterdessen werden die Gesandten fremder Völker vorgelassen. Der König hört meistens zu, antwortet aber nur wenig … Wenn [eine Sache] rasch besorgt werden soll, treibt er dazu an. Die zweite Stunde ist da. Er erhebt sich vom Thron und hat nun Zeit, seine Schätze oder die Stallungen zu besichtigen.

Der Bischof, eindeutig ein Bewunderer, kommt nun richtig in Fahrt:

Auf der Jagd hält er es für unter seiner königlichen Würde, sich den Bogen umzuhängen. Wenn er … auf einen Vogel oder ein wildes Tier trifft, lässt er sich vom nachfolgenden Diener den Bogen reichen, dessen Saite oder Sehne lose herabhängt … Er fordert Dich vorher auf, das Ziel zu nennen. Du wählst aus, was er treffen soll, und was Du ausgewählt hast, trifft er. Und wenn schon einmal einer von beiden sich irrt, so irrt weniger oft der Schuss des Jägers als der Blick dessen, der das Ziel bestimmt hat.

Wenn man ihm zum Gastmahl folgt, das außer an Festtagen gerade so wie das eines privaten Hauses ist, dann gibt es hier keinen glanzlosen Haufen von verfärbtem altem Silber, den der keuchende Diener auf sich biegenden Tischen auftürmt. Das meiste Gewicht hat das Gespräch, da man bei dieser Gelegenheit entweder nichts oder aber Ernsthaftes redet. Die bequemen Sitzmöbel mit ihrem faltenreichen Überhang sind bald purpurfarben drapiert, bald mit weißem Linnen bespannt; die Speisen begeistern wegen der kunstvollen Art ihrer Zubereitung und nicht deswegen, weil sie an sich so wertvoll wären … Mit einem Wort, man sieht dort griechische Eleganz, gallische Überfülle und italische Spritzigkeit… und königliches Maßhalten … Nach dem Mahle fällt der Mittagsschlaf entweder ganz aus oder ist nur kurz. Zu den Stunden, in denen der König spielen möchte, greift er rasch zu den Würfeln. Er betrachtet sie genau, dreht sie gekonnt, wirft sofort, redet ihnen im Spaß gut zu und wartet geduldig. Bei guten Würfen schweigt er, bei schlechten lacht er … in jedem Fall zeigt er Gleichmut … Manchmal freilich, wenn auch selten, treten beim Abendmahl Schauspieler auf, doch so, dass kein Tischgenosse durch gallige und bissige Bemerkungen beleidigt wird. Man lässt dort weder Wasserorgeln erklingen noch einen Dirigenten ein Chorstück mit lauter Orchesterbegleitung zur Aufführung bringen. Dort macht kein Lautenspieler Musik, kein Flötenbläser, kein Tamburinmädchen und keine Gitarristin, da der König allein jener Musik zugetan ist, durch die Kraft in die Seele und Wohlklang ins Ohr dringen. Wenn er sich von der Tafel erhoben hat, zieht die Wache zuerst beim Schatzgewölbe auf … es [ist] an der Zeit, dass mein Griffel ein Ende finde, weil Du bloß über die Art und Persönlichkeit des Mannes erfahren wolltest, während ich beabsichtige, kein Geschichtswerk, sondern einen Brief zu schreiben. Lebewohl.14

Die Herrschaft Theoderichs II. litt unter den Wechselfällen der Reichspolitik. Im Jahr 455 besuchte Eparchius Avitus, der neu ernannte römische Befehlshaber in Gallien, Tolosa. Während seines Aufenthalts kam die Nachricht, dass Rom zum zweiten Mal geplündert worden sei, diesmal von den Vandalen, und Theoderich nutzte die Gelegenheit, um Avitus zum Kaiser auszurufen. Dann drang er zum ersten Mal auf die Iberische Halbinsel vor und rechtfertigte seine Eroberungen als Rückgewinnung von Reichsland. Seine Ansprüche überzeugten den nächsten Kaiser, Majorian, der von Gibbon als »ein großer und heldenhafter Charakter« beschrieben wird, überhaupt nicht, und wenigstens kurzfristig setzte er mit großer Energie in Gallien wieder die Reichsherrschaft durch.