Mitten im Jungbusch

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Z serii: Lindemanns #43
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Etwas widerwillig blieb er stehen, versuchte jedoch höflich zu sein. „Ja, was möchten Sie denn, Frau Schneider? Ich habe nicht viel Zeit, ich bin mit meiner Verlobten verabredet.“ Er wirkte ungeduldig.

„Gerade darüber möchte ich mit Ihnen reden – über Ihre Verlobte.“

„Was soll das? Was geht Sie meine Verlobte an?“

„Ich befürchte, mehr als Sie glauben!“

„Ich begreife nicht!“ Er blickte sie irritiert an.

„Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Ich komme wegen meiner Schwester Marlene. Sie erwartet ein Kind von Ihnen!“

„Was?“ Er starrte sie fassungslos an. „Ein Kind – von mir?“ Als er sich wieder gefasst hatte, fügte er hinzu: „Das kann überhaupt nicht sein!“

„Wollen Sie damit behaupten, dass zwischen Ihnen und meiner Schwester nichts war?“ Marie ließ nicht locker.

„Nein, – ich meine ja, da war schon was ... Aber nur ein einziges Mal! Da war eigentlich nicht viel, im Grunde gar nichts! Ein Versehen, ein Ausrutscher!“ Er stammelte die Worte vor sich hin.

„Mag ja sein, aber ein Ausrutscher mit Folgen, Herr Brandstetter!“

„Woher wollen Sie überhaupt wissen, dass das Kind von mir ist?“

„Ja, von wem soll es denn sonst sein? Marlene war mit keinem anderen Mann zusammen als mit Ihnen.“

„Dass ich nicht lache! Hat sie das zu Ihnen gesagt?“ Franz Brandstetter grinste Marie hämisch ins Gesicht. „Sie glauben also allen Ernstes, dass ich Marlenes erster Mann war? Fragen Sie Ihre Schwester doch besser etwas genauer! Ich war nicht der erste Mann, Ihre Schwester war nämlich keine Jungfrau mehr, verstehen Sie?“

Marie schaute ihn entsetzt an.

„Ja, jetzt schauen Sie! Vor euch aus dem Jungbusch muss man sich wirklich hüten! Euch ist jedes Mittel recht. So einfach lass ich mir nicht von der ein Kind unterjubeln, da muss sie sich schon einen anderen Dummen suchen. Richten Sie das Ihrer ach so anständigen Schwester aus!“ Und mit diesen Worten ließ Franz Brandstetter die fassungslose Marie einfach stehen.

Marie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Hatte er sie angelogen? Aber er war so überzeugend aufgetreten, so verdammt selbstsicher. Und ihre Schwester? Hatte Marlene ihr die Unwahrheit gesagt? Nein! Dazu kannte sie ihre kleine Schwester zu gut. Das konnte nicht sein. Das würde sie niemals tun. Wie niederträchtig dieser Mann doch war, nur um sich herauszureden, zog er den Ruf ihrer Schwester in den Dreck! Sie würde das ihrer kleinen Schwester gar nicht erzählen. Das alles war schon traurig genug.

Als sie daheim ankam, wartete Marlene schon voller Ungeduld auf sie. „Und, was hat er gesagt? Warum ist er denn nicht gleich mitgekommen? Freut er sich auf unser Kind?“

„Marlene, ich glaube, du machst dir da falsche Hoffnungen. Er wird sich nicht für dich entscheiden. Er wird diese Elisabeth heiraten und er denkt überhaupt nicht daran, seine Meinung zu ändern. Ich habe wirklich alles Mögliche versucht, aber er lässt sich nicht umstimmen.“

„Dann bring ich mich um! Ich will ohne ihn nicht leben!“ Marlene ließ sich auf den Küchenstuhl sinken.

„Jetzt red doch keinen Unsinn! Wir müssen es den Eltern sagen. Sie werden dich schon nicht fressen. Ich gehe mit dir und stehe dir bei.“

„Nein, ich kann es ihnen nicht sagen!“ Marlene schüttelte den Kopf.

„Dann warten wir bis der ‘Lange’ am Wochenende kommt. Carlo soll mit den Eltern reden.“

„Und wenn Carlo noch einmal mit Franz sprechen würde? Die beiden haben sich doch immer gut verstanden?“ Marlene blickte ihre Schwester erwartungsvoll an.

„Mach dir da keine Hoffnungen, ich glaube nicht, dass es etwas nützt.“ Marie schüttelte den Kopf. „Aber wenn es dich beruhigt, dann rede mit Carlo!“

Als der Bruder am Wochenende kam, vertrauten die Schwestern ihm das Geheimnis an. „Marlene, bist du noch zu retten? Wie konntest du das nur tun? Hast du denn allen Ernstes geglaubt, Franz würde dich heiraten, wenn er die Möglichkeit hat, in einen wohlhabenden Geschäftshaushalt einzuheiraten? Das hättest du dir an fünf Fingern abzählen können! Du bist die Tochter eines Sackträgers aus dem Jungbusch, vergiss das nicht! Such dir einen netten Kerl aus der Nachbarschaft, einen, der zu dir passt!“

„Aber ich habe ihn so furchtbar lieb und ich erwarte doch ein Kind von ihm.“

„Ja, und? – Die andere bekommt doch auch ein Kind von ihm. Er kann euch ja nicht beide heiraten, oder? Er wird sich natürlich für die entscheiden, die mehr Geld hat. Und das bist eben nicht du, Marlene. Für dein hübsches Gesicht kann er sich nichts kaufen!“

„Aber Geld ist doch nicht alles, Carlo?“

„Nein, aber es beruhigt. – Und außerdem ist Franz ehrgeizig. Du wärst niemals mit ihm glücklich geworden. Er hätte dich immer spüren lassen, wo du herkommst.“

„Und du willst wirklich nicht doch einmal mit ihm sprechen, nur einmal?“ Sie schaute ihn flehentlich an.

„Marlene, es ist sinnlos, du hast doch von Marie gehört, wie er reagiert hat. Aber wenn du willst, werde ich mit den Eltern reden. Mach dir keine Sorgen, ich krieg das schon hin! Sie werden dir schon nicht den Kopf abreißen. Gleich morgen werde ich mit ihnen sprechen.“ Carlo nahm seine weinende Schwester in den Arm und streichelte ihr übers Haar. „Du musst jetzt tapfer sein, Lenchen. Ich verspreche dir, dass ich dir beistehen werde. Wenn wir alle zusammenhalten, schaffen wir das schon!“

Während Carlo noch an Maries Küchentisch sitzen blieb, um mit seinem Schwager, der gerade heimkam, ein Bier zu trinken, nahm Marlene schweigend ihren abgewetzten braunen Mantel und verließ das Haus. Langsam schritt sie die Hafenstraße entlang auf die Teufelsbrücke zu. Dicke Tränen liefen ihr übers Gesicht. Es war kalt und diesig. Auf dem Wasser des Verbindungskanals bildeten sich kleine Nebelschwaden. Als sie auf der Mitte der Brücke stand, beugte sie sich über das Geländer und blickte hinunter ins dunkle Wasser. Und wenn ich jetzt einfach springe? Es ist doch ganz einfach! Ich muss nur über das Geländer klettern und mich fallen lassen. Und dann ist alles vorbei. Dann habe ich meine Ruhe. Sie ging ein paar Meter weiter an die Stelle, wo ein Eisenpfeiler senkrecht in die Höhe ragte. Dort zog sie sich hoch und kletterte auf das Geländer. Sie setzte sich darauf und ließ ihre Füße hoch über der Wasseroberfläche baumeln. Wenn ich mich jetzt nach vorne fallen lasse, dann ist alles gut. Ich will einfach nicht mehr! Sie stemmte ihre Arme gegen das Geländer, um sich abzustoßen, als sich plötzlich ein kräftiger Arm wie eine eiserne Klammer um ihre Taille legte. „Schön hier geblieben, Kleine. Wer wird denn so was Dummes machen!“

„Lassen Sie mich sofort los!“ schrie sie und versuchte sich aus dem Griff zu befreien.

„Nix da, du gehst da jetzt runter!“ Und ehe sie sich versah, zog er sie mit einem Ruck vom Geländer weg. Durch den Schwung kam auch der Mann ins Straucheln, verlor das Gleichgewicht, und so fielen sie beide ziemlich unsanft auf den Boden der Brücke. Der Mann war schnell wieder auf den Beinen und streckte ihr die Hand hin. „Komm, steh schon auf!“ Marlene reagierte nicht, und so packte er sie an den Armen und zog sie hoch. „Na, ist ja halb so wild. Scheint ja noch alles an dir dran zu sein!“ Sie antwortete nicht und versuchte vergeblich, sich aus seinem Griff zu befreien. „Ich bring dich jetzt nach Hause, damit du nicht noch mehr Dummheiten machst!“, sagte der Mann in bestimmtem Ton.

„Ich will aber nicht! Was fällt Ihnen ein! Lassen Sie mich sofort los!“ Marlene trommelte mit ihrer Faust auf den Arm des Mannes, der sie hinter sich her in Richtung Hafenstraße zog.

„Du bist ja eine ganz schöne Kratzbürste. Aber ich mag Kratzbürsten!“ Er lachte. „Und Kraft hast du auch. Traut man dir auf den ersten Blick gar nicht zu. Aber du solltest jetzt mal langsam aufhören, meinen Arm zu malträtieren!“

„Was fällt Ihnen ein, so mit mir umzugehen! Ich kenne Sie überhaupt nicht!“ Marlene stemmte sich noch immer gegen ihn. Aber ihr Widerstand nutzte nichts. Sie kam gegen seine Kraft nicht an.

„So, und jetzt sag mir, wo du wohnst! Damit ich weiß, wo ich dich abgeben muss!“

„Das geht Sie überhaupt nichts an, Sie unverschämter Kerl! Wer sind Sie überhaupt?“ Der Mann blieb abrupt stehen und schaute sie an, während er weiter ihr Handgelenk mit eisernem Griff festhielt. „Pauli, Alfred Pauli. Da drüben liegt mein Kahn!“ Er schaute hinüber ans andere Ufer des Verbindungskanals. „Und wie heißt du?“

„Das geht Sie überhaupt nichts an!“

„Dafür, dass ich dir gerade das Leben gerettet habe, bist du ganz schön biestig!“

„Niemand hat Sie das geheißen! Was mischen Sie sich überhaupt in meine Angelegenheiten?“

„Ich mische mich gern in die Angelegenheiten schöner Mädchen.“ Er grinste sie an und blickte ihr dabei unbeirrt in die Augen. „Blaue Augen, Himmelssterne, küssen und verführen gerne!“ Er lachte. „Alter Spruch, kennst du den?“

Marlene reagierte nicht, aber zum ersten Mal schaute sie den Mann genauer an. Durch das Licht der Gaslaterne, das von der anderen Straßenseite herüberschien, konnte sie ihn nun erst richtig erkennen. Er trug eine Schiffermütze und eine dicke dunkelblaue Jacke mit großen Knöpfen. Er war etwa Ende zwanzig und nicht sehr viel größer als sie, hatte aber einen stämmigen muskulösen Körperbau und zupackende Hände. Seine dunklen Haare und schwarzen Augenbrauen waren kräftig und seine Gesichtszüge waren energisch. Er wirkte sehr männlich und bestimmt. Für einen Augenblick formten seine schmalen Lippen ein Lächeln. „Du gefällst mir. Du bist wirklich hübsch. Viel zu hübsch, um ins Wasser zu gehen! Wenn ich dich loslasse, versprichst du mir, dass du nach Hause gehst und keine Dummheiten mehr machst?“

Marlene spürte, wie sie selbst gefasster und ihre Gesichtszüge weicher wurden. „Lassen Sie mich los, ich verspreche Ihnen, ich werde nach Hause gehen“, sagte sie ruhig mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln um den Mund.

 

„Ganz bestimmt?“ Er blickte sie fragend an und zog dabei eine Augenbraue hoch.

„Wirklich – ganz bestimmt“, versicherte sie ihm und fügte ein kaum vernehmbares „Danke“ hinzu.

„Also, dann: Gute Nacht! Und pass auf dich auf, Kleine, denn morgen kann ich dich nicht retten, da bin ich bereits wieder auf dem Weg nach Rotterdam.“ Und mit diesen Worten verschwand der Mann in der Dunkelheit.

Am nächsten Tag ging Marlene zusammen mit Carlo und Marie zu den Eltern, um ihnen zu eröffnen, dass sie im Herbst ein Enkelkind bekommen würden. Luise Legrands Reaktion war – wie erwartet – heftig. Aber Carlo, ihr Lieblingssohn, verstand es, sie zu beschwichtigen. Und als ihr Mann sie dann daran erinnerte, dass auch sie eine uneheliche Tochter mit in die Ehe gebracht hatte und darum doch eigentlich mehr Verständnis für Marlenes Situation haben müsse, gab sie schließlich Ruhe. Aber die Beziehung zwischen Mutter und Tochter war damit endgültig auf einem Tiefpunkt.

Eine Verbündete fand Marlene während dieser Zeit in Marie. Es war, als hätten sich die Schwestern abgesprochen, denn Anfang März eröffnete Marie ihr, dass auch sie ein Kind bekäme. Und so trugen die beiden Schwestern in den nächsten Monaten ihre immer runder werdenden Bäuche gemeinsam durch den Jungbusch.

Marlene brachte im Oktober ein Mädchen zur Welt, das sie Annerose nannte. Maries Tochter Betty wurde im November geboren. Und so wurde Luise Legrand innerhalb eines Monats zweifache Großmutter und die kleine Rosemarie war mit zehn Jahren Tante und durfte ab diesem Moment ihre beiden kleinen Nichten hüten, wenn ihre Mütter im Hafen die Lagerhallen putzten.

4

Es war ein schöner Apriltag, als Luise Legrand ihre Tochter zum Einkaufen schickte. „Marlene, geh mal rüber zur Schlosser-Oma und hol ein Pfund Gelberüben und ein Peterle! Das hab ich vorhin vergessen.“ Sie drückte ihr ein paar Pfennige in die Hand. Oma Schlosser hatte seit vielen Jahren ihr Kolonialwarengeschäft in der Hafenstraße, ein paar Häuser neben ihnen, in dem sie neben Reis, Tabak, Gewürzen und Tee, die von weit her aus den Kolonien kamen, auch Obst und Gemüse verkaufte. Marlene lief beschwingt die Treppe hinunter.

Das schlimme letzte Jahr war überwunden. Ihr kleines Mädchen war gesund und machte ihr viel Freude. Das Verhältnis zu ihrer Mutter besserte sich auch nach und nach und ihr Vater liebte sein Enkelkind abgöttisch. Er hatte die kleine Annerose sogleich in sein Herz geschlossen. Für ihn war sie sein Kind und darum hatte er Marlene untersagt, auch nur eine müde Mark von Franz Brandstetter, dem leiblichen Vater, zu nehmen. „Der soll sich bloß nicht hierher wagen, ich schmeiß ihn die Treppe hinunter, wenn er sich hier blicken lässt, dieser eingebildete Fatzke!“

Im Gegensatz zu seinem Sohn Carlo, der zwar auf soziale Gesetze hoffte, aber dennoch glaubte, dass jeder in der Gesellschaft seinen zugewiesenen Platz habe, war Bernhard Legrand für die Aufhebung von Klassenunterschieden. „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ war sein Leitsatz. Er war von Anfang an auch gegen den Krieg gewesen und hatte schon 1914 die Kriegsbegeisterung vieler Deutscher und auch seiner eigenen Partei nicht teilen können. In dieser Frage hatte er sich immer mehr von der SPD entfernt. Als dann 1919 Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet wurden, war er in die Kommunistische Partei eingetreten und hatte sich endgültig von Friedrich Ebert und den sozialdemokratischen Vorstellungen verabschiedet. Die SPD war ihm zu konservativ-bürgerlich geworden. Und vor allem hatte er dem Reichspräsidenten nie verziehen, dass er kaiserliches Militär gegen die linken Revolutionäre eingesetzt hatte.

In der KPD hatte Bernhard Legrand seine neue politische Heimat gefunden. Da sein ältester Sohn Carlo sich schon sehr früh für Politik interessiert hatte und sich der SPD nahe fühlte, hing bei den Legrands schon seit 1914 bei politischen Diskussionen stets der Haussegen schief. In ihrer Sturheit standen sich Vater und Sohn in nichts nach. Ein wirklich tiefer Graben hatte sich zwischen den beiden jedoch erst aufgetan, als Carlo 1916 seinen Vater um Erlaubnis gebeten hatte, in den Krieg ziehen zu dürfen. Er liebte Pferde über alles und wollte unbedingt zur Kavallerie. „Du bist ja verrückt! Mein Sohn geht nicht in diesen unseligen Krieg. Ich verbiete dir, dich freiwillig zu melden!“, hatte Bernhard Legrand seinen Ältesten angebrüllt. Da Carlo zu diesem Zeitpunkt erst 17 war, brauchte er die schriftliche Erlaubnis seines Vaters, wenn er einrücken wollte. Doch dieser dachte überhaupt nicht daran, sie ihm zu geben. Aber Carlo gab sich damit nicht zufrieden, sondern holte sich die notwendige Unterschrift beim Vater seines Vaters und ging zum Militär.

Franz Legrand, Carlos Großvater und sein Vorbild, war seit Jahrzehnten in der SPD und um 1870 Bürgermeister von Neudenau im Odenwald gewesen. Der alte Mann, der sich mit seinem Sohn Bernhard zerstritten hatte, weil er dessen kommunistisches Gedankengut nicht akzeptieren wollte und in ihm einen Verräter an den sozialdemokratischen Grundsätzen sah, hatte sich nur zu gerne mit seinem Enkel verbündet. Diese parteipolitische Allianz zwischen Großvater und Enkel hatte jedoch beinahe zur endgültigen Entzweiung von Vater und Sohn geführt. Allerdings hatten die Erfahrungen, die Carlo an der Westfront machte, ihn von seiner Begeisterung für den Krieg kuriert und insgeheim musste er seinem Vater in vielem Recht geben. Marlene hingegen interessierte sich kaum für Politik, aber aus verständlichen Gründen sagten ihr die Parolen ihres Vaters mehr zu und deshalb fühlte sie sich im Zweifelsfall eher als Kommunistin.

Gerade als Marlene in das Kolonialwarengeschäft eintreten wollte, kam ihr jemand schnell mit aufgetürmten Gemüsekisten entgegen. Sie konnte nicht sofort ausweichen und stieß mit dem Mann zusammen. Dadurch fielen die obersten Stapel herunter und Äpfel, Zwiebel und Tomaten kullerten auf dem Bürgersteig bunt durcheinander in Richtung Straßengraben. Sie bückte sich und lief dem Obst und Gemüse hinterher. Der Mann, mit dem sie zusammenstieß, hatte dasselbe getan. Als sie zufällig nach derselben Tomate griffen, schauten sie beide gleichzeitig hoch und begannen zu lachen. Der Mann nahm sie an der Hand und stand mit ihr auf.

„Das ist ja meine kleine Kratzbürste mit den Augen wie Himmelssterne!“ Ein breites Lachen überzog sein Gesicht.

„Herr Pauli, Alfred Pauli?“ sagte sie zögerlich.

„Du hast ein gutes Gedächtnis, das ist doch jetzt schon über ein Jahr her? Alle Achtung! Aber sag doch einfach Fred zu mir, so nennen mich meine Freunde“

„Gut, Fred! – Tut mir leid, dass ich Ihnen schon wieder Unmut bereite.“

„Aber wieso denn? Wegen der paar Tomaten! Meine Mutter wird den Verlust überleben.“ Er lachte.

„Ihre Mutter?“

„Ja, ich bin der Sohn von Frau Schlosser.“

„Von Oma Schlosser? Aber Sie heißen doch Pauli?“

„Mein Vater hieß Pauli. Kurt Schlosser, das war der zweite Mann meiner Mutter. Aber sie hat sie beide unter die Erde gebracht. Deshalb bin ich auch noch nicht verheiratet. Die Ehe verkürzt das Leben! Und du? Bist du verheiratet?“

Marlene schüttelte den Kopf.

„Das kann ich gar nicht glauben, dass so ein hübsches Mädchen noch zu haben ist. Wie heißt du eigentlich?“

„Marlene. Marlene Legrand.“ Sie schaute etwas verschämt unter sich.

„Dann ist dein Vater Bernhard Legrand, nicht wahr?“

„Sie kennen ihn?“

„Natürlich kenne ich ihn. Er hat so viele Jahre im Hafen gearbeitet und zig Male meinen Kahn gelöscht. Ich habe ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, was macht er denn?“

„Er hat schon vor eineinhalb Jahren seine Arbeit verloren.“ Als sie dies sagte, fiel ihr wieder ein, dass damit eigentlich die ganze Misere angefangen hatte. Denn hätte ihr Vater weiterhin arbeiten können, hätten sie nie untervermietet, dann wäre sie nie Franz Brandstetter begegnet. Ihr ganzes Leben wäre anders verlaufen.

Sie betrachtete Alfred Pauli, der sich gerade eine Gauloises anzündete. „Willst du auch eine?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich rauche nicht.“

„Braves Mädchen! Ich mag keine Frauen, die rauchen! Frauen, die rauchen, taugen nichts! Aber ein Bier kannst du doch trinken, oder?“

„Ein kleines schon.“ Sie lächelte ihn an.

„Hast du heute Abend Zeit? Ich lade dich in die ‘Schifferbörse’ darüben in der Jungbuschstraße ein.“

„Tut mir leid, aber in so eine Kneipe darf ich nicht gehen. Das erlauben meine Eltern nicht.“

„Ach so! Soweit hab ich gar nicht gedacht. Ist ja vielleicht wirklich nicht die geeignete Örtlichkeit für ein anständiges Mädchen. Und wie wär’s, wenn wir in den ‘Drachenfels’, hinten an der Ecke Beil- und Werftstraße gehen? Da isst man auch nicht schlecht, und wenn ich dich so anschaue, denke ich, es würde dir gut tun, wenn du noch ein bisschen was auf die Rippen bekämst – Also was ist? Kommst du?“

Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals ein Mann in eine Wirtschaft eingeladen hatte. Und so nickte sie ihn freudestrahlend an. „Ja, ich komme gerne.“

„Also, dann warte ich hier unten vor dem Laden um sieben auf dich.“

Anstatt in die Wohnung zurückzugehen, klingelte Marlene zuerst bei ihrer Schwester und berichtete ihr alles.

„Und er geht heute Abend mit dir in eine Wirtschaft. Der scheint ja Geld zu haben, als Kapitän kann er sich das natürlich leisten. Und wie ist er sonst?“ forschte Marie.

„Eigentlich nett, vielleicht manchmal ein bisschen grob, aber das macht vielleicht auch sein Beruf.“

„Na ja, auch wenn er Kapitän ist, den besten Ruf haben die Schiffer ja nicht gerade. Und wenn er aus der ersten Ehe von Oma Schlosser ist, dann weiß ich auch, wer sein Vater war.“

„Ja, kanntest du ihn?“

Marlene schaute ihre Schwester neugierig an.

„Wenn das stimmt, was die Leute sagen, dann ist sein Vater an der Syphilis gestorben.“

„An der – wie heißt das ... Sy- ...?“ Marlene hatte das Wort noch nie gehört.

„An der Syphilis! – Weißt du wirklich nicht, was das ist?“

Marie blickte ihre Schwester zweifelnd an.

„Nein, aber wenn du es mir nicht sagen willst, kann ich ihn ja heute Abend fragen“, antwortete Marlene treuherzig.

„Du wirst den Teufel tun und ihn fragen. Das, was ich dir gerade gesagt habe, musst du für dich behalten. Das haben die Leute halt erzählt. Ich weiß ja gar nicht, ob das stimmt.“

„Ja, aber, was ist denn jetzt diese Sy-phi-lis?“

„Na ja, das ist eine Geschlechtskrankheit, die Männer bekommen, wenn sie immer wieder zu Huren gehen. Da stecken sie sich dann an und irgendwann sterben sie an der Krankheit.“

„Und daran ist sein Vater gestorben?“ Marlene schaute erschrocken drein.

„Ja, die Leute haben das damals gemunkelt. Aber das hat ja nichts zu sagen. Er scheint ja doch ein anständiger Kerl zu sein, sonst würde er sicher nicht mit einer Frau, die ledig ein Kind hat, ausgehen. Welcher normale Mann macht das schon?“

Marlene blickte betroffen zu Boden und schwieg.

„Marlene, du willst mir jetzt doch nicht sagen, dass du ihm nichts von Annerose erzählt hast?“

Marlene schüttelte zaghaft den Kopf. „Es hat sich einfach nicht ergeben.“

„Du musst es ihm sagen. Gleich heute Abend. Hörst du! Er muss wissen, wo er dran ist. Du kannst ihm das nicht verschweigen!“

„Dann wird das wahrscheinlich das erste und das letzte Mal sein, dass er mich einlädt.“ Marlene verabschiedete sich und stieg die Treppen hoch.

„Na, da bist du ja endlich. Das hat aber lange gedauert. Und wo sind die Gelberüben und das Peterle?“

Marlene erschrak und rannte die Treppe hinunter. Auf Grund der Vorkommnisse hatte sie den eigentlichen Grund ihres Kolonialwarenbesuchs völlig vergessen.

5

Marlene öffnete die Augen und blickte auf den Wecker. Es war halb sieben. Sie war tatsächlich eingeschlafen. Sorgsam strich sie das Kleid zurecht und zupfte an dem weißen Kragen herum. Was für Schuhe sollte sie bloß anziehen? Sie hatte nur zwei Paar wirklich gute. Ein Paar für den Sommer und eins für den Winter. Und jetzt war es Frühling. Sie ging in ihren Hausschlappen zur Abschlusstür hinaus und stieg die Treppe hinauf unters Dach. Hier oben gab es noch eine kleine Mansarde, in die im letzten Sommer eine junge alleinstehende Frau von auswärts eingezogen war, mit der sich Marlene nach und nach angefreundet hatte. Ihre Mutter sah das zwar nicht gerne, aber Marlene hatte sich nicht darum gekümmert. Judith Mendel war eine sehr selbstständige und selbstbewusste junge Frau. Marlene bewunderte sie dafür.

 

„Judith, bist du da?“ Sie legte ihr Ohr an die Tür und hörte ein Geräusch. „Judith, du bist doch da, mach schon auf! Ich bin’s, Marlene!“

„Ja, ich komme ja schon!“ Die Tür öffnete sich und eine dunkelhaarige Frau von Mitte 20 erschien im Türrahmen. Sie hatte ihre Haare an den Seiten mit Kämmen aus Schildpatt zurückgesteckt, was ihre klassischen Gesichtszüge hervorhob und ihr Antlitz noch ausdrucksvoller machte. Sie trug ein geblümtes Kleid, das knapp die Knie bedeckte. An den Füßen hatte sie weiße Schuhe mit Riemchen, die ihre schlanken Fesseln betonten. Obwohl Judith hier unter einfachsten Verhältnissen wohnte, hatte sie etwas Vornehmes, fast schon Aristokratisches. Ihr kleines Zimmer war immer blitzblank – man hätte vom Boden essen können. Vor allem aber achtete Judith sehr auf ihr Äußeres. Sie war groß, hatte eine schöne Figur und wohl geformte Beine. Diese betonte sie, indem sie nie zu lange Kleider und stets elegante Schuhe trug. Diesen Luxus konnte sich Judith Mendel nur leisten, weil sie im Kaufhaus Schmoller in P1 an den Planken in der Schuhabteilung arbeitete. Sie bekam die Schuhe dort billiger, was vor allem auch im Sinne der Kaufhausdirektion war. Sie wollten, dass die Verkäuferinnen stets einen gepflegten Eindruck machten und adrett aussahen.

„Du hast dich ja heute herausgeputzt, Lenchen! Was hast du denn vor?“ Judith begutachtete sie lächelnd.

„Ich habe ein Stelldichein“, antwortete Marlene verlegen und wurde rot dabei.

Die junge Frau betrachtete sie von oben bis unten. „Du siehst wirklich hübsch aus. Bloß deine Schuhe – die willst du doch wohl nicht anlassen!“ Sie lachte.

„Ich weiß, und deshalb komme ich ja auch zu dir.“ Marlene verzog ein wenig ratlos die Mundwinkel. Aber nach kurzem Zögern fuhr sie fort: „Meinst du, du könntest mir ein Paar Schuhe borgen? Es ist nur für heute Abend. Und ich verspreche dir, ich werde auch aufpassen, dass nichts dran kommt. Ehrenwort!“

„Wenn es weiter nichts ist. Komm rein! Lass uns sehen, welche zu deinem Kleid passen.“ Judith kam mit fünf Kartons an. Ein Paar war eleganter als das andere.

„So schöne Schuhe hätte ich auch gerne.“ Marlenes Augen wurden immer größer.

Während Marlene die Schuhe anprobierte, konnte Judith ihre Neugier nicht unterdrücken und begann Marlene auszufragen. „Und mit wem triffst du dich? Kenne ich ihn?“

„Ich glaube nicht. Aber wenn du mir versprichst, niemandem etwas zu verraten, werde ich dir von ihm erzählen.“ Und nun berichtete Marlene ihrer Freundin, dass sie diesen Mann schon über ein Jahr kenne und er ihr auf der Teufelsbrücke begegnet war. Die näheren Umstände dieses Kennenlernens behielt sie allerdings für sich.

„Und was macht er beruflich? Hat er denn Arbeit?“ Judith hörte ihr aufmerksam zu.

„Fred ist Kapitän, er hat einen großen Kahn und ist immer unterwegs. Ich glaube, er ist ganz schön wohlhabend. Er hat mich nämlich in die Wirtschaft eingeladen.“ Marlene strahlte.

„Wie heißt er? – Fred? – Und wie weiter?“ Judith wirkte plötzlich angespannt.

„Fred Pauli heißt er! – Warum? Kennst du ihn?“ Marlene war erstaunt über das Verhalten ihrer Freundin.

„Fred Pauli ist hier? – Hier in Mannheim?“

„Ja, aber jetzt sag schon, woher kennst du ihn?“ Marlene wollte mehr wissen.

„Ach, ist nicht so wichtig!“ Und das Thema wechselnd meinte sie: „Ich finde die eierschalfarbenen Schuhe passen gut, die solltest du anziehen.“

Marlene war im Folgenden so mit den Schuhen und ihrem Spiegelbild beschäftigt, dass sie Judith nicht weiter ausfragte. Als sie sich ein paar Minuten später bedankte und Judith verließ, meinte diese nur: „Ich wünsche dir einen schönen Abend und pass auf dich auf, Lenchen!“

Als die Tür sich schloss, lehnte sich Judith von innen gegen das Türblatt und atmete tief durch. Alfred Pauli, warum musste es ausgerechnet Alfred Pauli sein! Sie holte aus ihrer Handtasche eine Gauloises-Schachtel und zündete sich eine Zigarette an. Sie inhalierte den Rauch so tief, als wolle sie ihn in sich aufsaugen. Vielleicht tat sie das ja gerade deshalb in diesem Augenblick so intensiv, weil Alfred während der Zeit, in der sie mit ihm auf dem Schiff gewesen war, es so gehasst hatte, wenn sie rauchte. Beim Gedanken an die Zeit mit ihm krampfte ihr Magen. Ich hätte Marlene warnen müssen, dachte sie. Aber vielleicht merkt sie es ja auch selbst, was er für ein Mann ist.

Als Marlene in die Wohnung zurückkam, stand ihre Mutter mit Annerose im Arm im Gang. „Um dein Kind kümmerst du dich wohl überhaupt nicht mehr. Wo willst du denn jetzt schon wieder hin?“

„Mutter, du weißt doch genau, dass ich schon seit Monaten nicht mehr weggegangen bin. Ich muss doch auch mal raus.“

„Red’ nicht um den heißen Brei herum! Du gehst mit einem Mann weg. Ich weiß es, Marie hat es mir vorhin gesagt. Lass dich bloß auf nichts ein und komm mir nicht noch einmal mit einem Kind nach Hause, das kann ich dir sagen!“

„Aber Mutter, er ist der Sohn von unserer Nachbarin und er hat mich in den ‘Drachenfels’ eingeladen. Da verkehren nur anständige Leute. Du musst dir keine Sorgen machen!“

„Das sagst du so! Ich kenn dich doch! Wenn dir einer schöne Augen macht, meinst du doch gleich, er will dich heiraten. Dabei wollen sie doch alle nur das Eine.“

Glücklicherweise kam ihr in diesem Moment ihr Vater zur Hilfe. Er war gerade auf dem Abort im Hausgang gewesen, den sich alle Bewohner teilten, und hatte das Gespräch zwischen den Frauen teilweise mitbekommen.

„Was ist denn hier schon wieder los?“ Er schaute seine Frau an und dann Marlene. „Hübsch bist du, Lenchen, gehst du aus?“

Sie nickte, während ihre Mutter antwortete. „Guck doch nur, wie sie sich rausgeputzt hat. Mit solchen Schuhen geht doch keine anständige Frau auf die Straße. Fehlt nur noch, dass sie sich die Röcke so kurz macht wie die da oben und sich vielleicht noch die Haare schneiden lässt!“

„Ich finde, dass Lenchen hübsch aussieht.“ Er lächelte seine Tochter an und zwinkerte ihr zu, sodass es seine Frau nicht sah. „Geh du ruhig, wir passen schon auf Annerose auf!“

„Und ich hab wieder die Bälger am Hals!“ Mit diesen Worten verschwand ihre Mutter mit Annerose in der Küche.

„Wohin gehst du denn, Lenchen?“

Marlene wurde etwas verlegen. „Der Sohn von der Schlosser-Oma hat mich eingeladen. Er hat übrigens gesagt, dass er dich kennt. Er heißt Alfred Pauli. Er erzählte mir, du hättest früher öfters geholfen, seinen Kahn zu entladen.“

Ihr Vater überlegte. „Ein Schiffer also! – Ist das so ein kräftiger Dunkelhaariger?“

„Ja, er ist stark und sieht nicht schlecht aus.“

„Er scheint dir zu gefallen. Ich kenne ihn nur flüchtig, aber wenn es der ist, den ich meine, ist das sein eigener Kahn. Und als Kapitän verdient er gutes Geld. Er ist zwar ein bisschen raubeinig, aber er wäre bestimmt keine schlechte Partie und du wärst versorgt.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Geh du nur, mein Kind, und gräme dich nicht wegen deiner Mutter. Sie meint das nicht so!“

Als sie auf die Straße hinaustrat, stand Alfred Pauli schon da. Er hatte sich an einen Pfosten gelehnt und zog genüsslich an der Zigarette in seinem Mundwinkel. Er musterte Marlene von oben bis unten. „Hübsch siehst du aus! Schöne Schuhe. Nur schade, dass man nicht mehr von deinen Beinen sieht!“ Er lachte.

Sie gingen nebeneinander die Hafenstraße entlang und bogen in die Jungbuschstraße ein. In der Beilstraße/Ecke Böckstraße nahm er plötzlich von hinten ihren Arm und hakte sie ein. Sie spürte, wie sie puterrot anlief. Zum Glück hatten Bäcker Wagner und Metzger Herrmann schon geschlossen, so dass weniger Leute als tagsüber auf der Straße waren. Sie war froh, als sie ein paar Minuten später im ‘Drachenfels’ an einem Tisch saßen.