Mitten im Jungbusch

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Z serii: Lindemanns #43
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Es gab auch Zugewanderte, die keine feste Arbeit gefunden hatten, die aber auch nicht mehr dahin zurückgehen konnten, von wo sie gekommen waren. Sie hielten sich und ihre Familien mit Gelegenheitsarbeiten im Hafen über Wasser. Hier wurden immer mal wieder Lagerarbeiter und Sackträger gebraucht. Auch für sie war es naheliegend, im Jungbusch zu wohnen.

Nach dem Krieg hatten die Legrands gehofft, es würde alles besser werden. Aber diese Hoffnung war enttäuscht worden. Während des Ersten Weltkriegs hatte es sie besonders schlimm getroffen, denn bei einem Fliegerangriff war das Haus, in dem sie lebten, als Einziges in der ganzen Umgebung zerstört worden. Ihre Wohnung im zweiten Stock war ausgebrannt und sie hatten fast alles verloren. Am 29. Juni 1918, morgens um 9.10 Uhr, war die Bombe in die Dalbergstraße 4 eingeschlagen. Das dreistöckige grüne Eckhaus war schwer beschädigt worden. Am schlimmsten war für Marlene gewesen, dass ihre Freundin Elfriede gegenüber auf dem Balkon von einem Splitter getroffen wurde. Sie war auf der Stelle tot gewesen.

Die Legrands hatten Glück im Unglück gehabt. Denn sie waren alle wie durch ein Wunder zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause gewesen. Marlenes jüngere Brüder Gustav und Erich waren schon früh morgens in die Schule und ihr Vater zum Arbeiten in den Mühlau-Hafen gegangen.

Ihre Mutter und sie selbst hatten wahrlich mehr als einen Schutzengel gehabt, denn Luise Legrand hatte – was sie sonst nie tat – an diesem Morgen kurz das Haus verlassen, um beim Bäcker Krämer gegenüber am Luisenring ein Brot zu kaufen. Und Marlene hatte ausnahmsweise ihre kleine Schwester Rosemarie in die K5-Schule begleitet.

So hatten die daheimgebliebenen Legrands den Ersten Weltkrieg unbeschadet überlebt. Und als dann eines Tages noch der älteste Sohn Carlo mit eingefallenen Wangen und leeren Augen vor der Tür gestanden hatte, war ihr Glück fast vollkommen gewesen. Die Franzosen hatten „den Langen“, wie er wegen seiner beachtlichen Größe in der Familie genannt wurde, aus der Gefangenschaft entlassen – magenkrank und mit Hungerödemen an den Beinen. Marlene hatte den schönen Carlo beinahe nicht erkannt, als er so ausgemergelt plötzlich vor ihr stand. Sie hatte geweint, als sie ihren großen Bruder umarmte. Doch nur eines war in diesem Augenblick wichtig: er war wieder zu Hause.

Aber die Zeiten wurden schlechter. Die Deutschen hatten den Krieg verloren und wurden dafür von den Siegermächten abgestraft. Besonders Frankreich nutzte die Gelegenheit, sich beim Versailler Vertrag mit einer besonders harten Haltung für die schmachvolle Niederlage von 1870/71 zu revanchieren.

Die Situation der Menschen war in ganz Europa schwierig, es gab zwar einerseits einen wirtschaftlichen Aufschwung, während dessen viele neue Fabriken entstanden, andererseits gab es ein Heer von kinderreichen Familien und ungelernten Arbeitern und es herrschte eine katastrophale Wohnungsnot, weil alle in die Städte strömten. So hatte sich beispielsweise die Bevölkerungszahl Mannheims seit 1870 von 40.000 auf 220.000 mehr als verfünffacht. Und Deutschland lag durch die hohen Reparationszahlungen, die es zu leisten hatte, am Boden. Es fehlte an allem und eine Besserung war nicht abzusehen.

Die Legrands zogen, nachdem ihr Haus ausgebombt war, ans andere Ende der Dalbergstraße, in die Nummer 31, gegenüber vom „Eis-Bender“. Das war zwar günstig, weil sie nun die großen Eisblöcke für ihren Eisschrank nur noch über die Straße schleppen mussten, aber diese Zweizimmerwohnung war auf Dauer viel zu klein. Obwohl ein Teil der Kinder schon erwachsen war, lebten sie aufgrund der Wohnungsnot noch alle bei den Eltern.

Und so packten sie ein halbes Jahr später erneut ihr Hab und Gut und zogen kurz vor Weihnachten in die Hafenstraße 60. Die Wohnung im vierten Stock bot eine wunderbare Aussicht über die Lagerhallen und den Verbindungskanal hinweg bis zu den großen Schiffen, die im Rhein vor Anker lagen. Allerdings war die Dreizimmerwohnung auch nicht sehr viel größer als die vorige. Aber man durfte nicht wählerisch sein! Zumindest schliefen nun Marlene und ihre beiden Schwestern in dem einen Raum und die drei Brüder in dem anderen.

Glücklicherweise heiratete ihre ältere Schwester Marie im darauf folgenden Jahr den kränkelnden Hermann Schneider und zog mit ihm in ein Zimmer im ersten Stock desselben Hauses.

Die beiden waren ein seltsames Paar. Marie war wahrlich keine Schönheit. Man wusste nicht so recht, nach wem sie kam, denn ihre Mutter Luise Legrand war in ihrer Jugend ein bildschönes Mädchen gewesen, mit schwarzen Augen, dunkelbraunen Haaren und einem wohlproportionierten Körper. Auch ihr Vater Bernhard Legrand war ein stattlicher Mann mit ausdrucksvollen blauen Augen und dunklen Haaren gewesen. Viele hatten sich nach diesem schönen Paar umgedreht. Aber das harte Leben hatte beide schnell altern lassen.

Marie war groß und kräftig, mit hellen Haaren, weißer Haut, groben Gesichtszügen und Glubschaugen, die auf eine Schilddrüsenerkrankung schließen ließen. Hermann Schneider hingegen war schmächtig, darüber hinaus ein Pedant, der die Staubkörner in der Wohnung akribisch suchte und immer etwas zu nörgeln hatte. Vielleicht äußerte sich darin auch nur seine Unzufriedenheit. Als schwächlicher, lungenkranker Mann fand er nur gelegentlich Arbeit und so lebten sie hauptsächlich von dem, was Marie beim Putzen verdiente. Das verschaffte ihm bei Maries Mutter natürlich nicht unbedingt großes Ansehen. Überhaupt neigte insbesondere Luise Legrand dazu, sich in alles einzumischen und immer, wenn ihre Kinder Probleme hatten, die Schuld bei den jeweiligen Partnern zu suchen.

Marlenes großer Bruder Carlo wurde Ende 1919 als Wachtmeister bei der Heidelberger Polizei eingestellt und wohnte dort ab diesem Zeitpunkt. So musste Marlene fortan das Zimmer nur noch mit ihrer kleinen Schwester Rosemarie teilen und Erich und Gustav waren auch nur noch zu zweit. Aber diese „komfortablen“ Wohnverhältnisse sollten nicht lange währen, denn ihr Vater, Bernhard Legrand, verlor im Herbst 1920 seine Arbeit. Er war mittlerweile 50 Jahre alt und es fiel ihm alles andere als leicht, die manchmal bis zu zwei Zentner schweren Säcke über die schmalen, wackeligen Laufbretter an den Schiffen zu schleppen. Und die Lagerhausbesitzer zogen es natürlich vor, junge, kräftige Burschen einzustellen. Sie hatten ja die große Auswahl, denn Arbeitssuchende gab es wie Sand am Meer, oder passender gesagt: wie Kies im Rhein.

Die Legrands mussten sich also etwas einfallen lassen. Um über die Runden zu kommen, beschlossen sie, ein Zimmer zu vermieten. Und so wurden alle vier Geschwister wieder in einen einzigen Raum einquartiert.

Zimmer zu vermieten war angesichts der Wohnungsnot schon seit vielen Jahren gang und gäbe. Und es war auch nichts Anstößiges dabei. Fast die Hälfte der Bevölkerung besserte so ihr Haushaltsgeld auf und sicherte damit das Überleben der Familie. Ganz anders war das vor dem Krieg gewesen, wo es Leute gegeben hatte, die einen oder mehrere ledige Wanderarbeiter in Kost und Logis aufgenommen und oft mit ihnen nicht nur in denselben Räumen gelebt, sondern ihnen auch ihre Betten zur Verfügung gestellt hatten. Und schließlich hatte es sogar Fälle gegeben, wo mehrere Schichtarbeiter sich ein einziges Bett geteilt hatten. Wenn der eine zur Arbeit ging, legte sich der andere in das noch warme Bett. Diese „Schlafgängerei“, wie man es nannte, wurde von bürgerlichen Kreisen als „sittliche Versumpfung“ und „Verwahrlosung“ angesehen und die Regierung hatte mehrmals vergeblich versucht, diese Art der Untervermietung zu reglementieren. Aber die Not ließ vielen keine andere Wahl, auch wenn in manchen Fällen die „Schlafgängerei“ mehr oder minder schwere Folgen hatte – vom noch harmlosen Schweißfußgeruch über Wanzenbefall bis hin zu unerwartetem Kindersegen. Nicht selten geschah es – und das war dann meist noch einer der glücklicheren Fälle –, dass ein „Schlafgänger“ die Tochter des Hauses heiratete, oder besser gesagt, heiraten musste.

Der junge Mann, der schließlich das Zimmer bei den Legrands anmietete, hieß Franz Brandstetter. Er war ein 23-jähriger Angestellter bei Bopp und Reuther und zog im November bei ihnen ein. Und obwohl sich nun sechs Personen zwei Zimmer teilen mussten, taten sie es doch gerne. Schließlich verdankten sie seiner Anwesenheit, dass sie sonntags wieder ein Stück Fleisch auf dem Teller hatten. Franz war ein angenehmer Untermieter. Er zahlte jede Woche pünktlich seine Miete und spielte sogar manchmal mit den beiden Jungs und der kleinen Rosemarie Mensch-ärgere-dich-nicht. Und wenn Carlo, der Älteste der Legrand-Brüder, am Sonntag in seiner schmucken Uniform mit der OEG – der Oberrheinischen Eisenbahngesellschaft – aus Heidelberg kam, unterhielt sich Franz mit ihm über seine Arbeit bei der Polizei.

Am liebsten aber saß Franz mit Marlene zusammen, erzählte und lachte mit ihr. Die hübsche kleine Blondine mit den blitzenden blauen Augen hatte es ihm angetan. Und auch sie hatte sich vom ersten Augenblick an in ihn verguckt. Wenn er sich mit ihr unterhielt, hing sie an seinen Lippen voller Bewunderung. Er war neben ihrem Bruder Carlo der gescheiteste und stattlichste Mann, den sie kannte. Besonders wenn er als Einziger in der ganzen Straße seinen weißen Hemdkragen aus dem Revers blitzen ließ, so dass jeder gleich wusste, dass er ein Angestellter und nicht nur ein kleiner Arbeiter war, imponierte ihr das mächtig – auch wenn er sie manchmal fühlen ließ, dass er eigentlich etwas Besseres war und sich im Jungbusch fehl am Platz fühlte. Dann aber gab es auch wieder Momente, wo er so etwas Unbeschwertes hatte, was sich angenehm von der Schwerblütigkeit, die bei den Legrands meistens vorherrschte, abhob. Aber leider hatte er auch eine Freundin. Sie hieß Elisabeth und wohnte am Messplatz, wo ihr Vater ein gut gehendes Schreibwarengeschäft hatte. Sie kam also aus soliden, gutbürgerlichen Verhältnissen und ihre Eltern waren wohlhabend. Das alles hatte Marlene natürlich nicht zu bieten. Einmal war sie den beiden an einem Sonntagnachmittag begegnet, als sie untergehakt – wie ein altes Ehepaar – die Dammstraße oberhalb des Neckars entlangspazierten. Er hatte die Frauen miteinander bekannt gemacht. Elisabeth schien um einiges älter zu sein als Franz. Sie war mindestens Ende zwanzig. Außerdem hatte sie dicke Brillengläser, eine lange spitze Nase und war rappeldürr. Franz, siehst du nicht, dass ich viel hübscher bin als sie? hatte Marlene gedacht, als sie dem Mädchen die Hand gegeben hatte. Franz hatte das sehr wohl bemerkt und er begann nachts, wenn er nur durch eine Wand von ihr getrennt war, intensiv an sie zu denken. Und Marlene ging es nicht anders.

 

Es war ein Sonntagmorgen im Januar. Marlenes Eltern waren mit der kleinen Rosemarie in der Liebfrauenkirche und ihre Brüder waren in Heidelberg bei Carlo. Franz hatte gerade die Wohnung verlassen und Marlene war in sein Zimmer gegangen, um es aufzuräumen und das Bett zu machen, wie sie es immer tat. Sie öffnete das Fenster und schüttelte das Kopfkissen auf und so hörte sie nicht, wie die Türklinke nach unten gedrückt wurde und hinter ihr jemand den Raum betrat. Als sie die warmen, samtigen Lippen in ihrem Nacken spürte, zuckte sie erst zusammen, dann aber durchlief sie ein wohliger Schauer. Sie drehte sich um und Franz’ Augen betrachteten sie voller Sehnsucht.

„Ich möchte dich küssen, Lenchen.“ Marlene legte ihre Arme um seinen Hals und sie küssten sich zärtlich und voller Hingabe. „Ich begehre dich schon so lange, du bist so ein hübsches Mädchen“, flüsterte er ihr ins Ohr. Er liebt mich, dachte sie, während sie mit ihm in die Kissen sank, endlich hat er gemerkt, dass ich die Richtige für ihn bin.

Als ihre Eltern aus der Kirche zurückkamen, war Franz bereits gegangen und Marlene stand an dem großen Wasserstein in der Küche. Ihre Mutter trat neben sie und schaute in die Spülschüssel. „Du hast ja noch nicht einmal die Kaffeetassen gespült! Du solltest nicht so viel träumen und mit den Gedanken mehr bei der Arbeit sein, Marlene! Was hast du denn die ganze Zeit gemacht?“

„Ach, ich habe mir an meiner Strickweste einen Knopf abgerissen und ihn gleich angenäht“, log sie. Sie hatte genau gewusst, dass ihre Mutter etwas sagen würde und sich darum schon zuvor eine Erklärung zurecht gelegt. Sie würde ihre Liebe zu Franz erst einmal geheim halten. Die Eltern würden es noch früh genug erfahren. Wenn er mich dann erst einmal heiratet, werden wir uns sowieso ein anderes Zimmer suchen und vielleicht können wir uns ja auch irgendwann eine kleine Wohnung leisten ... Marlene war noch nie so glücklich gewesen. Sie würde die Stunden zählen, bis er abends zurückkäme. Wo er jetzt wohl war? Unbehagen stieg in ihr hoch. War er in diesem Augenblick bei Elisabeth? – Vielleicht würde er ihr ja gerade sagen, dass sie sich nicht mehr sehen könnten, weil er ein anderes Mädchen liebe, ein hübsches Mädchen aus dem Jungbusch mit großen blauen Augen und einer Stupsnase! – Ja, das würde er ganz sicher tun. – Und vielleicht würde er ihr ja, wenn er gegen Abend heimkäme, sagen, dass er mit Elisabeth Schluss gemacht habe ...

Sie lag schon zwei Stunden im Bett, ihre Brüder schnarchten um die Wette und die kleine Rosemarie hatte sich an sie gekuschelt. Marlene konnte nicht einschlafen und starrte ruhelos in die Dunkelheit. Wo er bloß blieb? So spät kam Franz doch sonst nie nach Hause!

Gegen Mitternacht hörte sie schließlich, wie jemand die Abschlusstüre öffnete und in den Flur trat. Das konnte nur Franz sein. Sie wäre so gerne aufgestanden und zu ihm hinausgegangen. Aber das war nicht möglich. Ihre Mutter hatte einen leichten Schlaf und wenn sie die beiden mitten in der Nacht im Gang erwischt hätte, wäre der Teufel los gewesen. Aber morgen war ja auch noch ein Tag! Sie würde ihn in der Frühe beim Kaffeetrinken sehen und bestimmt würde sich eine Gelegenheit finden, dass sie miteinander sprechen konnten und vielleicht würde er sie ja auch heimlich küssen?

Das Geräusch einer ins Schloss fallenden Tür weckte sie. Ihre Brüder lagen noch in den Kissen und schliefen fest. Sie befreite sich vorsichtig aus Rosemaries Umarmung und kroch aus dem Bett. Es war kurz nach sechs Uhr und noch dunkel. Schrecklich diese Jahreszeit – eisig kalt und finster! Sie zog ihre Wollsocken an. Die hatte ihr Franz zu Weihnachten geschenkt. Und dann legte sie den großen dicken Wollschal um ihre Schultern.

Als sie in die Küche kam, hantierte ihre Mutter schon am Ofen herum und machte Feuer. „Hier, du kannst gleich mal die Asche ausschütten! – Guten Morgen! – Und dann kannst du den Wasserkessel voll machen und auf den Ofen stellen!“

„Guten Morgen, Mutter!“ Marlene gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Ja, ist schon gut, mach schon!“ Ihre Mutter war wie meistens abweisend, wenn es um Zärtlichkeiten ging. „Und dann kannst du den Tisch decken. Eine Tasse weniger. Franz ist nämlich schon weg.“

„Franz ist schon weg?! Aber – aber warum denn? Er geht doch sonst nie so früh aus dem Haus?“

„Weiß ich doch nicht! Er wird schon seine Gründe haben.“ Luise Legrand zuckte gleichgültig mit den Schultern.

Marlene spürte die Tränen in ihre Augen steigen. Sie schluckte und bekam einen Hustenreiz. Sie konnte kaum noch atmen, rang nach Luft, begann zu husten und konnte nicht mehr damit aufhören.

„Geht das schon wieder los mit deiner Husterei! Das hast du aber in letzter Zeit häufig!“ Ihre Mutter reichte ihr ein altes Taschentuch. „Hier, da kannst du reinspucken! Der Dreck muss raus, nicht runterschlucken!“

Marlene hörte auf ihre Mutter und betrachtete den Auswurf. Er war gelbgrün und ihr tat nach diesem Hustenanfall die Brust weh. Eigentlich hätte sie längst zum Arzt gehen müssen. Aber sie hatte eine höllische Angst davor, dass er sie ins Lungenspital in der Hochuferstraße einweisen würde.

Ihre Freundin Agnes, mit der sie in der Liebfrauenkirche zur Kommunion gegangen war, hatte man dort hingebracht. Der Vater von Agnes arbeitete in der Zuckerraffinerie in der Filsbach, die als das Armenviertel von Mannheim bekannt war. Sie hatte sechs kleine Geschwister und ihre Mutter war jahrelang bettlägerig gewesen, was nicht zuletzt auf die miserablen Lebensumstände zurückzuführen war. Die Familie hatte oft nichts zu essen und auch kein Geld für Brennholz oder Kohlen gehabt. Schließlich war die Mutter mit 32 Jahren gestorben – an der Lungenpest. Da Agnes damals mit ihren gerade mal 13 Jahren die Älteste war, hatte sie die Mutterrolle übernehmen müssen. Aber leider hatte ihr die Mutter nicht nur die Geschwister hinterlassen. Denn zwei Jahre später war auch bei Agnes die Schwindsucht ausgebrochen. Da man fürchtete, sie könne ihre Geschwister anstecken, hatte man sie wie viele andere mit der gleichen Erkrankung in das Lungenhospital eingewiesen, weit draußen vor der Stadt. Da es keinerlei wirksame Behandlungsmethoden gab, bedeutete dies doppeltes Leid: abgeschoben fristeten die Kranken ein armseliges Dasein und warteten auf den Tod – verlassen von allen Menschen, die ihnen je etwas bedeutet hatten.

„Ich fühle mich so elend, Mutter. Darf ich mich noch einmal hinlegen? Mir ist so kalt.“

„Bleibt wieder alles an mir hängen, wie immer!“, klagte die Mutter, während sie die Metallringe mit dem Schürhaken in die runden Öffnungen auf der Oberseite des Ofens schob und sie mit dem Deckel verschloss.

„Geh schon, ich bringe dir einen Tee mit Zwiebelringen, bevor ich zum Putzen gehe, der löst den Schleim. Weck’ gleich deine Schwester und die Jungs!“

Marlene legte sich wieder ins Bett und zog die graue Decke über die Nasenspitze. Und als ihre Geschwister den Raum verlassen hatten, fing sie an zu weinen. Nach einer Weile wischte sie sich die Tränen weg. Heute Abend werde ich ihn bestimmt sehen, versuchte sie sich selbst zu trösten. Wahrscheinlich musste er heute nur früher mit der Arbeit anfangen?

Aber dem war nicht so. Sie sah ihn weder an diesem Abend noch an den beiden folgenden Tagen. Und so wurde ihr klar, dass er ihr aus dem Weg ging.

Als sie am vierten Tag morgens aufstand und in die Küche kam, saßen ihre Eltern bereits am Küchentisch. Sie schauten beide ernst auf einen Brief, der auf der Tischplatte lag.

„Was ist geschehen?“ Marlene schaute von ihrem Vater zu ihrer Mutter: „Ist jemand gestorben?“

„Setz dich zu uns, Lenchen!“ sagte ihr Vater. „Hier, lies selbst!“ Er schob ihr einen Brief hin. Sie faltete das weiße Blatt auf und las: „... kündige ich das Zimmer zum Ende des Monats. Franz Brandstetter. Mannheim, den 26. Januar 1921.“ Marlene hielt den Brief regungslos in den Händen und las den Satz wieder und wieder. „Das kann ich nicht glauben!“ Sie legte das Blatt mit zittrigen Händen zurück in den Umschlag und schob ihn zu ihrem Vater hinüber.

„Ich verstehe das nicht. Ich dachte immer, er fühlt sich bei uns wohl“, meinte die Mutter.

„Vielleicht will er ja heiraten“, erwiderte der Vater. „Das richtige Alter hat er ja. Und ist er nicht auch mit dieser Elisabeth Schröder vom Schreibwarenladen am Messplatz verlobt? Die ist eine gute Partie!“

„Er ist nicht verlobt!“, sagte Marlene bestimmt.

„Und woher willst du das wissen? Das wird er gerade dir auf die Nase binden! Ich denke, dein Vater hat recht mit seiner Vermutung. Da setzt er sich ins gemachte Nest! Davon kann unsereiner doch nur träumen.“

„Aber er darf nicht heiraten!“, seufzte Marlene im Hinausgehen. Ich muss ihn unbedingt sprechen. Das kann er mir doch nicht antun. Jetzt, wo es gerade angefangen hat. Heute Abend werde ich mit ihm reden und wenn es mitten in der Nacht ist!

Und so machte sie es. Sie passte ihn ab, obwohl er wieder erst nach Mitternacht nach Hause kam. Sie erwischte ihn gerade noch, bevor er seine Tür schließen konnte und huschte im letzten Moment in sein Zimmer. „Bist du verrückt, Marlene, wenn deine Eltern das mitbekommen!“ Er schaute beunruhigt zur Tür.

„Das ist mir egal. Sie können es ruhig wissen, schließlich sind wir so gut wie verlobt.“

„Aber was redest du denn da, Marlene! Wir sind doch nicht verlobt.“ Franz schüttelte den Kopf. Marlene ging auf ihn zu und versuchte ihn zu umarmen, aber er machte einen Schritt zurück und wehrte ab. „Lass das!“

„Aber wieso denn, Franz? Ich denke, du liebst mich!“

„Wie kommst du denn darauf? Das habe ich nie gesagt!“

„Aber du hast doch gesagt, dass du mich begehrst und du hast mich geküsst und ich habe mich dir hingegeben. Sag schon, dass du mich liebst! Franz!“ Sie ging erneut auf ihn zu.

„Marlene, da hast du was falsch verstanden. Ich habe dich gern und du bist ein hübsches Mädchen. Aber das, was am Sonntagmorgen war, müssen wir vergessen!“

„Aber wie soll ich das vergessen? Es war doch so schön und wir lieben uns doch!“ Marlene blickte ihn fassungslos an.

„Ja, natürlich war es schön, aber wir hätten es nicht tun dürfen. Ich bin mit Elisabeth verlobt – und ich werde sie heiraten. Sie hat mir am Sonntagnachmittag gesagt, dass sie guter Hoffnung ist. Sie erwartet ein Kind von mir!“

Für einen Augenblick herrschte völlige Stille im Raum. „Nein, sag, dass das nicht wahr ist, Franz!“ Marlene schaute ihn voller Verzweiflung an.

„Doch, es ist wahr! – Ich habe es doch auch nicht gewusst, sonst wäre das ja alles nicht passiert! Aber wir müssen jetzt vernünftig sein, Marlene, und darum ist es am besten, wenn ich so schnell wie möglich ausziehe.“

Marlene verließ wortlos das Zimmer. In den folgenden Tagen ging sie Franz aus dem Weg und er war augenscheinlich ganz froh darüber. Als er am Monatsende auszog, war Marlene fast erleichtert.

3

Marlenes Erleichterung währte nicht lange. „Ich bin schon zwei Wochen über der Zeit. Ich hab so furchtbare Angst!“

Ihre Schwester Marie schaute sie nachdenklich an. „Zwei Wochen sagen noch gar nichts aus, Marlene. Das kommt vor. Das hab ich auch schon gehabt.“

Doch vier Wochen später war Marlene noch immer nicht von ihren Sorgen befreit und so ging sie zu Doktor Goldmann in die Akademiestraße. Er untersuchte sie und schüttelte sorgenvoll den Kopf. „Marlenchen, Marlenchen, was haben wir denn da angestellt? Du bekommst ein Kind. Daran besteht kein Zweifel!“

Noch ehe Doktor Goldmann weitersprechen konnte, war Marlene von der Pritsche gesprungen, hatte ihren Mantel vom Haken gerissen und war die Treppe hinuntergelaufen. Sie rannte vor zum Luisenring und hinüber auf die andere Straßenseite nach E7 ins Löwengärtchen. Unter dem Kriegerdenkmal blieb sie stehen.

„Mein Gott, mein Gott, was soll ich bloß tun? Meine Mutter schlägt mich tot, wenn sie das erfährt. Oder sie schmeißen mich gleich raus. Dieses Mal werden sie mich endgültig verstoßen. Und was wird dann aus mir und meinem Kind? Ich kann es ihnen unmöglich sagen.“ Schluchzend sank sie auf den marmornen Sockel des Denkmals. Das war alles wie ein böser Traum, ein Alptraum!

 

Es war jedoch ein Alptraum, den sie nicht zum ersten Mal erlebte. Wie hatte ihr das nur passieren können? Dieses Mal hätte sie es doch wissen müssen. Hatte sie denn aus der damaligen Situation nichts gelernt? Sie musste sich eingestehen, dass sie das, was damals – kurz nach Kriegsbeginn – passiert war, verdrängt hatte. Aber nicht nur sie hatte es verdrängt, die wenigen, die davon wussten, hatten es ebenfalls totgeschwiegen. Es waren Gedankenfetzen, schreckliche Gefühle, die in ihr hochstiegen. Bruchstücke von Erinnerungen, die sie im hintersten Teil ihres Gehirns vergraben hatte. Bilder, Geräusche und Gerüche, die sich jetzt neu zusammensetzten und eine grauenvolle Szenerie vor ihrem geistigen Auge entstehen ließen. Sie selbst hatte damals überhaupt nicht richtig verstanden, was da eigentlich passiert war. Erst als sie sich jeden Morgen übergeben hatte, war ihre Mutter argwöhnisch geworden und hatte Marlene beobachtet. Und als ihr dann noch aufgefallen war, dass ihre Tochter seit mehr als einem Monat keine Stoffbinden mehr gewaschen hatte, war ein fürchterlicher Verdacht in ihr aufgekeimt. Ohne mit dem Mädchen darüber zu sprechen, war sie mit der sich sträubenden Marlene zu einer Nachbarin gegangen, die sich „mit solchen Dingen“ auskannte. Die Frau hatte den Verdacht bestätigt und da sie sich damit besonders gut auskannte, hatte sie das „Problem“ auch gleich beseitigt – gegen Bezahlung natürlich. Marlene hatte man nicht gefragt.

Alles war ganz schnell gegangen. Sie sah sich mit gespreizten Beinen auf dem harten Küchentisch liegen, spürte den Dampf von heißem Wasser, der aus der Emailleschüssel neben ihrem Körper hochstieg und ihr fast den Atem raubte. Sie hörte das Klappern von Metall und sah etwas, das wie eine lange Stricknadel aussah. Und dann fühlte sie einen Schmerz, einen schier unerträglichen Schmerz, als würde man ihr die Eingeweide aus dem Leib reißen. In ihren Ohren schallte immer wieder dieser langgezogene gellende Schrei, den sie ausgestoßen hatte, und sie fühlte die unnachgiebige Hand ihrer Mutter, die sich auf ihre Lippen presste, um den Schrei zu ersticken. Sie hatte nur noch auf dem Küchentisch dieses kleine, glitschige, krötenartige Ding in einer Blutlache gesehen, dann war das Schicksal gnädig gewesen und hatte ihr das Bewusstsein geraubt.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie daheim im Bett ihrer Mutter. Sie fühlte dicke Binden zwischen ihren Beinen und spürte, wie warmes Blut aus ihrem Körper rann.

„Was hast du dir dabei gedacht, du dummes Ding?“ Ihre Mutter schaute sie mit strenger Miene an. „Das hast du jetzt davon!“

„Aber Mutter, ich weiß doch gar nicht, was ...“, stammelte Marlene mit schwacher Stimme.

„Erzähl mir keinen Unsinn!“ unterbrach sie die Mutter, „ein Kind bekommt man nicht vom Hingucken! Aber ich will auch gar nicht mehr wissen. Lass mich mit dem Zeug zufrieden und erspar mir deine Lügen! Und vor allem, du hältst deinen Mund, hast du mich verstanden! Kein Wort zu niemandem, auch nicht zu deinem Vater, hast du das kapiert! Wenn du auch nur einem Menschen ein Sterbenswörtchen erzählst, dann gnade dir Gott! Ich lasse dich wegbringen und stecke dich in eine Erziehungsanstalt!“ Mit diesen Worten hatte sich die Mutter abgewandt und ihre schluchzende Tochter allein zurückgelassen.

Damals war Marlene gerade vierzehn gewesen und sie hatte nicht wirklich gewusst, was da geschehen war. Sie hatte keine Ahnung davon gehabt, wie Kinder gemacht wurden. Woher auch? Niemand hatte sie jemals aufgeklärt. Und da sie ja mit niemandem darüber sprechen durfte, war es ihr Geheimnis geblieben. Die Angst in der Erziehungsanstalt zu landen, hatte dafür gesorgt, dass sich über ihr Bewusstsein ein Schleier gelegt hatte. – Dieses Mal war jedoch alles anders. In einem Jahr würde sie volljährig sein. Niemand konnte sie mehr in eine Erziehungsanstalt stecken, dafür war sie zu alt.

Schneeflocken fielen vom Himmel. Obwohl sich der Februar schon dem Ende zuneigte, war es noch immer eisig kalt. Marlene putzte sich die Nase und stand auf. Ich kann es meiner Mutter nicht erzählen. Nicht noch einmal! Sie wird mir das nie und nimmer verzeihen. Und wer weiß, was sie dieses Mal mit mir anstellt? – Und wenn ich mich Vater anvertraue? Ihr Vater liebte sie. Marlene war immer sein Liebling gewesen. Aber er hatte ja schon neulich gemutmaßt, dass Franz mit Elisabeth verlobt sei und sie heiraten werde. Wie würde sie vor ihm dastehen, wenn sie sich ihm jetzt offenbarte? Als eine, die sich an einen Mann herangemacht hatte, der schon vergeben war. Unabhängig von der Schande an sich würde ihr Vater auch noch schlecht über sie denken und von ihr enttäuscht sein. „Oh, Gott, nein, was soll ich bloß tun?“ Sie lief den Luisenring entlang. Mittlerweile hatten sich die zunächst vereinzelten Schneeflocken zu einem regelrechten Schneegestöber entwickelt und ein eisiger Wind wehte ihr ins Gesicht. Sie musste stehen bleiben, weil sie keine Luft mehr bekam und sie ein heftiger Hustenreiz quälte. Wieder merkte sie, wie sich Schleim löste. Sie spuckte in den Schnee. Der Auswurf war widerlich. Marlene stellte sich für ein paar Minuten in einen Hauseingang und ruhte sich aus. Es begann zu dämmern und ein Mann ging von Gaslaterne zu Gaslaterne und zündete sie an. Ich muss es Franz sagen, dachte sie, während sie weiter in Richtung Jungbuschstraße lief. Nur, wo würde sie ihn finden? Wo wohnte er, nachdem er bei ihnen ausgezogen war? Vielleicht hatte er ja eine Adresse bei ihren Eltern hinterlassen? Aber wie konnte sie das herausfinden? Ich brauche jemanden, der mir zur Seite steht. Ich muss mit meiner Schwester Marie reden. Sie muss mir einfach helfen und sie weiß ja sowieso schon von meinen Ängsten.

Als Marie die Tür öffnete und ihre Schwester sah, sagte sie nur: „Komm rein! Du brauchst nichts zu sagen. Wenn ich dich sehe, weiß ich, was los ist.“ Kurz darauf saßen die beiden ungleichen Schwestern am Küchentisch und tranken schwarzen Tee. „Willst du es kriegen?“ Marie schaute Marlene besorgt an. „Wenn du es nicht willst, weiß ich jemanden, der dir helfen könnte.“

„Nein, Marie. Ich gehe zu keiner Engelmacherin!“

„Und wovon willst du leben? Wie stellst du dir das vor?“

„Ich muss zuallererst mit Franz reden. Hilfst du mir dabei?“ Sie schaute Marie erwartungsvoll an.

„Wie soll ich dir dabei helfen, Marlene?“

„Wir müssen herausfinden, wo er wohnt, und würdest du vielleicht ...“, Marlene zögerte, „na, könntest du denn nicht mit ihm reden?“

„Ich? Ja aber ...“ Marie fühlte sich sehr unwohl bei der Vorstellung, Franz Brandstetter aufzusuchen.

„Bitte, Marie, du bist meine letzte Hoffnung!“ Marlene schaute ihre Schwester mit flehendem Blick an und Marie spürte, dass sie ihr diese Bitte nicht würde abschlagen können.

Obwohl sich Marie Schneider in den nächsten Tagen überall umhörte, konnte sie Franz Brandstetters neue Adresse nicht herausfinden. Aber sie wusste, dass er immer bis halb sechs Uhr arbeitete und so passte sie ihn eine Woche später nach Werksschluss vor der Pforte von Bopp & Reuther ab. Franz Brandstetter erkannte sie schon von weitem und es schien ihm sichtlich unangenehm zu sein, als sie ihn anredete. „Entschuldigen Sie, Herr Brandstetter, dürfte ich Sie bitte einen Moment sprechen?“