Das Lachen der Yanomami

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Amazonien, 1993

Erst die Laute des Regenwaldes, die an ihre Ohren drangen, verrieten Jayden und Tomas, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Von dem schönen Wald, in dem sie gerade noch über große Pflanzen gestiegen und über Baumwurzeln auf dem Boden gestolpert waren, war nichts mehr zu sehen. Es war, als wäre die Gruppe in eine fremde Welt eingetaucht. Eine abgeholzte Fläche kam zum Vorschein, am Wegesrand standen kleine Baracken und in der Mitte große Maschinen.

»So, Männer, wir sind da«, sagte Luìz stolz.

Worauf konnte man hier stolz sein, fragte sich Jayden und rieb sich das Kinn. Doch er war froh, angekommen zu sein.

»Wir werden euch schnell einarbeiten und schon bald seid ihr auch geschätzte Goldsucher.« Luìz klopfte Tomas auf den Rücken und winkte sie weiter. »Hier drin schlaft ihr. Dort drüben, hinter dem Hügel, ist der Fluss. Dort holen wir unser Trinkwasser und waschen uns. Unsere Arbeit hier dauert noch etwa ein bis zwei Wochen, dann ziehen wir weiter. Ihr könnt euch also überlegen, ob ihr bei der nächsten Grube wieder dabei seid oder ob ihr hier warten wollt, bis Diego kommt und euch euren Anteil gibt. Den Rückflug müsst ihr allerdings selbst bezahlen und Diego das Gold für den Hinweg geben.«

»Wieso müssen wir ihm etwas geben?«, fragte Jayden. Er nahm seinen Rucksack von den Schultern und stellte ihn zwischen seine Füße.

Luìz lachte. »Denkt ihr, Diego schenkt euch den Hinflug? Er hat fünfzehn Gramm Gold bezahlt. Das heißt, ihr müsst mindesten dreißig Gramm verdienen, um hier wegzukommen.« Er lächelte und entblößte dabei einen Goldzahn.

Die ersten Tage bei den Garimpeiros, so wurden die illegalen Goldsucher auch genannt, waren ziemlich anstrengend. Jayden war dafür zuständig, die Goldteppiche, die auf den selbstgebauten Holztreppenstufen liegen blieben, vorsichtig im Wasser auszuspülen. Dafür warf er eine Handvoll Schlamm mit etwas Wasser in einen V-förmigen Trog. Er schüttelte den Trog so stark hin und her, dass Sand und Wasser herausgeschleudert wurden und nur der schwere Goldstaub übrigblieb. Danach wurde das Gold mit Quecksilber vermischt. Das Gold verband sich mit dem Quecksilber. Mit dem Bunsenbrenner wurde dann die Gold-Quecksilber-Legierung erhitzt. Das giftige Quecksilber verdampfte und stieg in die Luft. Jayden wusste nicht, dass das Quecksilber schwerer war als Luft und irgendwann wieder auf die Erde zurückkam. Dabei zerstörte es die Natur und vergiftete das Wasser.

Zwei Monate waren vergangen und Jayden verrichtete seine Arbeit mittlerweile im Schlaf. Während dieser Zeit hatten die Goldsucher mehrmals die Piste gewechselt, immer am Flussufer entlang.

Tomas half beim Baumfällen und beim Verbrennen. Gelegentlich durfte er auch mal den Hochdruckwasserstrahl bedienen, der das Erdreich aufriss. Während Tomas immer mehr Engagement zeigte, verlor Jayden langsam die Lust an der Goldsuche. Seine Arbeit war langweilig. Oft saß er nur herum und wartete, bis Luìz das Zeichen zum Teppichkehren gab. Dann begann er mit seiner Arbeit und schüttelte den Trog. Tomas machte ihm jede Nacht Mut. Er sagte, es gebühre nur wenigen Menschen, das Gold herauszuwaschen, aber Jayden hörte kaum noch zu. Nachts fand er keinen Schlaf, er musste immerzu an Molly und die Kinder denken. Vermissten sie ihren Vater schon? Seine Gedanken kreisten um seine Familie.

Wie jeden Morgen wurde Jayden vom Lärm des Lagers aus seinem leichten Schlaf gerissen. Er gähnte, streckte sich und machte sich langsam zum Flussufer auf. Dort traf er mittlerweile auf weitere Goldsucher. Von Grube zu Grube wurden es mehr. Mit einem kleinen Handtuch, das Luciano täglich wusch, ging Jayden in den Fluss und fuhr sich mit dem kalten Wasser über den Körper. Neben sich hörte er die Männer Portugiesisch sprechen. Sie lachten und Jayden wusste, dass sie über ihn sprachen. Nur wenige konnten hier Englisch oder Französisch. Tomas hatte ebenfalls Schwierigkeiten, sich zu verständigen, obwohl er einige Sätze Portugiesisch sprach.

Während sich die anderen Männer nach dem Frühstück an die Arbeit machten, ging Jayden etwas spazieren. Es war noch Zeit, bis der Goldteppich aufgekehrt werden musste. Schon lange hatte er nicht mehr den Duft des Dschungels in der Nase gehabt oder seine Geräusche gehört. Aber die lauten Motoren und der Ölgestank benebelten seine Sinne.

Jayden schlängelte sich zwischen den hohen Stämme einiger Amazonas-Zedern hindurch. Alte große Bäume streckten ihre Wurzeln aus dem Boden, so dass er oft aufpassen musste, wo er hintrat. Würde hier die nächste Grube sein, fragte er sich stumm und bücke sich, um mit der Hand über eine Wurzel zu streichen.

Ein fremdes Geräusch drang an sein Ohr. Es erinnerte ihn an seine Kinder, Skye und Faith, wie sie damals mit Wasserpistolen durch den Garten gelaufen waren. Ihr wunderbares, fröhliches Lachen hatte seinen Tag erhellt. In solchen Momenten wusste er, warum das Leben so lebenswert war.

Die Neugier ließ ihm keine Ruhe und Jayden beschloss, diesem Geräusch zu folgen. Vorsichtig schob er sich an fremdartigen Pflanzen vorbei, immer auf der Hut, denn welche Pflanzen giftig waren und welche nicht, hätte ihm nur ein Scout sagen können.

Als Jayden die letzten großen Blätter vorsichtig zur Seite schob, blieb ihm die Spucke weg. Die Sonne stand hoch am Himmel und tauchte den Fluss in goldene Diamanten. Sein Blick wanderte zum anderen Ufer. Dort stand eine Gruppe dunkelhäutiger Frauen. Von einigen war nur der Kopf über der Wasseroberfläche zu sehen. Die älteren Frauen trugen drei symmetrische Schmuckstifte in der Unterlippe. Alle trugen eine Art Ponyfrisur. Sie wuschen sich und spritzen sich nass. Die Gruppe hatte Spaß.

Jayden konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Aber wussten sie nicht, dass der Wald und die Tiere gefährlich waren? Er war drauf und dran, hinüberzuschwimmen, als ihm einfiel, dass er mal einen Artikel über die Ureinwohner Brasiliens gelesen hatte. Jayden ging einige Schritte zurück, da stolperte er über eine Wurzel und landete auf dem Boden. Er wollte laut »Aua« rufen, aber dann würden ihn die Frauen hören und wahrscheinlich die Krieger holen. Deshalb biss er sich auf die Unterlippe und stand leise mit einem schmerzenden Fuß auf. Er musste sich den Knöchel verstaucht haben, denn bei jedem Schritt schmerzte es fürchterlich. Jayden musste sich zusammenreißen.

Doch egal was er tat, die Männer würden wieder über ihn reden und ihn als »Mädchen« bezeichnen. Das hatte Tomas Jayden gestern vor dem Einschlafen gesteckt. Die Arbeiter meinten, er mache keine richtige Männerarbeit, denn den Krug schütteln könnten schließlich auch Frauen. Aber was dachten die hart arbeitenden Männer dann über Luciano?

Obwohl er nicht wusste, wo er war, fand Jayden schnell den Weg zurück ins Lager. Es war auch nicht zu verfehlen, denn Lärm und beißender Geruch von Maschinen und Öl hing in der Luft wie der Nebel am Morgen.

Pünktlich stand Jayden an seinem Platz und tat seine Arbeit. Immer unter Beobachtung von Luìz. Manchmal kam dieser ihm so nah, dass Jayden seinen Schweiß riechen konnte, und davon wurde ihm schlecht.

Nachdem er seine Arbeit beendet hatte, setzte sich Jayden in seine Baracke, die er sich mit Tomas, José, Franck und Luciano teilte. Die fünf kleinen Schlafplätze in der Hütte waren so unbequem, dass Jayden schon nach der ersten Nacht einen steifen Rücken gehabt hatte. Eigentlich war ihm nicht bewusst, dass er schon seit Monaten von der Zivilisation getrennt war. Anfangs hatte er geglaubt, dass Tomas und er abends wieder zurück ins Hotel fahren würden, doch die Illusion wurde ihm schnell genommen.

Er fühlte sich unwohl. Jeden Tag die gleiche Arbeit, der gleiche Geruch und die gleichen Menschen. Jayden war sich bewusst, dass ihn die Goldsucher nicht mochten, dann dachte er an seinen Vater und das Versprechen, welches er Jean gab.

Jedes Mal, wenn er einen Helikopter am Himmel sah, pochte sein Herz schneller.

Mehr Goldsucher - im Urwald-, bedeutenden bessere Geschäfte für die Piloten, daher überflogen sie täglich mehrmals den Regenwald.

»Wo warst du heute?«, fragte Tomas leise, als sich alle schlafen gelegt hatten.

Was sollte er seinem Freund sagen? Dass er doch verweichlicht war und sich aus dem Staub gemacht hatte? Oder sollte er ihm die Lüge auftischen, dass er den Dschungel erkundet hatte, um eine neue Stelle für eine Grube zu suchen. Egal was er sagte, Tomas würde ihm beide Varianten sowieso nicht glauben.

»Ich war ...« Jayden holte noch einmal tief Luft. »Ich war im Wald. Am Flussufer habe ich eine Entdeckung gemacht.«

»Aha, und die wäre?« Tomas drehte sich zu Jayden.

Während die beiden sich unterhielten, schnarchten die anderen Goldsucher.

»Ich glaube, nein, ich bin mir sicher, dass ich die brasilianischen Ureinwohner gesehen habe.«

»Nein, das kann nicht sein«, gähnte Tomas. Seine Augen wurden kleiner und er war schon fast eingeschlafen.

»Ich habe mir das bestimmt nicht eingebildet«, murmelte Jayden und drehte sich auf den Rücken.

Am darauf folgenden Morgen verschlief Jayden und wurde von Luìz lautstark geweckt. Dabei standen die anderen Goldsucher um Jaydens Schlafplatz herum und lachten. Gähnend stand er auf und rieb sich die Augen.

»Entschuldigung.« Er kratzte sich am Hinterkopf.

»Alles in Ordnung?«, fragte José, während die anderen sich wieder ihrer Arbeit widmeten.

»Ja, klar.«

»Okay, das ist gut.« José klopfte ihm auf die Schulter. »Dann komm, es gibt genug zu tun.«

»Ja.« Jayden atmete tief durch.

Nachmittags, als die Sonne am höchsten stand, trat Tomas zu Jayden. Sein Hemd war von Schweiß durchtränkt. Schnaufend stemmte er in gebückter Haltung die Hände auf die Knie.

 

»Du, ich hab nochmal über das, was du mir gestern erzählt hast, nachgedacht.«

»Okay«, sagte Jayden und wartete.

»Ich glaube dir.«

»Ach, und warum auf einmal?«

»Ich habe Franck gefragt und der hat mir bestätigt, dass hier im Amazonasgebiet Indianer wohnen.«

Deshalb ist das Goldsuchen illegal, dachte Jayden und musste an die armen Menschen denken, deren Zukunft in ihren Händen lag.

»Führst du mich zu der Stelle, wo du die Indianer gefunden hast?«, fragte Tomas.

»Ich weiß gar nicht mehr genau, wo das war.« Natürlich wusste Jayden den Weg, aber er wollte das Wissen darüber für sich behalten. Es sollte ein Ort der Ruhe bleiben.

»Ach, komm schon.« Tomas legte eine Hand auf Jaydens Schulter. »Ich erzähle es auch keinem.«

Jayden haderte mit sich. Sollte er Tomas doch zu der Stelle bringen, wo er die Indianerfrauen beobachtet hatte? »Na, gut.« Was sollte denn Schlimmes passieren? Tomas war schließlich ein Freund seines Vaters.

Jayden ging, als wäre er nie einen anderen Weg gelaufen. Schnell und bestimmt nahm er jede Kurve, bis er die letzten Blätter der breiten Büsche zur Seite schob und der Fluss in Sicht kam.

Doch was die beiden sahen, verschlug ihnen den Atem.

6

Northumberland, 2014

Am nächsten Morgen setzte ich mich an einen kleinen runden Marmortisch auf der Terrasse hinter dem Hotel. Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf die beigen Betonplatten, und die Vögel zwitscherten eine Frühstücksmelodie. Am Buffet lernte ich einige nette Gäste kennen, die schon seit ein paar Tagen im Hotel wohnten und mir Tipps für den Tag gaben. Als ich an meinen Tisch zurückkam, hatte ich eine Menge Sehenswürdigkeiten in der Tasche.

»Guten Morgen«, sagte eine bekannte Stimme.

Ich erschrak und verschluckte mich an meinem Cappuccino. Als ich zu Husten anfing, spürte ich eine Hand auf dem Rücken. Ich drehte mich um und blickte in die blaugrauen Augen von Christopher. »Oh, guten Morgen.« Ich bat ihn, neben mir Platz zu nehmen.

»Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?« Christopher verschränkte die Arme auf dem Tisch und lächelte mich an.

»Ja, doch, sehr gut.« Kokett strich ich mir eine meiner Korkenzieherlocken aus dem Gesicht.

»Das ist gut, denn heute habe ich mir Zeit genommen, um Ihnen zu helfen. Ich brauche nur einige Informationen von Ihnen.«

»Okay.« Ich war sprachlos.

»Mm.«

»Sag etwas, sag etwas«, flüsterte mir meine innere Stimme zu. »Ein fremder Mann bietet dir seine Hilfe an und du sitzt hier herum und überlegst noch?« Meine Gedanken spielten verrückt.

»Ist alles in Ordnung?« Christopher legte den Kopf schief.

»Oh je, jetzt fragt er schon«, drehten meine Gedanken sich weiter. Warum konnte ich mich jetzt nicht entscheiden? Wollte ich überhaupt, dass mich jemand bei meinem Vorhaben unterstützte? Ich war mir nicht mehr sicher. Allerdings hätte ich mir diese Frage ebenso gut sparen können. Gestern hatte ich die Weichen in der Hand gehabt und nun stellten sie sich von selbst. »Was immer Sie wissen wollen.«

Ich verzog meine Lippen zu einem Lachen.

»Das ist gut. Ich dachte schon, Sie hätten Ihre Meinung geändert.«

»Aber nein.« Ich legte meine Hand auf die Brust und tat so, als hätte ich niemals daran gedacht, meine Meinung zu ändern. »Die Tasche und die Sachen meiner Mutter sind allerdings in meinem Zimmer.«

»Das macht doch nichts. Wir können uns in zwei Stunden an der Bank unter dem Apfelbaum treffen. Sie bringen die Sachen mit und ich schaue, wie ich Ihnen helfen kann.«

»Okay.« Ich nickte.

Zwei Stunden später sah ich mit klopfendem Herzen Christopher am Treffpunkt auf der Bank sitzen.

Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und seinen Kopf in die Wiege seiner Hand gelegt. Ich blieb stehen, um ihn genauer zu betrachten. Er sah wirklich gut aus, so wie er da saß und über den Rasen blickte.

»Hallo, entschuldigen Sie meine Verspätung«, sagte ich und setzte mich neben ihn auf die Bank.

»Kein Problem. Jetzt, da wir zusammen arbeiten, dachte ich, also ich bin Christopher.«

Er reichte mir die Hand.

»Ich bin Andrea.«

»Sehr erfreut. Also, dann zeig mal, was du hast.«

Ich reichte ihm den Karton, den er so behutsam öffnete, als wäre der Inhalt eine Bombe.

»Wunderschön«, sagte er, nachdem er den Umschlag herausgenommen hatte. »Das Briefpapier ist einfach schön. Überhaupt war die Zeit damals ganz anders. Wer zum Teufel schreibt heute noch Liebesbriefe oder Ansichtskarten aus dem Urlaub? Ich muss gestehen, dass ich es selbst auch nicht tue.«

»Lies ihn. Ich würde sagen, dass es nicht gerade ein Liebesbrief ist. Ich glaube, dass meine Mutter zu dem Zeitpunkt ziemlich sauer war.«

»Okay.« Christopher öffnete den Umschlag und nahm den Brief aus dem Kuvert. Dann faltete er ihn auseinander und begann zu lesen.

Angespannt saß ich neben ihm. Meine Hände waren triefend nass. Ich war neugierig auf seine Reaktion. Was würde Christopher über diesen Brief denken?

»Ich muss dir recht geben. Ich glaube, dass deine Mutter verletzt war, vielleicht auch überfordert und deshalb diesen Brief geschrieben hat.«

»Das könnte sein, denn ich war schon geboren. Eigentlich erzählt man dem Partner doch sofort von der freudigen Überraschung, oder?«

»Ja.« Christopher legte seinen Daumen unter das Kinn. »Das mit den Eltern finde ich auch sehr interessant. Wenn ich darf, würde ich den Brief gerne für zwei Tage behalten. Ich recherchiere etwas und in zwei Tagen treffen wir uns zur gleichen Zeit wieder hier unter dem Baum.«

»Okay.« Ich war etwas verwirrt. Was sollte ich in den zwei Tagen machen?

»Entspann dich und genieße die Ruhe«, antwortete Christopher, als hätte er meine Frage gehört. »Erhol dich von dem Stress zu Hause.« Er stand auf, legte mir kurz eine Hand auf die Schulter und verschwand dann.

Zwei Tage vergingen, in denen ich sämtliche Koppeln, Wege und jeden Winkel des Hotelgrundstücks erkundete. Ich hätte mich glatt als Fremdenführerin ausgeben können.

Als ich in dem offenen Geräteschuppen nach einer kleinen Schaufel und einer Hacke Ausschau hielt, spürte ich wieder die Sehnsucht nach meiner Mutter. Wie oft hatte ich sie im Garten mit einer Schaufel erwischt. Sie konnte nicht genug von Blumen bekommen, besonders die Frühblüher hatten es ihr angetan. Immer wieder pflanzte sie neue Zwiebeln und erfreute sich an jedem Halm, der sich aus dem dunklen Gefängnis unter der Erde an die Oberfläche kämpfte.

»Hallo, Miss. Was machen Sie da? Besucher haben da keinen Zutritt«, rief mir jemand zu.

Als ich mich umdrehte, blickte Matthew mich aufgeregt mit großen Augen an.

»Oh, das tut mir leid«, sagte ich und legte die Schaufel zurück aufs Regal.

»Hey, Matthew. Ich mach das schon.« Christopher kam zu uns und schenkte mir einen vertrauten Blick.

Mein Herz schmolz dahin. Was war das? Hegte ich irgendwelche Gefühle für Christopher?

Matthew trat einen Schritt zurück und nickte Christopher zu. Vor wenigen Minuten hatte Matthew noch wie ein Mann gewirkt und nun war er wie ein kleiner Schuljunge, der von seinem Lehrer getadelt wurde.

»Matthew hat recht. Besucher haben hier keinen Zutritt.« Christopher stemmte die Hände in die Hüften.

»Ich weiß.« Ich senkte den Kopf. »Ich kann nicht den ganzen Tag herumsitzen und nichts tun. Die Erinnerungen an meine Mutter und all die Fragen zu meiner Vergangenheit machen mich verrückt. Außerdem kenne ich jetzt schon jeden Winkel dieser Gegend.«

»Na dann, komm mit mir. Ich zeige dir etwas.« Christopher schloss den Schuppen und ging voraus. Wir umrundeten das Hotel und gingen direkt auf das kleine Haus neben der Auffahrt zu.

»Sag mal, was ist das eigentlich für ein Gefühl, mit deiner getrennten Frau unter einem Dach zu leben?«, wollte ich wissen.

»Eigentlich wohne ich nicht mehr im Hotel. Hier drüben ist mein neues Zuhause.« Er deutete mit dem Finger auf das Häuschen. »Es tut schon weh, zu sehen, wie Sophia mit Matthew zusammenlebt. Als hätte es eine gemeinsame Zeit mit mir nie gegeben.«

»Wie bitte?« Ich verschluckte mich fast an meinem eigenen Speichel. »Sophia ist mit dem jungen Matthew zusammen? Sie ist doch bestimmt doppelt so alt wie er.«

»Ja, das könnte hinkommen.« Christopher kratzte sich am Kopf.

Ich merkte, wie unangenehm ihm das Thema war, und beschloss, nicht weiter nachzufragen.

»Aber was soll ich machen? Wenn ich jetzt von hier wegziehe, hat sie gewonnen. Ich möchte ihr das Hotel nicht kampflos überlassen. Was würdest du an meiner Stelle tun?«

»Ich weiß nicht. Ist es denn dein Haus?« Jetzt konnte ich nicht anders, um das Gespräch weiterzuführen.

»Ja. Ich habe es damals gekauft. Wie konnte ich so dumm sein und meine Frau mit ins Grundbuch nehmen?«

»Aber du konntest doch nicht wissen, dass eure Ehe sich so entwickeln würde.«

»Nein. Aber was hätte ich machen sollen?«

Er wirkte verzweifelt. Ich konnte nicht verstehen, warum er mir etwas so Persönliches anvertraute. Schließlich waren wir uns fremd. Anderseits dachte ich an meine eigenen Probleme. Er hatte mir ohne zu zögern seine Hilfe angeboten.

»Ich würde einen Anwalt einschalten, die Scheidung einreichen und den Kaufvertrag des Hauses heraussuchen. Anhand der Unterschrift kann man doch erkennen, wer das Haus gekauft hat. Geht es ihr um das Haus oder ums Geld?«

»Du meinst, ich könnte sie auszahlen?« Christopher zog einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche.

»Ja, vielleicht.« Ich zuckte mit den Achseln.

»Möglicherweise. Sie hängt genau wie ich an dem Haus, aber vielleicht sollte ich einfach nochmal mit ihr reden.«

»Genau. Du solltest deinem Herzen folgen. Es wird dich auf den richtigen Weg bringen.« Als ich den Satz beendet hatte und Christopher in die Augen sah, schämte ich mich in Grund und Boden. Wie konnte ich ihm so etwas sagen. Romantische Schnulze. Wie unangenehm. Ich spürte, wie sich das Blut in meinen Wangen sammelte.

»Komm, ich zeig dir meine kleine Bleibe.« Christopher tat, als hätte er die Röte in meinem Gesicht nicht bemerkt, aber ich wusste, dass er sie gesehen hatte.

Der Flur glich einem Schlauch, der bis zu einer schmalen Treppe ins Obergeschoss führte. Es war dunkel. Christopher knipste das Licht an. Drei Türen führten in verschiedene Räume. Wahrscheinlich Küche, Bad und Wohnzimmer, dachte ich und folgte Christopher, bis wir zusammen im Bad standen.

»Geh du doch schon mal ins Wohnzimmer.« Er deutete zu einer der zwei anderen Türen. Wieder rötete sich mein Kopf wie eine Bombe.

Schnell verschwand ich im Wohnzimmer, das gleichzeitig als Büro diente. Ein großer kirschholzfarbener Schreibtisch aus Mahagoni stand eingezwängt in einer Ecke, was zu schade war, denn dort kam er gar nicht richtig zur Geltung. Außerdem war Christopher nicht gerade der Typ Mann, der die Ordnung liebte. Überall lagen Zettel, Zeichnungen und Fotos herum. Neugierig ging ich hinüber und hob eine der Zeichnungen auf. Es war ein Grundriss des Grundstücks. Das Hotel war darauf eingezeichnet, das Häuschen, in dem ich mich gerade befand, der Schuppen und noch ein weiteres Häuschen am Ende des Grundstücks. Ich hatte es bei meiner Erkundungstour wohl übersehen.

»Was machst du denn da?«

Erschrocken ließ ich die Zeichnung los, die daraufhin leise zu Boden schwebte. »Entschuldigung.« Verlegen fuhr ich mir durchs Haar. »Das wollte ich nicht.«

»Schon gut. Das sind alles Dokumente vom Grundstück und vom Haus. Ich habe hier auch noch irgendwo einen Grundriss des Hauses.« Christopher hob einige Blätter an, legte sie aber gleich wieder auf ihren Platz. »Vielleicht sollte ich erst mal aufräumen.« Er kratzte sich an der Nase.

»Ja, das wäre eine Maßnahme.« Ich lächelte. »Hast du dir den Grundriss denn schon einmal angesehen?«

»Ja, warum?«

»Na ja, ich meine ja nur. Ich habe dieses Haus gar nicht auf dem Grundstück gesehen.« Mit der Hand deutete ich auf das Häuschen, das mir fremd war.

»Ach ja, das Haus ist hinter den hohen Hecken versteckt.«

»Oh, warum das?«

»Keine Ahnung. Ich habe es erst kurz vor dem Kauf auf dem Grundriss entdeckt. Die beiden Bradford-Schwestern haben es uns bei der Führung gar nicht gezeigt und auch nicht erwähnt.«

 

»Und dir kam es nicht eigenartig vor?« Ich runzelte die Stirn.

»Setzen wir uns doch erst einmal.« Christopher wies auf die Couch. Sie schien ziemlich bequem zu sein. »Möchtest du etwas trinken?«

»Ja, gerne. Ein Wasser wäre nett.«

Einen kurzen Moment lang war ich allein und hätte mich am liebsten wieder auf den Schreibtisch gestürzt. Es war einfach zu verlockend für mich.

»Weißt du, ich bin gerade dabei, die vorigen Besitzer dieses Hauses ausfindig zu machen. Ich möchte mehr erfahren, um so Sophia vielleicht aus dem Haus zu bekommen.« Christopher kam mit einem Tablett in der Hand zurück ins Wohnzimmer.

»Und du meinst, das hilft?« Ich nahm das Glas Wasser entgegen.

»Keine Ahnung. Ich weiß so viel, dass der Lord aus welchen Gründen auch immer das Haus an eine Familie Bradford verkauft hat. Es war in deren Familienbesitz, bis wir kamen und es von den Schwestern kauften.«

»Wenn man ein so altes Gebäude verkauft, muss man echte Geldsorgen haben«, sagte ich und trank einen Schluck.

»Das kann ich gar nicht sagen. Ich glaube nicht, dass die Schwestern arm waren. Ich hatte das Gefühl, dass die beiden das Haus unbedingt loswerden wollten.«

»Wirklich? Mm, das ist echt komisch.«

»Aber wie dem auch sei. Jetzt zu dir. Ich wollte dir erzählen, was ich herausgefunden habe.«

»Okay, dann bin ich mal gespannt.« Aufgeregt biss ich mir auf die Unterlippe.

»Es war nicht einfach, aber mit etwas Hilfe von einigen Freunden habe ich herausgefunden, wer Clark Owen wirklich ist.«

Wollte ich es überhaupt wissen? In diesem Moment fragte ich mich, warum ich die Reise nach England überhaupt gemacht hatte. Hier saß ich mit einem fremden Mann in seinem Haus und suchte nach meinen Wurzeln. Vielleicht hatte ich auch einfach nur Angst, dass ich für immer allein sein würde. Ich war Einzelkind. Die Familie mütterlicherseits war schon lange fort. Wenn meine Mutter nicht gestorben wäre, würde ich immer noch glauben, dass mein Vater tot wäre. Was würde passieren, wenn sich Trauer und Wut miteinander verbänden? Ich wusste es nicht.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Christopher. Er hatte seine Hand auf meine Schulter gelegt.

»Mir ist irgendwie schlecht. Ich weiß auch nicht.« Ich legte mir die Hände vor den Bauch.

»Sicher, das ist nur die Aufregung. Es ist auch wirklich interessant. Dein Vater Clark Owen ist Schriftsteller.« Christopher öffnete die Mappe auf seinem Schoß.

»Schriftsteller?« Ich traute meinen Ohren nicht.

»So ist es. Aber er schreibt nicht unter seinem richtigen Namen. Sein Autorenname ist George Preston.«

»George Preston?« Ich kratzte mich an der Stirn. Meine Gedanken fuhren Karussell. Alles begann sich zu drehen wegen der vielen Informationen: Schriftsteller, George Preston, Bücher. Ich liebte Bücher und besonders mochte ich die englischen Autoren, aber dieser Name war mir nicht bekannt.

»Ist er sehr berühmt?«, fragte ich und grub weiter in meinem Kopf.

»Allerdings. Er ist mit jedem Buch auf der Bestsellerliste weit oben. Die Frauen reißen sich um ihn.«

»Okay, ich lese viel, besonders englische Bücher. Komisch.« Ich zuckte mit den Achseln.

»Ich habe hier auch sein neuestes Buch. Es heißt ›Auf der Yacht nach Toronto‹«.

»Das hört sich interessant an.«

»Mich persönlich sprechen die Titel nicht an und auch die Buchcover sind immer schlicht gehalten. Aber wer einmal ein Buch von ihm gelesen hat, weiß, dass nicht die Schale wichtig ist, sondern der Kern.« Christopher legte mir das Buch auf den Tisch.

»Lies es, du wirst es nicht bereuen.« Er zwinkerte mir zu.

»Okay.« Ich nahm es und las den Klappentext. Es war ein Roman über eine junge Journalistin, die zur Hochzeit ihrer Freundin eingeladen war. Deren Vater war ein reicher Mann und lud alle auf eine Yacht ein, die die Hochzeitsgesellschaft nach Toronto bringen sollte. Doch auf der Überfahrt spielten sich mysteriöse Dinge ab. Ein Junge verschwand, und als die erste Leiche gefunden wurde, begann die Journalistin zu recherchieren. Nachdem ich den Klappentext gelesen hatte, nahm ich mir gleich den Prolog vor. Wie hypnotisiert saß ich auf der Couch. Christopher schenkte mir mein leeres Glas wieder voll.

Erst ein Räuspern ließ mich aufblicken.

»Oh, entschuldige. Ich ...«

»Kein Problem. Ich finde den Klappentext auch sehr interessant. Aber ich hatte noch keine Gelegenheit zu lesen. Die Informationen habe ich von Fans, Lesern und dem Verlag.«

»Darf ich mir das Buch ausleihen?«, fragte ich und hielt es fest in meinen Händen.

»Aber natürlich.«

»Das ist schön.«

Schweigen.

»Also, es gibt noch etwas Interessantes. George Preston ist nämlich gerade auf Lesereise und wird auch hier in Northumberland Halt machen. Es ist zwar in Alnwick, aber wieso solltest du dort nicht hin?«

»An welchem Tag soll die Lesung denn sein?«, fragte ich begeistert.

»Ich glaube...«, Christopher blätterte in seinen Unterlagen, »nächste Woche Montag.«

»Das ist ja toll.« Mein Herz begann lauter zu pochen. Der Gedanke daran, dass ich meinen Vater sehen würde, machte mich fast ohnmächtig. Also würde ich doch noch etwas länger in England bleiben, denn eigentlich hatte ich mit dem Gedanken gespielt, nächste Woche wieder nach Hause zu fahren. »Ich werde herausfinden, wie der Bus fährt.«

»Ich kann dir meinen Wagen leihen«, schlug Christopher vor.

»Das ist sehr nett. Aber ich bin noch nie im Linksverkehr gefahren.«

»Kein Problem, dann fahre ich dich hin. Schließlich hat deine Geschichte auch meine Neugier geweckt.«

»Das musst du nicht. Ich möchte nicht, dass du meinetwegen irgendwelche Umstände hast.«

»Ach wo. Ich mach das gerne.« Er winkte ab.

Gegen Abend verabschiedete ich mich von Christopher, um zurück zum Haus zu gehen. Doch meine innere Stimme erinnerte mich an das verborgene Haus hinter der Hecke. Sollte ich einfach mal nachschauen? Es würde mich sicher nicht umbringen und Christopher hatte mir nicht verboten, dort nachzusehen. Ein wenig eigenartig fand ich es trotzdem. Warum zeigte Christopher so viel Interesse, ja fast eine Euphorie, wenn es um meine Geschichte ging und ließ seine eigene links liegen? Ich an seiner Stelle hätte längst einen Abstecher zu der Hütte gemacht. Wer weiß, was man dort im Verborgenen fand?

Bei diesem Gedanken musste ich schmunzeln.

Ich folgte dem schmalen Pfad am Hotel vorbei und fand mich auf der Wiese mit dem Apfelbaum wieder. Entschlossen setzte ich meine Reise über das Grundstück fort. Zu beiden Seiten wurde ich von schönen Rosenbüschen begleitet, die sich bis zu der von Christopher erwähnten Hecke erstreckten. Von hier aus konnte ich nur noch das oberste Stockwerk des Hotels sehen, denn das Grundstück fiel hier ab.

Ein Dorn bohrte sich in meinen Finger. »Aua«, rief ich und legte meinen gestochenen Finger zwischen die Lippen. »So ein Mist.«

Wie sich später herausstellte, gehörte die Pflanze zur Familie der Rosengewächse. Ein Weißdorn oder auch Hagedorn. Ich war zu dicht an der Hecke gegangen und hatte sie unabsichtlich berührt. Immer noch mit meinen Finger beschäftigt, wanderte mein Blick die Hecke entlang.

Hinter dornigem Gestrüpp verborgen, so gut versteckt, dass es fast nicht zu sehen war, stand ein schmiedeeisernes Tor.

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