Imaginate

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Also musste es einen Grund für diese fürchterlichen Themen im Buch geben. In seiner eigenen Welt war es so anders: Auch hier gab es das Böse, doch seine Macht wurde irgendwie von den Balden in Schach gehalten. Die genauen Zusammenhänge kannte auch er nicht. Aber er verwettete seinen Bart darauf, dass dieses Etwas, das zeitweise seinen Geist kontrollierte, sich nur für Raizel interessierte, weil es da dieses Dunkle im Hintergrund ihrer Geschichte gab. Plötzlich war Gilbo klar, was zu tun war: Er musste den anonymen Autor von Imaginate finden. Wer sich solche Dinge ausdachte, der führte nichts Gutes im Schilde. Das konnte allerdings bis morgen warten. Jetzt war es erst mal Zeit für eine Fliegenpilzpfeife.


Ungeduldig drehte Raizel das Streichholzbriefchen in ihrer Hand hin und her: Café am Ende der Welt. Dieser muffige Hinterhof passte zwar recht gut zu ihrer Vorstellung vom Ende der Welt, aber nach Café sah es hier nicht aus. An diesen Ort passte rein gar nichts mit einem feinen französischen Akzent. Sie rief sich in Erinnerung, weshalb sie hier war. Dieser Laurinel könnte sie vielleicht bei ihrer Mission voranbringen, die geheimnisvolle Verbindung zwischen ihrer und der Baldenwelt zu ergründen.

Raizel ging in Gedanken noch mal die Wegbeschreibung durch: Über den Platz am Nachttannenturm vorbei, dem Wegweiser zur Redaktion von Nachrichten aus Nirgendwo folgen, den Utopieweg entlang bis in einen Hinterhof, von dem aus es nicht mehr weiterging. Der Utopieweg endete in einer Sackgasse: Für die Stadtplanung in Baldorg war offenbar ein Pessimist verantwortlich. Hier also sollte sich das Café am Ende der Welt befinden, in dem sie von Laurinel beziehungsweise Dr. Laurens ein paar Antworten einfordern würde.

Und nun stand sie hier im Nichts. Wo ihr Blick auch hinfiel, nur leere Pappkartons und Glasscherben. Und so ein hässliches Rohr mitten auf dem Platz. Ein ziemlich dickes Rohr. An einer Seite waren Sprossen angebracht, die allerdings erst über ihrem Kopf begannen.

Sie musste unwillkürlich daran denken, dass es jetzt ganz praktisch wäre, einem Ortskundigen zu begegnen. Zum Beispiel diesem Typen aus dem Buchladen. Wie hieß der noch mal? Derek? Farik? Nein, Tarik!

»Traust dich wohl nicht, Süße?« Raizel fuhr herum. War ihr stummer Wunsch etwa sofort erhört worden? In dieser Märchenwelt hielt sie das nicht für unwahrscheinlich. Doch nicht Tarik stand ihr nun gegenüber, sondern ein ganz in Schwarz gekleideter Mann, der in ihrer Welt in eine verrauchte Rockerkneipe gepasst hätte. Mal davon abgesehen, dass er zwei Köpfe hatte. Der zweite meldete sich nun zu Wort.

»Jetzt lass die Kleine. Schau doch, wie erschrocken sie aussieht.«

Der erste Kopf antwortete: »Ohh, hat sie etwa Angst? Na dann sollte sie lieber nicht ins Café gehen. Ist nichts für Mädchen.«

Raizel schnaufte empört. »Woher willst du wissen, was für Mädchen gut ist? Du scheinst ja im Umgang mit ihnen nicht sehr bewandert.« Ihre Neugier siegte jedoch, und so fragte sie: »Weißt du, wo sich dieses verdammte Café am Ende der Welt versteckt?«

Der freundlichere Kopf lachte. »Jetzt hat sie es dir aber gegeben, hihi. Na, wo kann es hier schon sein? In einem der Pappkartons? Ne, wer ins Café am Ende der Welt will, muss schwindelfrei sein.«

Raizels Blick folgte dem Rohr in die Höhe. Ganz weit oben konnte sie eine Plattform erahnen.

»Da hoch?«

»Ja«, sagte der eine Kopf. »Der Besitzer Babel ist ein bisschen crazy und hat sich diesen Turm gebaut, um den Wolken näher zu sein. Seine Frau hatte die Idee, ein Café dort einzurichten, und es ist so erfolgreich, dass Babels Turm die meisten Abende von einem unverständlichen Stimmenwirrwarr erfüllt ist.« Raizel schwieg für einen Moment. Wie sollte sie überhaupt mit dem Fuß auf die erste Sprosse gelangen?

»Siehst du, sie hat schon Muffensausen«, meldete sich der freche Kopf. »Hab ich doch gesagt.«

Auf einmal war Raizel fest entschlossen. »Hör auf zu quatschen und mach mir lieber mal eine Räuberleiter.«

»Räuberleiter? Was ist das denn? Und was heißt Räuber?« Raizel blickte ihn verständnislos an. Wusste der etwa nicht, was ein Räuber war? Oder gab es gar hier in Baldorg etwa überhaupt keine? Das wäre allerdings geradezu fantastisch. Sie machte dem Rocker vor, wie er die Hände verschränken sollte, damit sie draufsteigen konnte. Endlich stand sie auf den Sprossen. Mit jedem Schritt hoch zu den Wolken steigerte sich ihr Triumphgefühl – bis sie in etwa zehn Metern Höhe einen Blick in die Tiefe warf und dabei auch noch die wackelnden Köpfe des Typen erblickte, der hinter ihr den Aufstieg angetreten hatte. Raizels Hände verkrampften sich um die nächste Leitersprosse, sie wollte sich am liebsten gar nicht mehr rühren. Jetzt merkte sie auch, wie der ganze Turm im Wind hin und her schwankte. Ihre Hände zitterten mit. Wieso bloß hatte sie sich auf diese Kletteraktion eingelassen?

»Ganz ruhig, du machst das echt gut«, raunte ihr der nette Kopf zu, während der unhöfliche sich schüttelte, aber wenigstens schwieg. »Außerdem kannst du jetzt eh nicht mehr zurück. Dann müsstest du nämlich um mich herumklettern.« Die schmerzliche Logik dieser Worte wirkte Wunder und langsam setzte Raizel erneut einen Fuß über den anderen. Die Zeit verging so langsam, als wären sie schon wieder in ein neues Paralleluniversum eingetaucht. Lediglich die wahlweise bissigen beziehungsweise aufmunternden Kommentare des Rockers unter ihr hielten sie in der Realität. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, zog sie sich mit letzter Kraft auf die Plattform hinauf. Sie hatte es geschafft.

Hier oben war erstaunlich viel Platz, das hatte sie von unten nicht sehen können. Die Stiegen endeten vor einem kleinen Häuschen, und tatsächlich: Café am Ende der Welt stand in schiefen Lettern in einem dunklen Lilaton über dem Eingang geschrieben. Die Türklinke war verschnörkelt und ziegelrot.

»Hättest du die Güte, endlich reinzugehen, damit ich Platz habe und von der Leiter runterkomme?«, grummelte der unhöfliche Kopf und setzte nach: »Die sollten hier nur Stammgäste reinlassen.«

»Jetzt hör aber mal auf zu nörgeln …« Raizel hörte noch, wie sich die zwei Köpfe in die Haare bekamen, als sie die Türklinke drückte und eintrat. Schon im Vorraum duftete es angenehm nach geräuchertem Schinken. Das Halbdunkel des Cafés verstärkte noch das Traumgefühl, das sie schon auf den Stiegen überkommen hatte. Der Holzboden unter den Füßen knackte hingegen ganz realistisch, als sie von der Tür wegtrat, um nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Der Raum mit den Ausmaßen eines geräumigen Wohnzimmers war gut gefüllt mit verschiedenen Märchen- und Fantasiegestalten, die jede in der eigenen Zunge für Raizel unverständlich durcheinander sprachen.

»Babylonisches Sprachgewirr«, sagte der Rocker, der nach ihr den Raum betreten hatte. Er wurde von einer Truppe ähnlich Gekleideter euphorisch empfangen. Daraufhin schien er seinen Freunden von ihrer Begegnung zu erzählen, denn sie blickten interessiert in ihre Richtung. Also verzog sie sich schnell auf die andere Seite des verwinkelten Raumes. Vorbei an Kiefernbänken, die im Zirkel um runde Tische angeordnet und von einem Efeuspross aus der Decke überwuchert waren. Wunderbarerweise kamen die Ranken nicht mit den weinroten Kerzen in Berührung, die auf jedem Holztisch einen wachsenden Wachsfleck hinterließen. In der Ecke stand eine Jukebox, die Musikauswahl erinnerte sie entfernt an Titel aus ihrer eigenen Welt. Die Besucher des Cafés konnten sich zwischen Paint it pink von den Rollenden Lawinen oder Du rauchst so gut von Rammbock entscheiden. Bei dem Titel Strange Feelings musste Raizel unwillkürlich und zu ihrem Leidwesen an Tarik denken. Sie verscheuchte den ungehobelten Typen aus ihrem Kopf.

»Und, welches Lied wählen Sie?«, fragte plötzlich jemand über ihre Schulter hinweg. Noch ehe Raizel sich umdrehte, wusste sie schon, wer dieser Jemand war. Sie hatte ihn also gefunden. Bevor sie sich entscheiden konnte, setzte er nach:

»Es muss ein besonderer Song sein, denn ich werde Sie dazu auf einen Fliederwein einladen.«


Die düsteren Schatten hatten Vermicellis Hinterzimmer verlassen und waren auf dem Weg zum Café am Ende der Welt. Man konnte sie nicht als Gestalten bezeichnen oder gar als Wesen, denn sie hatten keine Seelen. Sie waren nicht einmal düster an sich, nur wurde das Böse gemeinhin als dunkel beschrieben. Sie waren zwar nicht eigentlich böse, es war nur rein gar nichts Gutes an ihnen. Sie waren wie die Antiteilchen zu allem, was die Baldenwelt verkörperte.

Problemlos schwebten die Schatten zur Hintertür des Cafés hinauf, suchten die Küche auf und träufelten eine merkwürdige Substanz in die Flasche Fliederwein, die zum Servieren bereitstand. Ein kleiner Strudel, als Flüssigkeit und Pulver sich trafen. Das war’s, nichts wies mehr auf die Manipulation hin.


Vermicelli schnaufte ungehalten. Dies war ein untypisches Geräusch für Würmer, was bewies, wie aufgebracht er war. Dieser aufgeblasene Laurinel war in seinen Laden spaziert und hatte gefordert, dass er zum künstlerischen Leiter des Theaterstücks ernannt wurde. Sonst würde er seinen Freund, den unbekannten Autor von Imaginate, davon überzeugen, dass das Theaterprojekt seinem Buch schaden würde. Das war doch unerhört! Da holte er ihn auf die Bühne seines Bücherladens und ließ ihn von den Imaginate-Fans feiern – und was war der Dank? Er mischte sich in seine Belange ein.

 

Vermicelli vermutete, dass Laurinel sich ohnehin nur aufspielte. Der gierte dermaßen nach Öffentlichkeit, dass er den Namen des anonymen Superstars sofort an die Zeitung Nachrichten aus Nirgendwo verkaufen würde – unter der Voraussetzung, dass sie eine Titelstory über ihn brachten.

Dieser Pomadenschwätzer hatte zu allem Überfluss auch noch eine Edelloge für sich gefordert. Edelloge? Wie lange war der schon nicht mehr im Theater gewesen? Das war alles altmodischer Kitsch, damit konnte die moderne Welt nichts anfangen. Aber dieser Schnösel würde schon noch merken, wer hier das Sagen hatte.

Vermicellis Bücher meldeten sich zu Wort: Die Goldfolianten wollten abgestaubt werden. »Hach«, seufzte der Roman Die beiden aus Werther, der sich nach einem melancholischen Leser mit gut gefüllten Tränendrüsen sehnte. »Matt«, antwortete eine Anleitung über Schachgrundkenntnisse. Und Vermicelli schwieg und grübelte weiter.


Während die Jukebox Wir sind die Champignons spielte, setzten sie sich an einen der Kieferntische. Der Efeu kitzelte Raizel im Nacken, und ihre Locken drohten sich in der Pflanze zu verhaken. Sie schob die Ranke zur Seite und steckte sich eine der Nüsse in den Mund, die in einer blattförmigen Schale auf dem Tisch angeboten wurden. Sie schmeckten angenehm scharf nach einem ihr unbekannten Gewürz. Als Raizel gerade anfangen wollte, Laurinel auszufragen, kamen zwei wie Gothic-Punks aussehende Cafébesucherinnen an ihren Tisch und baten Laurinel um ein Autogramm. Er machte eine große Show daraus, als er seinen mit Herzchen versehenen Namen auf ihre Bierdeckel setzte, die sie ihm in Ermangelung eines Papierstücks reichten. Eine von ihnen fragte schmachtend:

»Dein Freund, der Autor – Ist er Single?« Laurinel schwieg und lächelte geheimnisvoll, was die zwei Fans augenscheinlich ganz verrückt machte.

»Also, falls er eine Muse sucht, dann soll er im Café am Ende der Welt nach Manele fragen. Ich warte auf ihn.«

»Woher wollt ihr wissen, dass es sich nicht um eine Frau handelt?«, fragte Raizel. Die zwei Belieber schauten für einen Moment irritiert, dann zuckten sie mit den Achseln.

»Das wäre auch okay.«

Die Autogrammjägerinnen gingen mit ihrer Trophäe beglückt an ihren Tisch zurück, behielten ihr Idol aber im Auge und kicherten.

Raizel fragte Laurinel:

»Und, wie ist es so, im Erfolg eines anderen zu baden?« Laurinel reagierte nicht auf ihre Provokation. Er wirkte vielmehr wie ein Sozial­wissenschaftler, der ein Forschungsobjekt studiert.

»Wirklich faszinierend. Die haben keine Ahnung, wer ich bin. Und von einem Tag auf den nächsten bin ich ein Star für sie. Nur weil Vermicelli mich auf der Bühne als Freund des anonymen Autors vorgestellt hat. Das ist doch verrückt! Die Psyche der Belieber, man könnte ein Buch darüber schreiben!«

»Das gibt es schon«, entgegnete Raizel trocken. Sie hatte es in Vermicellis Buchladen auf einem Stapel von Sekundärliteratur liegen sehen.

»Ach«, seufzte Laurinel überrascht und ein wenig enttäuscht. »Wie dem auch sei. Wussten Sie, dass Vermicelli inzwischen mit den Merchandise-Produkten viel mehr verdient als mit den Büchern selbst? Die Fans sind nach jedem noch so kleinen Krümel aus dem Kosmos von Imaginate süchtig.« Wie aufs Stichwort knabberte Laurinel gedankenverloren an einem Keks, den er aus einem roten Stoffbeutel fingerte. Ohne Raizel auch einen anzubieten, wie sie bemerkte.

»Dann kennen Sie den Autor gar nicht wirklich?«, fragte Raizel. Erst jetzt fiel ihr auf, dass Laurinel ebenfalls die Sie-Form verwendet hatte, obwohl die doch laut Manjfee in der Baldenwelt schon lange abgeschafft worden war.

Laurinel setzte wie zuvor bei den Autogrammjägerinnen seinen geheimnisvollen Schweigeblick auf. Sie war hin- und hergerissen: Er hatte eine unmissverständliche Ähnlichkeit mit ihrem hochgeschätzten Dr. Laurens. Zugleich wirkte er in etwa so echt wie ein Dialog aus einer Dokusoap. Raizel überkam ein schlechtes Gewissen, als sie an die Balden dachte. Denen würde es gar nicht gefallen, dass sie sich mit Laurinel traf. Aber sie konnte darauf jetzt keine Rücksicht nehmen. Und auf ihre eigene Sicherheit schon gar nicht. Sie musste nun endlich herausfinden, was es mit Imaginate auf sich hatte. Schon allein deshalb, um am Ende dieses Abenteuers wieder nach Hause zurückkehren zu können. Ihr Magen verkrampfte sich vor Sehnsucht beim Gedanken an Familie und Freunde.

Laurinel musterte sie aufmerksam.

»Einen Penny für Ihre Gedanken«, sagte er. Raizel entschied sich für einen Frontalangriff.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie fordernd. Dann kam sie sich umgehend albern vor, schließlich war sie selbst Laurinels Streichholzmäppchen bis an diesen Ort gefolgt. Allerdings war es bestimmt von Bedeutung, dass dieser Mann so große Ähnlichkeit mit ihrem Literaturprofessor hatte. Deshalb konnte ihr Treffen kein Zufall sein. Außerdem wollten anscheinend alle Bewohner von Baldorg irgend­etwas von ihr. Und wenn es nur ein Autogramm war.

Laurinel grinste arrogant. »Na, na. Jetzt klingen Sie wie eine Laiendarstellerin in einer Liebes­klamotte.« Wie um seine eigenen Worte abzumildern, hob er beschwichtigend die Hand und wurde plötzlich ganz ernst. »Ich werde es Ihnen sagen.« Er machte eine Kunstpause, in der Raizel ihn am liebsten mit einer der scharfen Nüsse attackiert hätte. Er fuhr fort. »Ich möchte Sie warnen. Vor dem Autor. Sie wissen nicht, wer es ist, aber er – oder sie – kennt Sie sehr wohl und ist keinesfalls begeistert davon, dass Sie sich jetzt hier in der Baldenwelt herumtreiben.«

Raizel lief es bei seinen Worten kalt den Rücken hinunter. Ungeduldig wartete sie auf eine Fortsetzung. Unbewusst spielte sie dabei mit den Werbestreichhölzern herum, die sie zum Café geführt hatten.

Ein Lächeln breitete sich über Laurinels Gesicht aus. »Sie haben meinen Hinweis also verstanden. Ich wusste es. Sie sind wirklich eine bemerkenswert aufmerksame …«

Raizel wartete angespannt darauf, dass er den Satz vollendete und ihr damit bestätigte, dass sie sich aus der Menschenwelt kannten. In diesem Moment wurden ihre Getränke an den Tisch gebracht.

»Zwei Fliederwein, bitte sehr«, sagte ein Mann, der mit seinem Vollbart und Bierbauch aussah wie ein alter Seebär. Auf seinem karierten Hemd war in Brusthöhe ein Stoffstreifen mit dem Namen Babel aufgenäht. Dies also war der Mann, der den Wolken nahe sein wollte. Der Fliederwein schimmerte lilafarben und duftete wunderbar nach Spätsommer, der bereits in den Herbst überging. Nicht ablenken lassen, dachte Raizel.

»Chin, chin«, sagte Laurinel und hielt sein Glas in die Höhe. Raizels Glas war bis zum Rand gefüllt, und so behielt sie es im Auge, als sie es vorsichtig zum Anstoßen hob. In dem Moment, als sie es an die Lippen setzen wollte, spürte sie einen Luftzug, etwas zog an ihrer Hand und das Glas lag plötzlich zerbrochen vor ihr auf Tisch und Boden verteilt. Jemand hatte es ihr aus der Hand gestoßen. Dieser Jemand wartete nicht auf ihre Reaktion, sondern lief dem Ausgang entgegen. Es war der Mann von der Mauer, Tarik.

Raizel stand ruckartig auf, denn ihr von Lille Brantock geborgtes waldmeistergrünes T-Shirt war übergossen mit Fliederwein. Sie hörte Laurinel fluchen. Sein Glas war unberührt geblieben, registrierte sie aus den Augenwinkeln. Der Caféinhaber eilte mit einer Serviette herbei, aber Raizel hob abwehrend die Hand. Unentschlossen blickte sie zwischen Laurinel und dem sich entfernenden Tarik hin und her. Beide Männer gaben ihr auf sehr unterschiedliche Weise Rätsel auf und sie konnte sich nicht entscheiden, welches sie als Erstes angehen wollte. Das unangenehm klamme Gefühl, das von ihrer durchnässten Kleidung herrührte, gab den Ausschlag. So lief sie dem Wein­verschütter hinterher, um ihn zur Rede zu stellen.

Im Vorraum des Cafés war es dunkel, nur von der Eingangstür drang ein sachter Schimmer hinein. Raizel hielt kurz inne, damit sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnen konnten. Da wurde ihre Hand plötzlich von jemandem ergriffen, der sich bislang im Schatten verborgen hatte. Ihr stieg ein Geruch von Glut in die Nase. Tarik. Er schien hier auf sie gewartet zu haben. Sanft, aber bestimmt drehte er ihre Hand herum, hielt einen kurzen Moment inne, während er die Innenseite inspizierte. Raizel war zu überrascht, um sich zu wehren. Sachte strich Tarik mit einem Finger über die blasse Narbe, die sie sich als Kind beim Herumtoben zugezogen hatte. Weshalb machte er das, und woher wusste er überhaupt von der Narbe? Dann ließ er ihre Hand abrupt fallen. Sein Verhalten war in etwa so berechenbar wie der Inhalt einer Wundertüte.

»Weshalb hast du mir das Glas aus der Hand geschlagen?«, fragte Raizel fordernd.

Er schien abzuwägen, ob er die Wahrheit sagen sollte. Dann entschied er sich offenbar dagegen und sagte neckend:

»Vielleicht war ich ja eifersüchtig auf dein romantisches Date mit dem Superstar. Freund des anonymen Autors und so weiter.«

»Ja klar. Und dann wirfst du mal eben das Glas um wie ein Kleinkind den Legoturm des Nachbarjungen.«

»Lego? Was ist das?«, fragte Tarik verwirrt.

»Ach, komm schon. Den Vergleich versteht man auch ohne Fachkenntnisse von Spielzeugmarken.«

Lego musste also eins dieser Dinge sein, die sich in der Menschenwelt von allein gebildet hatten und nicht von dem Imaginate-Autor beschrieben worden waren. Im Nachttannenturm hatte Raizel ja von den Balden erfahren, dass die Romanbände nur Impulse gaben, sich die Menschenwelt aber ansonsten von allein weiterentwickelte. Ein Legostein müsste man sein.

Ihre Pupillen hatten sich inzwischen an das Halbdunkel gewöhnt. Tarik musterte sie für einen Moment intensiv, das Glitzern in seinen Augen ließ ihre Haut kribbeln. Sie fühlte sich merkwürdig von diesem Mann angezogen. An ihm war etwas Vertrautes, das sie in dieser fremden Welt so schmerzlich vermisste. Gleichzeitig ahnte sie, dass er ihr Leben noch mehr durcheinanderwirbeln würde und zwar nicht nur auf angenehme Weise. Sie scheuchte diese Gedanken beiseite und fuhr ihn an: »Verfolgst du mich etwa?«

»Würde dir das gefallen?«

»Na klar, ich gehöre zu jener Art Frauen, die es total faszinierend findet, wenn Männer sie mit Wein begießen und dann abhauen.«

Tarik lächelte amüsiert, sagte aber nichts weiter. Damit sie nicht aus Versehen zurücklächelte, stöhnte Raizel laut auf.

»Kannst du jetzt bitte mal aufhören, den geheimnisvollen Typ im Schatten zu spielen? Das geht mir allmählich ganz schön auf die Nerven.«

Tariks Grinsen verstärkte sich nur. Sie würde hier nicht weiterkommen, realisierte Raizel, und dachte wieder an Laurinel und die Informationen, die sie sich von ihm erhoffte.

»Das wird mir hier echt zu blöd. Und jetzt entschuldige mich, ich habe eine Verabredung.«

Raizel drehte sich um und ging wieder ins Café. Nach dem Buchladen ließ sie ihn also nun das zweite Mal stehen. 2:1, dachte sie, und kam sich umgehend albern vor.

Als sie an ihren Platz zurückkehrte, war von Laurinel nichts mehr zu sehen. Es musste im Café am Ende der Welt einen Hinterausgang geben.

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