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Der versiegelte Engel und andere Geschichten

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ELFTES KAPITEL

Wir klopfen an und treten in den Flur. Der Pope selbst läßt uns ein, – er ist ein kleiner, alter Mann, und vorne fehlt ihm ein Zahn. Seine alte Frau macht Licht. Wir stürzen ihnen zu Füßen:

»Rettet uns, laßt uns in die warme Stube ein und versteckt uns bis morgen Abend!«

Der Pope fragt:

»Habt ihr was gestohlen, oder seid ihr einfach durchgebrannt?«

»Nichts haben wir gestohlen; wir sind auf der Flucht vor dem grausamen Grafen Kamenskij und wollen nach der türkischen Stadt Rustschuk, wo nicht wenige von unsern Leuten wohnen. Man wird uns nicht finden, wir haben aber Geld bei uns und wollen Ihnen für das Übernachten einen goldenen Dukaten geben und für das Trauen – drei Dukaten. Wenn Sie es können, trauen Sie uns, sonst werden wir uns in Rustschuk trauen lassen.«

Und jener antwortet:

»Warum sollte ich es nicht können? Ich kann es sehr wohl. Was braucht ihr euer Geld nach Rustschuk zu schleppen? Gebt mir für alles zusammen fünf Dukaten, und ich werde euch gleich hier zusammenkoppeln.«

Arkadij gab ihm die fünf Dukaten, und ich nahm mir die Quamarin-Ohrringe ab und gab sie der Popenfrau.

Der Pope nahm das Geld und sagte:

»Ach, meine Lieben, ich habe schon ganz andere Paare getraut, es ist aber nicht gut, daß ihr von des Grafen Leuten seid. Und wenn ich auch Pope bin, so habe ich doch Angst vor seiner Grausamkeit. Aber ich will es schon machen, komme, was kommen mag. Gebt mir noch einen Dukaten, und wenn auch einen beschnittenen, dazu und versteckt euch.«

Arkadij gibt ihm den sechsten Dukaten, sogar einen guten, und er sagt zu seiner Popenfrau:

»Alte, was stehst du noch da? Gib der Entlaufenen irgendeinen Rock und eine Jacke, denn es ist eine Schande, sie anzuschauen – sie ist ja nackt.« Dann wollte er uns in die Kirche führen und in den Kasten mit Kirchengewändern verstecken. Kaum hatte aber die Popenfrau begonnen, mich hinter dem Vorhang umzukleiden, als an die Türe geklopft wurde.

ZWÖLFTES KAPITEL

Uns beiden standen die Herzen still. Der Pope aber flüstert Arkadij zu:

»Mein Lieber, in den Kasten mit den Kirchengewändern werdet ihr ja jetzt nicht mehr kommen können, schlüpfe aber unter das Federbett.«

Und zu mir spricht er:

»Und du, meine Liebe, komm einmal her.«

Er stellt mich ins Gehäuse der großen Standuhr, sperrte es zu und steckte den Schlüssel in die Tasche. Und dann geht er die Tür aufmachen. Ich höre, daß es viele Menschen sind. Die einen stehen in der Türe, und zweie schauen von außen durchs Fenster herein.

Sieben Mann von den Jägern des Grafen kommen in die Stube; alle haben Mordwaffen und Peitschen in der Hand und Stricke im Gürtel; der achte im langen Wolfspelz und hoher Mütze ist aber der Haushofmeister.

Das Uhrgehäuse, in dem ich stand, war vorne wie ein Gitter durchbrochen und mit altem Tüll bespannt. Durch diesen Tüll konnte ich alles sehen.

Der alte Pope merkt wohl, daß die Sache schlimm steht: er zittert vor dem Haushofmeister, bekreuzigt sich in einemfort und stammelt:

»Ach, meine Lieben, meine Lieben! Ich weiß wohl, was ihr hier sucht, ich stehe vor dem durchlauchtigsten Grafen unschuldig da! Ich bin unschuldig, bei Gott, unschuldig!«

Während er sich aber bekreuzigt, zeigt er immer mit den Fingern über die linke Schulter auf das Uhrgehäuse, in dem ich eingesperrt bin.

– Ich bin verloren! – denke ich mir, wie ich diesen Zauber sehe.

Auch der Haushofmeister verstand den Wink und sagte:

»Uns ist alles bekannt. Gib mal den Schlüssel von dieser Uhr her.«

Der Pope begann wieder mit den Händen zu fuchteln:

»Ach, meine Lieben! Verzeiht, straft mich nicht, ich habe vergessen, wo ich den Schlüssel habe, bei Gott, ich habe es vergessen!«

Und dabei fährt er sich immer mit der Hand über die Tasche.

Der Haushofmeister merkte auch diesen Zauber. Er nahm ihm den Schlüssel aus der Tasche und holte mich aus der Uhr heraus.

»Komm mal heraus, Täubchen,« sagt er mir, »der Täuberich wird sich schon von selbst melden.«

Arkascha meldet sich auch gleich: er wirft das Popenbett von sich und spricht:

»Es ist wohl nichts zu machen, ihr habt gewonnen. Nun könnt ihr mich wieder zurückbringen und den Folterknechten überliefern. Sie aber ist unschuldig: ich habe sie mit Gewalt entführt.«

Dann wendet er sich zum Popen um und spuckt ihm nur ins Gesicht.

Jener aber sagt:

»Meine Lieben, seht ihr, wie er mein Priesteramt und meine Treue beschimpft? Meldet es doch dem durchlauchtigsten Grafen!«

Der Haushofmeister antwortet:

»Hab nur keine Angst: alles wird ihm angerechnet werden!« Und er gibt seinen Leuten den Befehl, mich und Arkadij hinauszuführen.

Wir setzten uns in drei Schlitten: in den vorderen Schlitten kam der gebundene Arkadij mit den Jägern; mich setzte man unter der gleichen Bewachung in den letzten Schlitten, und die Übrigen fuhren in der Mitte.

Als das Volk uns so fahren sah, machte es Platz: alle glaubten, daß es ein Hochzeitszug sei.

DREIZEHNTES KAPITEL

Wir waren sehr bald wieder zu Hause. Als wir in den Hof einfuhren, war vom ersten Schlitten, auf dem man Arkadij gebracht hatte, nichts mehr zu sehen. Man sperrte mich in meine alte Kammer und nahm mich ins Verhör: wie lange ich mit Arkadij allein gewesen sei?

Ich sage ihnen:

»Auch nicht einen Augenblick!«

Das war mir wohl schon so vom Himmel beschieden, daß mich nicht der Geliebte, sondern der Verhaßte bekam. Diesem Schicksal entging ich nicht. Als ich in meine Kammer zurückkehrte und den Kopf in die Kissen vergrub, um mein Unglück zu beweinen, hörte ich von unten furchtbares Stöhnen.

Bei uns war das so eingerichtet: wir Mädchen wohnten im ersten Stock des hölzernen Hauses, unten war aber ein großes, hohes Zimmer, in dem wir singen und tanzen lernten. Oben konnte man alles, was unten vorging, hören. Und der Fürst der Hölle, Satanas, gab den Grausamen den Gedanken ein, Arkadij gerade unter meiner Kammer zu foltern.

Als ich hörte, wie man ihn peinigte … stürzte ich zur Türe, um zu ihm zu laufen … Die Türe war aber verschlossen … Ich wußte selbst nicht, was ich tun wollte … und ich fiel hin … Auf dem Boden ist aber alles noch viel deutlicher zu hören … Und ich habe keinen Nagel und kein Messer, ich habe gar nichts, um mich zu töten … Und ich nahm meinen Zopf, und wickelte ihn mir um den Hals, und ich drehte ihn mir um den Hals, und ich drehte ihn immer fester zusammen … Zuletzt hörte ich nur ein Klingen in den Ohren und sah Kreise vor den Augen, und alles erstarb in mir … Und als ich zum Bewußtsein kam, sah ich mich an einem Ort, den ich gar nicht kannte, in einer großen hellen Stube … Kälber waren um mich her, viele Kälber, mehr als zehn Stück … So freundlich waren sie: das eine nach dem andern kam auf mich zu, schnupperte mit kalten Lippen an meiner Hand, glaubte wohl, das Euter der Mutter zu saugen … Ich war auch darum erwacht, weil das so kitzelte … Ich sehe mich um und frage mich: wo bin ich? Und ich sehe: eine ältere große Frau kommt herein, ist ganz in blaue Leinwand gekleidet, hat ein sauberes Tuch um den Kopf, und das Gesicht ist so freundlich und liebevoll.

Wie die Frau sieht, daß ich zum Bewußtsein gekommen bin, fängt sie freundlich zu sprechen an und erzählt mir, daß ich mich im Kälberstall am Grafenhause befinde … Siehst du, dort stand dieser Stall – erklärte Ljubow Onissimowna, mit der Hand auf den entferntesten Winkel des halbzerfallenen Bretterzaunes zeigend.

VIERZEHNTES KAPITEL

Man hatte sie auf den Viehhof gebracht, weil man glaubte, sie sei verrückt geworden. Geisteskranke Leibeigene, die zum Vieh herabgesunken waren, pflegte man »zwecks Prüfung« auf den Viehhof zu schaffen, denn die Viehwärter, lauter ältere und solide Leute, galten als berufen, Geisteskranke zu beobachten.

Die Frau in blauer Leinwand, bei der Ljubow Onissimowna zu sich kam, hieß Drossida und war sehr gutherzig.

Am Abend – fuhr die Kinderfrau fort – machte sie mir ein Lager aus frischem Haferstroh. Sie zerfaserte es, so daß es so weich wie Daunen war, und sagte mir: »Ich will dir alles eröffnen, Mädchen, komme was kommen mag. Ich bin aber ebenso wie du und habe nicht immer diese blaue Leinwand getragen. Auch ich habe schon ein anderes Leben gesehen. Ich mag daran gar nicht zurückdenken, dir will ich aber nur dieses sagen: gräme dich nicht, daß du auf den Viehhof verbannt worden bist, in der Verbannung ist es viel besser, nimm dich aber vor diesem schrecklichen Placon in acht …«

Und sie holt aus dem Busentuch ein weißes Fläschchen und zeigt es mir.

Ich frage:

»Was ist das?«

Und sie antwortet:

»Trink es nicht: es ist Schnaps. Ich habe mich einmal nicht beherrschen können … gute Menschen hatten es mir gegeben … Jetzt kann ich ohne den Placon gar nicht leben … Du aber enthalte dich, solange du kannst, und verurteile mich nicht, wenn ich ein wenig davon sauge, denn es ist mir gar zu weh ums Herz. Du sollst aber noch einen Trost im Leben erfahren: Gott hat ihn schon von der Tyrannei erlöst …«

Ich schrie auf: »Er ist tot!« und griff mich an die Haare. Ich erkenne meine Haare nicht: ganz weiß sind sie geworden … Was ist das?

Und sie sagt mir:

»Erschrecke nicht, deine Haare sind dort, als man dich aus deinem Zopf befreite, weiß geworden; er aber lebt und ist von der Tyrannei erlöst: der Graf hat ihm eine Gnade erwiesen, die noch niemand erlebt hat. Wenn die Nacht kommt, werde ich dir alles erzählen, jetzt will ich noch ein wenig an meinem Placon saugen … Das Herz brennt mir so …«

Und sie sog solange daran, bis sie einschlief.

Nachts aber, als alle schon schliefen, stand Tantchen Drossida wieder auf, ging, ohne Licht zu machen, ans Fenster, sog wieder am Placon, versteckte ihn und fragte mich leise:

 

»Schläft der Gram oder schläft er nicht?«

Und ich antwortete:

»Der Gram schläft nicht.«

Sie kam an mein Bett und erzählte mir, daß der Graf den Arkadij nach der Züchtigung zu sich berufen und ihm gesagt habe:

»Du mußtest alles durchmachen, was ich für dich festgesetzt hatte. Da du mein Favorit warst, werde ich dir meine Gnade erweisen: morgen stecke ich dich unter die Soldaten. Da du aber meinen Bruder, den durchlauchtigsten Grafen, trotz seiner Pistolen nicht gefürchtet hast, will ich dir den Weg der Ehre eröffnen, – ich will nicht, daß du tiefer als auf der Stufe stehst, auf die du dich selbst mit deinem edlen Geiste gestellt hast. Ich will einen Brief schreiben, daß man dich sofort in den Krieg schickt, und du wirst nicht als gewöhnlicher Soldat, sondern als Sergeant kämpfen. Zeige nun deinen Mut. Und du stehst jetzt nicht mehr unter meinem Willen, sondern unter dem Willen des Zaren.«

»Jetzt hat er es leichter,« sagte Tantchen Drossida, »und hat nichts zu fürchten: jetzt droht ihm nur eine Gefahr: in der Schlacht zu fallen; die Tyrannei des Grafen ist er aber los.«

Ich glaubte ihr jedes Wort und träumte drei Jahre lang jede Nacht von Arkadij Iljitsch, wie er kämpfte.

So vergingen die drei Jahre, und Gott war mir gnädig: man schickte mich nicht mehr ans Theater, sondern ließ mich bei der Tante Drossida im Kälberstall als ihre Gehilfin. Hier hatte ich es gut, und die Frau tat mir sehr leid. Wenn sie nicht allzuviel getrunken hatte, erzählte sie mir nachts Geschichten, und ich hörte ihr gerne zu. Sie konnte sich noch erinnern, wie der alte Graf von seinen eigenen Leuten erstochen worden war. Sein Kammerdiener war der Haupttäter gewesen, – die Leute hatten seine Grausamkeit einfach nicht länger ertragen können. Ich trank aber noch immer nicht und tat mit großer Freude die Arbeit für Tantchen Drossida: die Kälbchen waren mir wie Kinder. Ich hatte sie so lieb, daß, wenn man eines aus dem Stalle nahm, um es für den gräflichen Tisch zu schlachten, ich es beim Abschied bekreuzigte und dann drei Tage lang beweinte. Fürs Theater taugte ich nicht mehr, denn ich konnte nicht mehr richtig die Beine bewegen. Einst hatte ich einen wunderschönen leichten Gang; auf der Flucht mit Arkadij Iljitsch hatte ich mir wohl die Füße erkältet und hatte nicht mehr die einstige Kraft in den Spitzen. Ich kleidete mich in die gleiche blaue Leinwand wie Drossida, und Gott allein weiß, wie ich mein Leben beschlossen hätte. Aber eines Abends bei Sonnenuntergang, wie ich in der Stube sitze und Garn aufwickele, fliegt zum Fenster ein Steinchen herein, und das Steinchen ist in ein Papier eingeschlagen.

FÜNFZEHNTES KAPITEL

Ich schaue hin, ich schaue her, blicke zum Fenster hinaus, – niemand ist da.

»Jemand hat wohl den Stein aus der freien Welt hereingeworfen,« denke ich mir, »hat aber aus Versehen unser Fenster getroffen.« Und ich frage mich: »Soll ich das Papier aufmachen oder nicht?« Es ist wohl besser, daß ich es aufmache, denn es ist sicher etwas darauf geschrieben. Vielleicht eine wichtige Nachricht. Ich kann das Geheimnis für mich behalten und den Stein mit dem Zettel demjenigen zuwerfen, für den er bestimmt ist.

Ich mache das Papier auf, beginne zu lesen, und traue meinen Augen nicht …

SECHZEHNTES KAPITEL

Und ich lese:

»Meine treue Ljuba! Ich war im Kriege, habe für meinen Kaiser gefochten, habe mehr als einmal mein Blut vergossen und bin dafür mit dem Offiziersrang und dem Adel belohnt worden. Jetzt habe ich Urlaub zur Heilung meiner Wunden bekommen und wohne im Gasthofe in der Kanonier-Vorstadt. Morgen lege ich alle meine Orden und Kreuze an, gehe zum Grafen, gebe ihm mein ganzes Geld, die fünfhundert Rubel, die man mir zur Heilung meiner Wunden gegeben hat, und bitte ihn, dich freizulassen, in der Hoffnung, daß wir uns nun vor dem Altar des Höchsten trauen lassen können.«

– Und weiter hieß es in dem Briefe, – fuhr Ljubow Onissimowna mit unterdrückter Erregung fort: »Was aber die Schmach betrifft, die Sie über sich ergehen lassen mußten, so halte ich sie für ein bloßes Unglück und rechne sie Ihnen nicht als Sünde und Schwäche an. Gott allein mag Sie richten, ich aber empfinde Ihnen gegenüber nur Achtung.« Und der Brief ist unterschrieben: »Arkadij Iljin.«

Ljubow Onissimowna verbrannte den Brief sofort im Ofen, sagte keinem Menschen etwas davon, selbst der Alten nicht, und betete die ganze Nacht zu Gott. Sie betete aber nicht für sich, sondern nur für ihn: er war zwar Offizier, mit Wunden und Ehrenzeichen bedeckt, sie konnte sich aber gar nicht denken, daß der Graf ihn anders behandeln würde, als früher.

Sie fürchtete einfach, daß man ihn schlagen würde.

SIEBZEHNTES KAPITEL

Am nächsten Morgen führte Ljubow Onissimowna die Kälbchen in aller Frühe in die Sonne und gab ihnen Milch und eingeweichte Brotrinden. Plötzlich hörte sie draußen, hinter dem Zaune, »in der Freiheit« viele Menschen rennen und laut sprechen.

– Was sie sprachen, – erzählte sie, – hörte ich nicht, aber ihre Worte schnitten mich wie Messer ins Herz. Der Mistführer Philipp kam gerade in den Hof gefahren, und ich fragte ihn:

»Filjuschka, Väterchen, hast du nicht gehört, worüber die Leute draußen sprechen?«

Und er antwortet:

»Sie gehen in die Kanonier-Vorstadt, wo in dieser Nacht der Gastwirt einen schlafenden Offizier erstochen hat. Er hat ihm die Kehle durchschnitten und fünfhundert Rubel von ihm geraubt. Man hat ihn schon ergriffen, er war ganz blutig und hatte noch das ganze Geld bei sich.«

Und wie er mir das sagt, falle ich wie tot zu Boden …

So war es auch: der Wirt hatte meinen Arkadij Iljitsch erstochen … und man beerdigte ihn hier, in diesem selben Grabe, auf dem wir jetzt sitzen … Er liegt jetzt unter uns, in dieser Erde … Darum führe ich ja euch immer hierher spazieren … Ich habe gar keine Lust, dorthin zu schauen (sie zeigte mit der Hand auf die morschen Ruinen des Grafenhauses), möchte nur hier in seiner Nähe sitzen und … einen Tropfen zu seinem Gedächtnis trinken …

ACHTZEHNTES KAPITEL

Ljubow Onissimowna hielt inne – sie war wohl mit ihrer Erzählung zu Ende – und holte aus der Tasche das Fläschchen und sog daran. Ich aber fragte sie:

»Wer hat denn den berühmten Toupetkünstler hier beerdigt?«

»Der Gouverneur, mein Liebling, der Gouverneur war selbst bei der Beerdigung dabei. Wie denn sonst? Er war doch Offizier, und der Geistliche und der Diakon nannten ihn bei der Totenmesse ‚der Edle Arkadij‘. Und als man den Sarg ins Grab versenkte, gaben die Soldaten blinde Schüsse in die Luft ab. Der Gastwirt wurde aber übers Jahr auf dem Iljinka-Platze vom Henker mit der Knute bestraft. Dreiundvierzig Knutenhiebe bekam er wegen Arkadij Iljitsch, blieb aber am Leben und kam mit gebrandmarktem Gesicht nach Sibirien. Alle unsere Leute, die gerade frei hatten, liefen hin, um zuzuschauen, und die Alten, die sich noch erinnerten, wie man den Mörder des alten Grafen bestraft hatte, sagten, daß dreiundvierzig Schläge viel zu wenig waren: Arkascha war eben von einfacher Abstammung; für den Grafen hatte man aber hundertundeinen Schlag gegeben. Nach dem Gesetz darf man ja keine gerade Zahl von Schlägen geben, es muß immer eine ungerade Zahl sein. Damals hatte man sich einen Henker aus Tula kommen lassen und ihm vorher drei Glas Rum zu trinken gegeben. Er hatte die ersten hundert Schläge nur zur Peinigung gegeben, so daß der Verbrecher immer noch am Leben blieb; mit dem hundertersten Schlag zerschmetterte er ihm aber das Rückgrat. Als man ihn vom Brette aufhob, war er schon halbtot … Man deckte ihn mit einer Bastdecke zu und wollte ihn ins Zuchthaus bringen … Unterwegs gab er den Geist auf. Der Henker aus Tula schrie aber noch: ‚Gebt mir noch jemand her, alle Leute von Orjol will ich totschlagen!‘«

»Nun, waren Sie auch selbst bei der Beerdigung?«

»Gewiß, wir alle waren dabei: der Graf hatte befohlen, daß man alle Leute vom Theater hinführt, damit sie sehen, wie weit es einer von den unsrigen bringen kann.«

»Haben Sie ihn auch im Sarge liegen sehen?«

»Gewiß! Alle gingen zum Sarge und nahmen von ihm Abschied … Auch ich ging hin … Er war so verändert, daß ich ihn gar nicht wiedererkannt hätte. So blaß und mager war er, – die Leute sagten, er hätte sein ganzes Blut verloren, weil ihn der Mörder um Mitternacht erstochen hat … So viel Blut hat er verloren …«

Sie hielt inne und wurde nachdenklich.

»Und Sie,« fragte ich, »wie haben Sie es überstanden?«

Sie erwachte gleichsam aus ihren Träumen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Wie es mir anfangs zumute war, weiß ich nicht mehr, ich weiß auch nicht, wie ich nach Hause kam … Ich ging ja mit allen zusammen vom Friedhof fort, also hat mich wohl jemand geführt … Am Abend sagte mir aber Drossida Petrowna:

‚So geht es nicht, du schläfst nicht und liegst wie ein Stein da. Das ist nicht gut! Du mußt weinen, damit das Herz einen Ausfluß hat.‘

Ich sage ihr drauf:

‚Ich kann nicht weinen, Tantchen, – mein Herz brennt wie eine Kohle und hat keinen Ausfluß.‘

Und sie antwortet:

‚Also kannst du dem Placon nicht mehr entgehen.‘

Sie schenkte mir aus ihrem Fläschchen ein und sagte:

‚Bisher habe ich dich davon zurückgehalten und es dir abgeraten. Jetzt ist aber nichts mehr zu machen: sauge daran und lösche die Kohle.‘

Ich ihr drauf: ‚Ich habe keine Lust.‘

‚Närrchen,‘ sagt sie mir, ‚kein Mensch hat anfangs Lust dazu. Der Gram ist bitter, und das Gift ist noch bitterer. Wenn man die Kohle mit diesem Gift begießt, erlischt sie für eine Weile. Saug schnell daran!‘

Ich trank den ganzen Placon auf einmal aus. Es war mir widerlich, ich konnte aber anders nicht einschlafen. Und so war es auch in der nächsten Nacht … Heute kann ich ohne ihn nicht mehr auskommen. Habe mir selbst einen Placon angeschafft und kaufe mir Schnaps … Und du, liebes Kind, sag der Mama nichts davon: du sollst die einfachen Menschen niemals verraten, du sollst mit ihnen Mitleid haben, denn sie sind alle Dulder. Und wenn wir jetzt nach Hause gehen, werde ich gleich an der Ecke ans Fenster der Schenke klopfen … Wir werden nicht hineingehen, ich werde nur den leeren Placon abgeben, und man wird mir einen neuen durchs Fenster reichen.«

Ich war gerührt und versprach ihr, keinem Menschen von ihrem Placon zu erzählen.

»Ich danke dir, Lieber, – sag es niemand: denn ich muß ihn haben.«

Ich sehe sie auch heute noch vor mir: jede Nacht, wenn alle im Hause schlafen, steht sie von ihrem Bette auf, so leise, daß kein Knöchelchen knackt, sie lauscht und schleicht auf ihren langen erkälteten Beinen zum Fenster … Sie steht eine Weile da, sieht sich um und lauscht wieder, ob meine Mutter nicht aus dem Schlafzimmer kommt; dann höre ich den Hals des »Placons« gegen ihre Zähne klappern … Sie nimmt einen Schluck, einen zweiten und einen dritten … So hat sie die Kohle für eine Zeitlang gelöscht und eine Totenfeier für ihren Arkascha abgehalten. Und dann schlüpft sie wieder unter die Decke, und ich höre sie nur leise mit der Nase pfeifen. Sie schläft!

Eine schrecklichere und herzzerreißendere Totenfeier habe ich noch nicht erlebt.