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Sämmtliche Werke 4: Mirgorod

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Sechstes Kapitel

Andrij vermochte sich in dem finstern schmalen Gang kaum zu bewegen, zumal er hinter der Tatarin her schleichen mußte, und noch dazu mit den vielen Brotsäcken vollauf bepackt war. „Gleich werden wir wieder sehen,“ sagte seine Führerin, „wir sind schon nahe an der Stelle, wo ich die Lampe hingestellt habe.“

Und in der Tat, die dunklen Wände begannen sich allmählich zu erhellen. Sie erreichten einen kleinen Vorplatz, auf dem sich eine Kapelle zu befinden schien, wenigstens stand ein schmales Tischchen in der Form eines Altars an der Wand, über dem ein völlig verwaschenes und verblichenes Bild der heiligen Jungfrau angebracht war. Ein kleines silbernes Lämpchen, das vor ihm hing, beleuchtete es notdürftig. Die Tatarin bückte sich und hob eine kupferne Lampe vom Boden auf, die sie hier zurückgelassen hatte und an deren schlankem, schmalem Fuß ein Kettchen mit einer Zange, einer Nadel zum Ordnen des Dochtes und ein Löschhorn hing. Sie zündete die Lampe an dem Lämpchen vor dem Heiligenbild an. Die Helligkeit verstärkte sich, und wie sie beide halb von dem Lichte bestrahlt und halb im tiefsten nachtschwarzen Schatten dahinschritten, erinnerten sie an eins der Gemälde von Gherardo dalle Notti. Das frische, von Gesundheit und Jugend strotzende Gesicht des schönen Kosaken bildete einen schneidenden Gegensatz zu dem erschöpften und bleichen Antlitz seiner Gefährtin. Der Durchgang verbreiterte sich allmählich, so daß Andrij in die Höhe zu blicken vermochte. Neugierig betrachtete er die Erdwände, die ihn an die Höhlen in Kiew gemahnten. Ganz wie dort gab es auch hier Nischen in den Wänden, die Särge bargen. An einigen Stellen lagen menschliche Gebeine verstreut, die infolge der Feuchtigkeit morsch geworden und zu Staub zerfallen waren. Offenbar hatten hier einst heilige Anachoreten gelebt, die sich vor den Stürmen der Welt, vor dem Elend und den Versuchungen hierher geflüchtet hatten. Die Feuchtigkeit war so stark, daß ihre Füße bisweilen durch Wasser waten mußten. Andrij mußte oft stehen bleiben, um seine Gefährtin ausruhen zu lassen, die immer wieder von der Müdigkeit überwältigt wurde. Das winzige Stückchen Brot, das sie gierig verschlungen hatte, verursachte ihrem der Nahrung fast entwöhnten Magen starke Schmerzen, und oft verharrte sie minutenlang regungslos auf ein und derselben Stelle.

Endlich erblickten sie eine kleine eiserne Tür. „Gott sei Dank, wir sind zur Stelle,“ sagte die Tatarin mit schwacher Stimme und erhob ihre Hand, um ans Tor zu pochen. Aber ihre Kraft versagte. Statt ihrer pochte Andrij kräftig an die Pforte: man hörte sie stark widerhallen, was auf einen großen, freien Raum hinter der Türe hindeutete. Das Echo wurde gedämpfter, als ob es auf hohe Wölbungen gestoßen sei. Nach zwei Minuten hörte man einen Schlüsselbund rasseln, und es schien, als ob jemand die Treppe herunterkäme. Endlich öffnete sich die Tür: auf der engen Treppe vor ihnen stand ein Mönch, den Schlüsselbund und eine brennende Kerze in den Händen. Beim Anblick eines jener katholischen Mönche, die die Kosaken so haßten und verachteten und mit denen sie fast noch unmenschlicher umzugehen pflegten, als mit den Juden, blieb Andrij unwillkürlich stehen, und auch der Mönch fuhr einen Schritt zurück, als er einen Saporoger Kosaken erblickte. Jedoch die Tatarin flüsterte ihm etwas zu, was Andrij nicht verstand, den andern jedoch zu beruhigen schien. Er leuchtete ihnen voran, schloß die Tür hinter ihnen, führte sie eine Treppe hinauf, und bald befanden sie sich in dem hohen, dunklen Gewölbe der Klosterkirche. Vor einem der Altäre, auf denen hohe Leuchter mit Kerzen standen, kniete ein Priester und betete leise. Rechts und links von ihm knieten zwei junge Chorknaben in violetten und mit weißen Spitzen besetzten Meßgewändern, die Rauchfässer in den Händen schwingend. Sie flehten den Herrn um ein Wunder an: sie baten ihn, er möge die Stadt erretten, die mutlos gewordenen Gemüter wieder stärken, ihnen Geduld schenken und dem Versucher wehren, der sie mit Unzufriedenheit, Kleinmut und schwachmütigen Klagen über die irdischen Leiden heimsuche. Einige Frauen, die wie Gespenster aussahen, lagen auf den Knien; sie stützten oder legten ihre erschöpften Häupter auf die Lehnen der Kirchenstühle und die dunklen Holzbänke vor ihnen; auch sah man einige Männer, welche traurig an den Säulen und viereckigen Wandpfeilern, die die Seitenschiffe des Gewölbes trugen, niedergekniet waren. Das buntbemalte Fenster oberhalb des Altars erglänzte im rötlichen Licht des Morgenrots und warf hellblaue, gelbe und andersfarbige Lichtstrahlen auf den Fußboden, die die ganze Kirche plötzlich mit Licht erfüllten. Der Altar in der entfernten Nische schien wie in Glanz getaucht, und gleich einer regenbogenfarbenen Wolke blieb der Weihrauch in der Luft hängen. Andrij blickte nicht ohne Bestürzung aus seiner dunklen Ecke auf das Wunder, das das Licht hier bewirkt hatte. Im selben Augenblicke durchbrauste das mächtige Rauschen der Orgel die ganze Kirche, es schwoll stärker und stärker an, wurde endlich zu einem gewaltigen Donner und löste sich plötzlich wieder in himmlische Musik auf und schwebte hoch bis zur Wölbung empor, mit seinen wunderbaren harmonischen Klängen an zarte Mädchenstimmen gemahnend. Dann wieder schwoll es zu einem vollen Rauschen und Donner an und verstummte. Lange noch hallten die mächtigen Klänge zitternd im Gewölbe nach, und mit halbgeöffnetem Munde ergab sich Andrij dem Zauber der gewaltigen Musik.

Doch da fühlte er, wie ihn jemand an seinem Rockschoß zupfte. „Es ist Zeit,“ sagte die Tatarin. Von niemand bemerkt durchschritten sie die Kirche und gelangten zu einem Platz, der sich vor ihr befand. Längst schon leuchtete das Morgenrot am Himmel, und alles verkündete den Sonnenaufgang. Der viereckig geformte Platz war vollkommen leer, und nur die hölzernen Tischchen, die überall herumstanden, wiesen darauf hin, daß hier vielleicht noch vor einer Woche Lebensmittelmarkt abgehalten worden war. Die Straßen, die zu jener Zeit noch nicht gepflastert wurden, stellten einen großen, eingetrockneten Schmutzhaufen dar. Der Platz war von kleinen einstöckigen Häusern aus Stein oder Lehm umgeben, deren Wände bis an die Giebel von hölzernen Pfählen und mächtigen Balken durchzogen und ihrerseits wieder von Querbalken durchschnitten wurden. Dies war die Bauart, in der die Bewohner jener Gegend ihre Häuser bauten, wie man das jetzt noch vereinzelt in Polen und Litauen antrifft. Sie hatten alle unverhältnismäßig hohe Dächer und eine Unmenge von Fenstern und Luken. Auf der einen Seite, in der Nähe der Kirche stand ein Gebäude, das alle andern bedeutend überragte und das sich vollständig von ihnen unterschied. Wahrscheinlich war es das Rathaus oder irgend ein anderes städtisches Gebäude. Es hatte zwei Stockwerke und darüber einen Aussichtsturm mit zwei Bogengängen, auf dem ein Wachtposten hin und her patrouillierte. In das Dach war das große Zifferblatt einer Uhr eingefügt. Der Platz war wie ausgestorben, Andrij kam es jedoch so vor, als höre er ein leises Stöhnen. Als er sich umsah, bemerkte er auf der anderen Seite des Platzes eine Gruppe von zwei bis drei Menschen, die fast regungslos auf dem Boden lagen. Er betrachtete sie aufmerksam, um sich zu vergewissern, ob es Schlafende oder Tote seien und stieß plötzlich auf ein Etwas, das zu seinen Füßen lag. Es war der tote Körper einer Frau, offenbar einer Jüdin. Sie schien noch ganz jung zu sein, obgleich ihre entstellten und erschöpften Züge keinerlei Schlüsse darüber zuließen. Ihr Haupt war in ein rotes Tuch gehüllt, ihre Ohren zierten zwei Reihen Perlen aus Wachs oder Glas, und zwei oder drei lange krause Locken glitten ihr den eingefallenen Hals mit den angeschwollenen Adern hinab. Neben ihr lag ein Kind, das die verdorrte Brust der Mutter krampfhaft in seinen Händen hielt und sie in unwillkürlichem Zorn darüber, daß sie keine Milch mehr gab, immer wieder mit den kleinen Fingern zusammenpreßte. Das Kind weinte und schrie nicht mehr, nur die sich leise hebende und senkende Brust ließ daraus schließen, daß es noch nicht tot oder wenigstens erst im Begriff war, den letzten Atemzug auszuhauchen. Sie lenkten wieder in die Straßen ein und wurden plötzlich von einem Tobsüchtigen angehalten, der sich angesichts der kostbaren Last, die Andrij mit sich schleppte, wie ein Tiger auf sie warf und sich mit dem Schrei „Brot“ an ihnen festklammerte. Aber seine Kräfte waren schwächer als seine Gier. Andrij stieß ihn zurück, sodaß er zu Boden fiel. Von Mitleid überwältigt, warf er ihm eins der Brote zu, auf das sich jener wie ein toller Hund stürzte und es gleich auf der Straße zerbiß und zernagte; bald darauf verschied er jedoch infolge der langen Entbehrungen unter schrecklichen Krämpfen. Fast bei jedem Schritte wurden sie durch grauenvolle Opfer der Hungersnot in Schrecken gesetzt. Es schien, als ob viele ihre Qualen zu Hause nicht ertragen konnten und mit Absicht auf die Straße hinausgeeilt waren, weil sie hofften, in der frischen Luft Nahrung und Stärkung zu finden. Vor der Tür eines Hauses saß eine alte Frau; es war unmöglich, zu erkennen, ob sie nur eingeschlafen, bereits tot, oder einfach in Träume versunken war; jedenfalls hörte und sah sie nichts mehr und saß nur, mit auf die Brust gesenktem Haupte, regungslos da. Von dem Dach eines anderen Hauses hing ein langer dürrer Körper an einer Schnur herab. Der arme Kerl hatte die Hungerqualen nicht länger zu ertragen vermocht und es vorgezogen, seinem Leben freiwillig ein Ende zu machen.

Angesichts dieser furchtbaren Zeugen des Hungers hielt es Andrij nicht länger aus und fragte die Tatarin:

„Konntet ihr denn in der Tat garnichts finden, um euer Leben zu fristen? Wenn die äußerste Not an den Menschen kommt, dann gibt es keine Wahl, dann muß er essen, was ihm früher vielleicht Ekel einflößte, und wenn er sich erst von jenen Wesen nährt, die das Gesetz zu essen verbietet – dann darf er eben alles essen!“ „Es ist schon alles aufgegessen,“ sagte die Tatarin, „alles Vieh ist fort, und es ist kein Pferd, kein Hund, ja nicht einmal eine Maus mehr in der Stadt zu finden. Wir haben hier in der Stadt nie Vorräte gehabt, es wurde uns ja alles von den Bauern geliefert.“

 

„Ja, wie konntet ihr denn dann, wo euch ein so schrecklicher Tod droht, noch immer daran denken, die Stadt zu verteidigen?“

„Vielleicht hätte der Wojewode sie auch schon dem Feinde überlassen, aber gestern sandte uns der Oberst, der sich in Budschaki befindet, einen Habicht mit der Weisung, uns auf keinen Fall zu ergeben; er komme uns mit einem Regiment zur Hilfe und warte nur noch auf den andern Oberst, um gemeinsam mit ihm zu unserer Entsetzung zu eilen. Sie werden jeden Augenblick erwartet … Doch, wir sind vor unserm Hause angelangt.“

Andrij hatte schon von weitem ein Haus bemerkt, das sich wesentlich von den andern unterschied und von einem italienischen Architekten gebaut zu sein schien; es war aus schönen schmalen Ziegelsteinen errichtet und zwei Stockwerke hoch. Die Fenster des unteren waren mit weit hervorstehenden Gesimsen eingefaßt; das obere bestand vollständig aus kleinen Bögen, die eine Galerie bildeten, dazwischen befanden sich Gitter mit Wappenschilden. Eine breite Außentreppe aus buntfarbigen Ziegelsteinen führte direkt auf den Platz. Unten zu beiden Seiten der Treppen saßen Schildwachen, sie hielten ebenso malerisch wie symmetrisch mit der einen Hand die Hellebarde und stützten ihre Köpfe auf die andere, so daß sie mehr zwei steinernen Bildsäulen als lebendigen Menschen glichen. Sie schliefen oder schlummerten nicht etwa, schienen aber doch unempfindlich gegen alles zu sein und würdigten die beiden Personen, die jetzt die Treppe hinaufgingen, kaum eines Blicks. Oben trafen Andrij und die Tatarin einen reich gekleideten und von Kopf bis zu Fuß bewaffneten Ritter, der ein Gebetbuch in der Hand hielt. Er richtete seine ermüdeten Augen auf sie, die Tatarin sagte ihm jedoch ein paar Worte, und er versenkte sich sogleich wieder in sein offnes Gebetbuch. Sie traten in das erste Zimmer, das ziemlich geräumig war und als Empfangsraum zu dienen schien, oder vielleicht auch einfach ein Vorzimmer war; dies war völlig mit Soldaten, Dienern, Hundewärtern, Mundschenken und anderen Bedienten angefüllt, wie sie ein polnischer Magnat, ob er nun Offizier oder Rittergutsbesitzer ist, braucht, um die Würde seines Standes ins rechte Licht zu setzen; sie saßen alle in den verschiedensten Stellungen an den Wänden herum. Der ganze Raum war von dem Qualm einer erloschenen Kerze erfüllt, und zwei andere in außerordentlich großen, fast mannshohen Leuchtern brannten noch mitten im Zimmer, trotzdem der Morgen schon längst durch das große vergitterte Fenster hineinblickte. Andrij wollte schon auf eine breite, mit Wappen und verschiedenen Schnitzereien verzierte Eichentür zugehen; die Tatarin zupfte ihn jedoch am Ärmel und wies auf eine kleine Pforte in der Seitenwand. Durch diese gelangten sie in einen Gang und dann in ein Zimmer, das Andrij eingehend besichtigte. Das Licht, das durch die Spalte des Fensterladens hineindrang, küßte die blau und rot gefärbten Vorhänge, das vergoldete Gesims und die Malereien an den Wänden. Die Tatarin bedeutete Andrij, hier zu bleiben und öffnete die Tür zu einem andern Zimmer, aus der ein Lichtschein hereindrang. Er vernahm das leise Flüstern einer Stimme, die sein ganzes Innere erbeben machte. Mit einem flüchtigen Blick durch die Tür erkannte er eine schlanke weibliche Gestalt mit langen prachtvollen Haarflechten, die über den hocherhobenen Arm herabwallten. Die Tatarin kam zurück und bat ihn, hineinzugehen. Es war ihm später ganz unmöglich, anzugeben, wie er in das Zimmer gelangt war und wie sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Im Zimmer brannten zwei Kerzen und ein Lämpchen, das vor dem Heiligenbild angebracht war: darunter befand sich nach katholischer Sitte ein hoher Hausaltar mit mehreren Stufen, auf denen man beim Beten niederknien konnte. Aber das war es nicht, was Andrijs Augen suchten. Er wandte sich nach der andern Seite und erblickte ein Weib, das in einer schnellen Bewegung erstarrt und versteinert zu sein schien. Es war, als hätte sich ihre schlanke Gestalt ihm entgegenwerfen wollen und sei nun plötzlich wie erstarrt stehen geblieben. Nicht minder bestürzt blieb auch er vor ihr stehen. Denn nicht so hatte er sie wiederzusehen geglaubt. Das war sie nicht, das war nicht jenes Mädchen mehr, das er früher gekannt hatte. Sie hatte nichts, was an jene gemahnte: nein, sie war noch einmal so schön und herrlich anzuschauen wie ehemals. Damals hatte sie noch etwas Unreifes und Unvollendetes – jetzt dagegen glich sie einem vollkommenen und bis auf den letzten Pinselstrich vollendeten Kunstwerk. Jene war ein wunderschönes, leichtsinniges Mädchen, diese ein zu edler Schönheit erblühtes Weib. Ihre emporblickenden Augen verhießen ein unendliches Gefühl: nicht nur Bruchstücke und Andeutungen von Gefühlen, sondern ein ganzes, volles Gefühl. In ihren Augen schimmerten Tränen, die noch nicht ganz getrocknet waren, und verliehen ihnen einen feuchten Glanz, der bis zum Herzen drang. Busen, Schultern und Hals hatten jene wundervollen Formen angenommen, die der vollendeten Schönheit eigen sind, die Haare, die ehemals ihr Antlitz in leichten Locken umringelten, hatten sich in eine starke, prachtvolle Flechte verwandelt; ein Teil war hochgesteckt, während der andere über die ganze Länge des Arms, und in seinen langen Wellen über den wundervollen Busen fiel. Jeder Zug ihres Gesichtes schien sich verändert zu haben. Vergebens bemühte Andrij sich, den einen oder den andern, so wie er in seiner Erinnerung lebte, ins Gedächtnis zurückzurufen – er vermochte es nicht. So tief ihre Blässe auch war, sie verdunkelte ihre wundervolle Schönheit nicht, sondern verlieh ihr eher noch etwas Hinreißendes und unbezwinglich Sieghaftes. Andrij fühlte sich von einem ehrfurchtsvollen Schauder durchzittert und blieb unbeweglich vor ihr stehen. Auch sie schien über den Anblick des Kosaken, der in seiner ganzen Schönheit und der männlichen Kraft seiner Jugend vor ihr stand, betroffen zu sein, obschon selbst die Bewegungslosigkeit seiner Glieder etwas von der Ungezwungenheit und Freiheit ihrer Bewegungen offenbarte. Mut und Festigkeit strahlte aus seinen Augen, die von sammetweichen, kühngeschwungenen Brauen beschattet wurden; die braunen Wangen spiegelten das ganze Feuer einer noch unverbrauchten Jugend wieder, und der zarte Flaum seines Schnurrbarts glänzte wie Seide.

„Nein, ich habe nicht die Kraft, dir zu danken, hochherziger Ritter,“ sagte sie mit zitternder, silberheller Stimme, „Gott allein kann dir’s lohnen und nicht ein schwaches Weib wie ich …“ Sie senkte die Augen, und die herrlichen Lider mit den, langen Pfeilen gleichenden, Wimpern legten sich in wundervollen, schneeweißen Halbkreisen darüber, ihr herrlicher Kopf hatte sich geneigt, und eine leise Röte überzog den unteren Teil des Gesichts. Andrij wußte nicht, was er antworten sollte; er wollte alles aussprechen, was seine Seele erfüllte, so leidenschaftlich, wie er es in seinem Innern empfand – und vermochte es nicht. Er fühlte, daß ihm etwas die Lippen verschloß, daß es ihm, der im Seminar und in dem Wanderleben des Krieges aufgewachsen war, nicht gelingen würde, die Antwort auf diese Worte zu finden, und der Zorn gegen seine Kosakennatur stieg in ihm auf.

In diesem Augenblick trat die Tatarin ins Zimmer. Sie hatte das von Andrij mitgebrachte Brot bereits in Scheiben geschnitten und trug es auf einer goldenen Schale herein, die sie vor ihrer Herrin hinstellte.

Das schöne Mädchen sah ihre Dienerin lange an, betrachtete das Brot, blickte Andrij an, und ihre Augen leuchteten vielsagend auf. Dieser rührende Blick, in dem sich ihre Ohnmacht und Unfähigkeit, ihre Gefühle auszusprechen, ausdrückten, war für Andrij verständlicher als alle Worte. Es wurde ihm plötzlich leicht ums Herz, wie wenn sich alles in ihm gelöst hätte. Die Bewegungen und Gefühle seines Herzens, die bisher noch mühsam gezügelt wurden, fühlten sich jetzt frei, aller Fesseln ledig und wollten sich schon in einem endlosen Redestrom ergießen, als sich die Schöne plötzlich der Tatarin zuwandte und unruhig fragte:

„Und die Mutter? Hast du der Mutter etwas gebracht?“

„Sie schläft.“

„Und dem Vater?“

„Ihm habe ich etwas gebracht; er sagte, er wolle selbst kommen, um dem Ritter zu danken.“

Sie nahm eine Scheibe Brot und führte sie zum Munde. Mit unaussprechlichem Vergnügen sah Andrij, wie sie es mit ihren weißen schimmernden Fingern zerbrach und aß. Plötzlich aber erinnerte er sich an den Mann, der vor Hunger tobsüchtig geworden war und in seiner Gegenwart seinen Geist aufgegeben hatte, als er ein Stück Brot verschlang. Er wurde bleich, ergriff ihre Hand und rief:

„Genug! Iß nicht weiter! Du hast so lange nicht gegessen. Das Brot ist Gift für dich.“ Sie ließ sofort die Hand sinken, legte das Brot auf den Teller und sah ihm wie ein gehorsames Kind in die Augen. O wenn das Wort nur etwas ausdrücken könnte! Aber weder Meißel noch Pinsel, noch die allmächtige Sprache vermögen das wiederzugeben, was in solch einem Blick einer Jungfrau liegt und was nur das Gefühl der Rührung auszudrücken vermag, das der empfindet, der einen solchen Blick auf sich gerichtet fühlt.

„Herrin,“ rief Andrij von den tiefsten, innigsten und heiligsten, überquellenden Empfindungen erfüllt aus, „was verlangst du? Was willst du? Befiehl! Fordere jeden Dienst von mir, selbst den unmöglichsten, den es auf der Welt gibt – und ich eile, um ihn auszuführen. Befiehl mir, was menschliche Kraft nicht auszuführen vermag – ich werde es tun, und sollte ich mich dabei ins Verderben stürzen. Ja, ins Verderben stürzen! Für dich zu sterben – o ich schwöre es dir beim heiligen Kreuz – ist Süßigkeit für mich. Aber Worte sagen ja nichts. Ich besitze drei Gehöfte, die Hälfte der väterlichen Herden, alles, was meine Mutter dem Vater mit in die Ehe gebracht, und sogar das, was sie vor ihm verheimlicht hat, – alles dies gehört mir. Kein Kosak besitzt solche Waffen wie ich; allein für den Griff meines Säbels bietet man mir die beste Roßherde und noch dreitausend Schafe dazu. Von all dem will ich mich lossagen, es verlassen, verbrennen, ins Wasser werfen, wenn du mir nur ein Wort sagst oder deine zarten schwarzen Augenbrauen nur leise bewegst! Ich weiß wohl, daß ich vielleicht dumme Dinge rede, die hier ganz und gar nicht angebracht sind, und nicht hierher gehören; ich weiß, daß es sich für mich, der sein ganzes Leben in dem Seminar und der Sjetsch zugebracht hat, nicht schickt, so zu reden, wie es dort Sitte ist, wo Könige, Fürsten und die Edelsten der Ritterschaft sich einfinden. Ich sehe wohl, daß du ein anderes Geschöpf Gottes bist wie wir alle, und daß alle Bojarenfrauen nebst ihren Töchtern weit unter dir stehen. Wir sind nicht wert, deine Sklaven zu sein, nur die himmlischen Engel sind würdig, dir zu dienen.“

Mit steigender Verwunderung, gespannten Ohres und ohne ein Wort zu verlieren, vernahm die Jungfrau diese offene und begeisterte Rede, in der sich die junge, kraftvolle und leidenschaftliche Seele ausprägte wie in einem Spiegel. Jedes dieser einfachen Worte, das mit einer Stimme gesprochen wurde, die aus tiefstem Herzensgrunde kam, war voller Kraft und Leidenschaft. Sie neigte ihr schönes Antlitz vor, warf die widerspenstigen Haare weit zurück, öffnete die Lippen und sah ihn lange mit offnem Munde an. Sie wollte etwas sagen, allein sie hielt inne, denn sie erinnerte sich plötzlich, daß der Ritter eine andere Bestimmung hatte, daß sein Vater, seine Brüder, sein Vaterland als strenge Richter hinter ihm standen, sie dachte daran, was für schreckliche Menschen die Saporoger waren, die die Stadt belagerten, und wie sie und alle in der Stadt einem furchtbaren Tode verfallen wären – und ihre Augen füllten sich mit Tränen; schnell ergriff sie ihr kunstvoll gesticktes Seidentuch, bedeckte ihr Gesicht, und in wenigen Augenblicken war das Tuch ganz feucht von ihren heißen Tränen. Lange saß sie so da, den wunderschönen Kopf zurückgelehnt, ihre schneeweißen Zähne in die herrliche Unterlippe drückend, als ob sie plötzlich den Biß einer giftigen Schlange gefühlt hätte, und ohne das Tuch vom Gesicht zu nehmen, damit Andrij ihren herzzerreißenden Schmerz nicht sähe.

„Sprich doch ein Wort,“ sagte Andrij und ergriff ihre sammetweiche Hand. Bei dieser Berührung strömte es wie glühendes Feuer durch seine Adern, und er preßte ihre Hand zusammen, die gefühllos in der seinen lag. Aber sie schwieg und verharrte regungslos in derselben Stellung, ohne das Tuch vom Gesicht hinwegzuziehen.

„Weshalb bist du so traurig? Sage mir doch, weshalb du so traurig bist?“

Da warf sie das Tuch fort, schlug die ins Gesicht fallenden reichen Haarsträhnen zurück und brach in bittere Worte der Klage aus, die sie mit leiser, ganz leiser Stimme vor sich hinsprach, gleich dem Winde, der sich an einem schönen Abend erhebt und durch das dichte Rohr am Wasser fährt. Da geht es plötzlich wie ein Flüstern durch das Rohr, da singen und klingen klagende, zarte Töne durch die Luft. Der Wanderer bleibt stehen und lauscht ihnen mit einer unerklärlichen Schwermut, und er merkt nicht das Nahen des Abends, noch die heiteren Lieder der Arbeiter, die vom Feld und von der Ernte zurückkehren, noch das Rasseln eines fern vorbeirollenden Wagens.

 

„Bin ich nicht ewig bemitleidenswert? Ist die Mutter nicht unselig, die mich zur Welt gebracht hat? Gibt es ein Los, bitterer als das meine? Quälst du mich nicht zu Tode, schreckliches Schicksal! Alles hast du mir zu Füßen gelegt: die besten Männer der ganzen Schlachta, die reichsten Herren, Grafen und fremden Barone und die höchste Blüte unserer Ritterschaft? Alle liebten sie mich, und jeder hätte meine Gegenliebe für das größte Glück gehalten. Ich brauchte nur mit der Hand zu winken, und jeder von ihnen, der Schönste und Vornehmste von Angesicht und Herkunft wäre mein Gatte geworden. Und keinem von ihnen hast du, grausames Schicksal, mein Herz zugewendet. Den besten Helden unseres Vaterlandes hast du es entzogen und den Betörungen eines Fremden, eines Feindes überliefert. Warum, o heilige Mutter Gottes, um welcher Sünden und schwerer Verbrechen willen verfolgst du mich so grausam, so unbarmherzig? In Überfluß, Reichtum und Pracht sind meine Tage verflossen. Die herrlichsten auserlesensten Speisen, die süßesten Weine bildeten meine tägliche Nahrung. Und warum, wozu war das alles? Nur dazu, um mich zuletzt eines schrecklichen Todes sterben zu lassen, wie ihn kaum der letzte Bettler im Lande stirbt! Doch nicht genug, daß ich zu einem so schrecklichen Los verurteilt bin, nicht genug, daß ich vor meinem Ende Vater und Mutter in unerträglichen Qualen dahinwelken sehen muß, sie, für die ich, wenn ich ihnen nur helfen könnte, tausendmal mein Leben hingeben würde! Nein, das alles genügt noch nicht, ich muß auch noch, bevor ich sterbe, Worte vernehmen und eine Liebe kennen lernen, wie ich sie noch nie erfahren habe! Er muß mir mit seinen Worten das Herz zerreißen, auf daß mein bitteres Los noch bitterer werde, auf das ich mein junges Leben noch mehr betrauere, daß mir mein Tod noch schrecklicher dünke, und daß ich dir, o grausames Schicksal, und dir, heilige Mutter Gottes, – vergib mir die Sünde – noch im Sterben so furchtbare Vorwürfe mache!“

Endlich verstummte sie, und ein Ausdruck qualvollster Hoffnungslosigkeit spiegelte sich in ihrem Antlitz. Jeder Zug ihres Gesichts verriet eine tiefe nagende Schwermut, alles, die traurig gesenkte Stirn, die niedergeschlagenen Augen und die auf den leise glühenden Wangen versiegenden Tränen – alles schien zu sagen: Dies Angesicht weiß nichts von Glück!

„Nie ward es erhört auf dieser Welt, es kann nicht sein und ich dulde es nimmer,“ sprach Andrij, „daß die schönste und edelste der Frauen ein so bitteres Los ertragen sollte, sie, die dazu geboren ist, die Besten und Edelsten unserer Zeit vor sich wie vor einem Heiligtume knien zu sehen! Nein, du sollst nicht sterben! Du sollst nicht sterben; ich schwöre es bei meiner Geburt und bei allem, was mir teuer ist auf dieser Welt – du wirst nicht sterben! Sollte es aber trotz allem so kommen, sollte dies bittere Schicksal weder durch Kraft, noch Gebet, noch Mut abgewendet werden können, so werden wir zusammen sterben, und ich zuerst vor dir und zu deinen herrlichen Füßen; erst wenn ich tot bin, wird man mich von dir trennen können.“

„Täusche nicht dich und mich, Ritter,“ sagte sie leise, ihr schönes Haupt schüttelnd, „ich weiß es, ich weiß es zu meinem bitteren Leid nur zu wohl, daß du mich nicht lieben darfst, und ich kenne deinen Beruf und deine Pflicht: Dich ruft der Vater, die Kameraden, das Vaterland; wir aber sind – deine Feinde!“

„Was sind mir Vater, Vaterland und Kameraden,“ rief Andrij, ungestüm sein Haupt schüttelnd und sich machtvoll emporreckend, daß seine Gestalt der Balsampappel am Ufer glich. „Wenn es denn sein muß, nun wohl, so habe ich niemand, niemand, niemand,“ wiederholte er mit einer Stimme und Handbewegung, mit der wohl ein wackerer Kosakenheld seinen unerschütterlichen Entschluß zu einer unerhörten Tat zum Ausdruck bringt, der kein anderer gewachsen ist. „Wer sagt, daß die Ukraine mein Vaterland ist? Wer hat sie mir zum Vaterland gegeben? Das Vaterland ist da, wo es unsere Seele sucht, ist das, was ihr das liebste ist. Mein Vaterland – das bist du! Du bist mein Vaterland! Und dieses Vaterland will ich in meinem Herzen tragen! So lange ich lebe, werde ich es dort tragen: und ich möchte sehen, welcher Kosak es wagen will, dich aus meinem Herzen zu reißen. Ja, alles was ich besitze, will ich weggeben, verschenken, verkaufen und zugrunde richten für dies mein Vaterland!“

Einen Augenblick schien es, als ob sie zu einer herrlichen Bildsäule erstarrt sei. Dann sah sie ihm fest in die Augen, schluchzte laut auf und schlang ihm mit jener wundersamen hingebenden Leidenschaft, deren nur eine großmütige und zu starken Gefühlsausbrüchen neigende Frau fähig ist, die nichts von Berechnung weiß, ihre herrlichen, schneeweißen Arme um den Hals. In diesem Augenblick hörte man von der Straße ein wirres Geschrei hereindringen, das von Posaunenstößen und Paukenklängen begleitet wurde. Aber Andrij hörte nichts davon: er fühlte nur die wohlige Wärme ihres süßen Atems, ihre wundervollen Lippen, fühlte nur, wie ihre Tränen in Strömen über sein Antlitz flossen, und wie ihr reich herabwallendes, duftendes Haar ihn wie in dunkel glänzende Seide einhüllte.

Plötzlich kam die Tatarin mit einem Freudenschrei hineingestürmt. „Wir sind gerettet, gerettet,“ rief sie ganz außer Atem, „die Unseren sind in die Stadt gedrungen und haben Brot, Weizen, Mehl und gefangene Saporoger mitgebracht.“ Aber niemand wollte hören, was für „Unserige“ in die Stadt gedrungen, was sie mitgebracht hätten, und welche Saporoger gefangen worden seien. Von überirdischen Gefühlen erfüllt, küßte Andrij die süß duftenden Lippen, die sich an seine Wange geschmiegt hatten, und diese Lippen ließen ihn nicht ohne Antwort. Sie erwiderten seine Liebkosungen, und in diesem gegenseitigen, ineinanderschmelzenden Kuß empfanden beide, was der Mensch nur einmal im Leben zu empfinden vermag.

Der Kosak war verloren! Für immer verloren für das ritterliche Kosakentum! Niemals mehr würde er die Sjetsch, niemals die väterlichen Fluren und nie mehr sein Gotteshaus wiedersehen! Und nie mehr sollte die Ukraine ihn wiederfinden, ihn, der einer ihrer tapfersten Söhne war und sie mit seinem Leben zu verteidigen gelobt hatte! Rauf dir die grauen Haare aus deinem Schopf, alter Taraß, und verfluche Tag und Stunde, da du zu deiner Schmach dir einen solchen Sohn erzeugtest.