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Sämmtliche Werke 4: Mirgorod

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Fünftes Kapitel

Bald war der ganze Südwesten Polens eine Beute des Schreckens. Überall erklang der Ruf: „Die Saporoger, die Saporoger sind gekommen!“ Alles was sich in Sicherheit bringen konnte, tat es. Alles machte sich auf und davon, wie es in jenem barbarischen, sorglosen Zeitalter Sitte war, wo man weder Festungen noch Burgen kannte, und wo der Mensch sich seine Strohhütte an dem ersten besten Ort baute. Man dachte: es hat ja doch keinen Sinn, Arbeit und Geld an ein Haus zu wenden, wenn der Tatar es ja doch zerstört. Alles geriet in Bewegung und Unruhe; der eine vertauschte Pflug und Heerde gegen Pferd und Flinte und trat in das Heer ein, ein anderer versteckte sich und sein Vieh und trug fort, was er tragen konnte. Gewiß stieß man hin und wieder auch auf solche, die die Gäste mit der Waffe in der Hand empfingen, aber die weitaus größere Zahl entfloh schon vorher. Alle wußten es, daß es eine schwere Sache ist, sich mit jenem wilden und kriegerischen Haufen einzulassen, der den Namen des „Saporoger Heeres“ trug, und der trotz seiner äußerlichen Willkür und Unordnung eine Ordnung zu halten wußte, wie sie in der Schlacht erforderlich ist. Die Reiter überlasteten und erhitzten ihre Pferde nicht; die Fußgänger schritten nüchtern hinter den Wagen her; das ganze Feldlager bewegte sich nur nachts vorwärts, bei Tage ruhte es aus und zwar auf freien und unbewohnten Plätzen und Wäldern, die damals noch im Überfluß vorhanden waren. Man sandte Kundschafter und Spione voraus, um sich über die jeweilige Lage zu unterrichten. Oft tauchte die ganze Schar gerade an den Orten auf, wo man sie am wenigsten erwartete – und dann sagten alle dem Leben Ade. Die Dörfer wurden an allen Ecken und Enden angezündet; das Vieh und die Pferde, die dem Heere nicht folgen konnten, wurden an Ort und Stelle niedergemacht. Es schien, als ob die Kosaken es mehr auf ein schwelgerisches Leben abgesehen hatten, als auf einen Feldzug. Die Haare stehen einem noch heute zu Berge, wenn wir uns jene schrecklichen Zeichen der Grausamkeit eines halbwilden Zeitalters ins Gedächtnis rufen, wie sie die Saporoger überall offenbarten. Erschlagne Säuglinge, Frauen mit abgeschnittenen Brüsten, das waren ihre Heldentaten; und wenn sie jemand in Freiheit setzten, zogen sie ihm vorher bis zu den Knien die Haut von den Füßen ab. Kurz, die Kosaken zahlten ihre früheren Schulden mit harter Münze heim. Als der Abt eines Klosters hörte, daß sie im Anzuge seien, sandte er ihnen zwei Mönche entgegen und ließ ihnen sagen, sie handelten nicht so, wie es sich gehöre; zwischen den Saporogern und der Regierung sei Frieden geschlossen, daher verletzten sie ihre Pflicht gegen den König und zugleich damit das Völkerrecht. Hierauf erwiderte ihnen der Hetman: „Sage deinem Erzbischof in meinem und aller Saporoger Namen, daß er nichts zu befürchten hat, die Kosaken zünden sich ja bloß ihre Pfeifen an.“

Bald war die majestätische Abtei von vernichtenden Flammen erfaßt, und die mächtigen gotischen Fenster schauten düster durch das lodernde Glutmeer. Flüchtige Haufen von Mönchen, Juden und Frauen erfüllten plötzlich alle Städte, in denen nur ein Schein von Hoffnung auf die Garnison und die städtische Besatzung bestand. Die von der Regierung von Zeit zu Zeit, aber meist immer zu spät zu Hilfe gesandten Detachements fanden die Kosaken entweder nicht oder gaben bei dem ersten Zusammenstoß Fersengeld und flüchteten sich auf ihren wackeren Pferden. Es kam auch vor, daß einige königliche Heerführer, die in früheren Schlachten siegreich geblieben waren, beschlossen, sich den Saporogern mit vereinten Kräften entgegenzustellen. Das aber waren gerade die Gelegenheiten, in denen die jungen Kosaken ihre Kräfte prüften: sie verabscheuten die Geldgier und die Nichtswürdigkeiten gegenüber dem wehrlosen Feind, hier aber brannten sie vor Verlangen, sich vor den Alten auszuzeichnen und sich Mann gegen Mann im offenen Kampfe mit dem kecken und prahlerischen Polen zu messen, der auf seinem stolzen Roß im prächtigen, vom Winde geblähten Mantel mit den herabhängenden Ärmeln angesprengt kam.

Das war eine fröhliche Wissenschaft; sie hatten schon viel reiches Pferdegeschirr, kostbare Säbel und Gewehre erbeutet. Im Verlauf eines Monats hatten die Jünglinge alles Knabenhafte abgelegt, und die kaum flügge gewordenen Jungen waren zu Männern herangereift; ihre Gesichtszüge, die bisher eine gewisse jugendliche Sanftheit aufwiesen, waren nun streng und ernst. Der alte Taraß sah mit Freuden, wie seine beiden Söhne überall die ersten waren. Ostap schien schon in der Wiege dazu bestimmt zu sein, ein Kämpferdasein zu führen, und Heldentaten zu verrichten. Nichts brachte ihn in Verwirrung oder ließ ihn den Kopf verlieren; mit einer für einen zweiundzwanzigjährigen Jüngling fast unverständlichen Kaltblütigkeit wußte er im Augenblick die Gefahr und die Sachlage zu überblicken; und er fand auch sofort ein Mittel, der Gefahr auszuweichen, aber so daß er sie um so sicherer überwand. Seine Bewegungen zeigten schon Erfahrung und Selbstvertraun: man erkannte in ihm sofort den zukünftigen Führer. Sein Körper schwoll von Kraft; und seine ritterlichen Tugenden hatten etwas von der gewaltigen Kraft des Löwen.

„Oh, der wird mit der Zeit noch ein tüchtiger Hetman werden,“ sagte der alte Bulba, „ja, ja, das gibt einen ausgezeichneten Feldherrn ab, der stellt noch den Vater in Schatten.“

Andrij war wie bezaubert von der wundervollen Musik der Kugeln und Schwerter. Er kannte die Bedeutung des Überlegens, Berechnens und des Ausmessens der eignen und fremden Kräfte nicht. Die Schlacht war ihm ein tolles, wonniges Vergnügen, und ihm war in solchen Augenblicken zumute, wie einem Menschen bei einem Feste, wenn das Gesicht glüht, alles vor den Augen schwirrt und durcheinandergeht, die Schädel herabsausen, die Rosse dröhnend zu Boden stürzen, und er wie trunken im Lärm der Kugeln und zwischen blitzenden Säbeln dahinfliegt, und nach allen Seiten um sich haut, ohne selbst die Hiebe zu empfinden, die er empfängt. Oft genug wunderte sich der Vater auch über Andrij, wenn er sah, wie er, von seiner wilden Leidenschaft hingerissen, sich an Dinge wagte, die ein Kaltblütiger und Überlegender stets gemieden hätte, und in seinem rasenden Draufgängertum Wunder verrichtete, über die selbst alte in Schlachten ergraute Kosaken in Staunen geraten mußten. Dann bewunderte ihn der alte Taraß und sagte wohl: „Auch er ist ein tüchtiger Krieger – der Feind vermag nichts gegen ihn. Er ist kein Ostap, aber doch ein tüchtiger, ein sehr tüchtiger Krieger.“

Man hatte beschlossen, direkt gegen die Stadt Dobno zu marschieren, die, wie es hieß, reiche Schätze barg und begüterte Bürger beherbergte. In anderthalb Tagen war der Weg zurückgelegt, und die Saporoger standen bereits vor der Stadt. Die Einwohner hatten beschlossen, sich bis zum letzten Blutstropfen, ja bis zum Äußersten zu verteidigen, und wollten lieber auf den Märkten und an den Schwellen ihrer Häuser sterben, als den Feind in ihr Heim hineinlassen. Ein großer Erdwall umgab die Stadt; wo er zu niedrig war, da erhob sich eine steinerne Mauer, oder ein Haus, das als Batterie diente, oder endlich ein aus eichenen Bohlen errichteter Zaun. Die Besatzung war stark und empfand die ganze Bedeutung der Lage. Die Saporoger hatten schon einen wilden Sturm gegen den Wall versucht, aber ein Kartätschenfeuer prasselte auf sie herab. Auch die Bürger und die sonstigen Stadtbewohner schienen die Hände nicht in den Schoß legen zu wollen und eilten in Massen auf die Stadtmauern. Der feste Wille zu einem verzweifelten Widerstand war in ihren Augen zu lesen: die Frauen beschlossen ebenfalls, an der Verteidigung teilzunehmen, warfen Steine, Fässer und Töpfe voll siedendem Pech auf die Köpfe der Saporoger und schütteten zuletzt Säcke voll Sand über sie aus, die ihnen die Augen blendeten. Die Saporoger hatten es nicht gern mit Festungen zu tun, Belagerungen waren eben ihre Sache nicht. Der Hetman ordnete daher den Rückzug an und sagte: „Genug, werte Herren und Brüder, wir ziehen uns zurück. Aber ihr sollt mich einen schlechten Tataren und nicht einen Christen nennen, wenn wir auch nur einen aus der Stadt herauslassen. Mögen sie alle vor Hunger krepieren, die Hunde!“ Das Heer zog sich zurück, umzingelte die Stadt und begann zum Zeitvertreib die Umgebung zu verwüsten. Man zündete die umliegenden Dörfer und die noch nicht eingebrachten Getreidehaufen an und hetzte die Pferde in Massen auf die von der Sichel noch unberührten Felder, auf denen sich wie zum Trotze fette Ähren wiegten – die Frucht eines außerordentlich guten Jahres, das den Bauern eine reichliche Ernte versprach. Voller Schrecken sahen die Bürger in der Stadt, wie ihre Existenzmittel vernichtet wurden. Unterdessen hatten die Saporoger ihre Wagen in zwei Reihen um die Stadt gezogen, und gerade so wie in der Sjetsch in einzelnen Quartieren ihr Lager aufgeschlagen; sie rauchten ihre Pfeifen, tauschten miteinander ihre erbeuteten Waffen aus, spielten Bockspringen, Gerade und Ungerade, wie sichs traf, und noch andere Glücksspiele und blickten hie und da mit geradezu mörderischer Kaltblütigkeit nach der Stadt hin. Nachts wurden Feuer angezündet, jedes Quartier kochte sich seinen Brei in mächtigen kupfernen Kesseln, und die Wachen, die die ganze Nacht kein Auge schließen durften, standen um das Feuer herum.

Bald aber wurden den Saporogern die Tatenlosigkeit und die andauernde Nüchternheit, der keine Unternehmungen das Gleichgewicht hielten, langweilig. Der Hetman ordnete sogar an, eine doppelte Ration Wein auszuteilen, wie es im Heer hin und wieder zu geschehen pflegte, wenn keine Schlachten oder sonstige schwierige Unternehmungen bevorstanden. Den jungen Kosaken und besonders Taraß Bulbas Söhnen gefiel ein solches Leben ganz und gar nicht. Andrij war die Ungeduld schon von weitem anzusehen. „Du unvernünftiger Bursche,“ sagte Taraß zu ihm, „hab Geduld, Kosak! – und du wirst Hetman! Nicht der ist ein guter Krieger, der nur in schwierigen Lagen den Kopf oben behält, sondern der, der den Mut nicht sinken läßt, auch wenn es nichts zu tun gibt, der alle Dinge erträgt und endlich doch seinen Willen durchsetzt.“ Aber ein feuriger Jüngling versteht einen Greis nicht so leicht: ihre Natur ist zu verschieden, und sie sehen die gleiche Sache mit ganz andern Augen an.

 

Inzwischen aber war Taraß’ Aufgebot unter Towkatschs Führung angekommen, und mit ihm zwei Hauptleute, ein Schreiber und andere Offiziere; die Gesamtzahl der Kosaken betrug jetzt mehr als viertausend. Darunter befanden sich auch viele Freiwillige, die ganz von selbst auf das bloße Gerücht von den Kämpfen und ungerufen zu ihnen gestoßen waren. Die Hauptleute brachten Taraß’ Söhnen den Segen der alten Mutter und je ein Heiligenbild aus Zedernholz aus dem Meschigorski-Kloster von Kiew mit. Beide Brüder hingen sich die heiligen Bilder um den Hals und verfielen unwillkürlich in Träumereien, als sie so an die alte Mutter erinnert wurden. Was prophezeite, was verhieß dieser Segen? Den Sieg über den Feind, eine reiche Beute und frohe Rückkehr in die Heimat, ewige Preisgesänge der Lautenspieler – oder …? Aber die Zukunft kennt keiner – und wie Herbstnebel, der aus dem Sumpf emporsteigt, liegt sie vor dem Menschen: blind fliegen die Vögel, ängstlich mit den Flügeln schlagend, hin und her, sie erkennen einander nicht – das Täubchen nicht den Habicht und der Habicht nicht das Täubchen – und niemand weiß, ob nicht das Verderben schon auf ihn wartet, während er weiter fliegt …

Ostap beschäftigte sich wieder mit seinen Angelegenheiten und lebte sein gewöhnliches Lagerleben, aber Andrij empfand – er wußte selbst nicht warum – eine gewisse Unruhe im Herzen. Die Kosaken hatten ihr Abendessen bereits eingenommen, das Abendrot war längst verglüht, und die Luft war voll von der Pracht einer wundervollen Julinacht. Allein Andrij suchte sein Lager nicht auf, er legte sich nicht schlafen und versenkte sich unwillkürlich in das Bild, das sich vor ihm ausbreitete. Am Himmel leuchteten viele Sterne voll weißen und kühlen Glanzes auf. Das Feld war über eine weite Strecke hin mit Wagen bedeckt, die allerlei schöne Dinge und den Proviant bargen, den man dem Feinde geraubt hatte, und an denen mit Teer gefüllte Eimer hingen. Neben und unter den Wagen, und nicht weit davon entfernt lagen die Saporoger weit ausgestreckt auf dem Grase. Sie waren in den verschiedensten, malerischsten Stellungen eingeschlafen: der eine hatte sich ein Bündel, der andere die Mütze unter den Kopf geschoben, ein dritter benutzte einfach den Körper seines Kameraden als Kissen. Neben jedem Kosaken lag ein Säbel, eine Büchse, eine kurze Pfeife mit Kupferbeschlag und einem eisernen Stäbchen, sowie ein Feuerstein. Schwerfällige Ochsen lagen, die Beine unter den Körper gezogen, auf dem Felde, und ihre großen weißlichen Massen glichen von ferne grauen Felsblöcken, die auf den abschüssigen Feldern verstreut lagen. Von allen Seiten ertönte das Schnarchen der auf dem Grase ruhenden Krieger, dem vom Felde her die über ihre Fesselung unwilligen Hengste mit lautem Gewieher antworteten.

Diese Julinacht bot indessen auch majestätische und drohende Bilder dar: den Widerschein der brennenden Dörfer im Umkreis. Hier stieg die Flamme stolz und königlich zum Himmel auf, dort loderte sie plötzlich – von neuer Nahrung gespeist – wie ein entfesselter Wirbel pfeifend bis zu den Sternen empor, und ihre Funken erloschen erst fern am Horizont. Drohend wie ein Karthäuser Mönch stand das abgebrannte schwarze Kloster da und ließ bei jedem Aufleuchten des Feuers seine ganze düstere Größe sehen; etwas weiter brannte der Klostergarten, man glaubte die in Rauch gehüllten Bäume prasseln zu hören, und, so oft die Flammen hervorzüngelten, fiel ihr Schein plötzlich mit violettem, phosphoreszierendem Licht auf die reifen Pflaumenbüschel oder verwandelte hie und da die gelben Birnen in eitel Gold, bisweilen aber tauchte gleich einer schwarzen Masse der elende Körper eines an einem Baumast oder an einer Mauer hängenden Juden oder Mönches auf, der zugleich mit dem Gebäude seinen Untergang gefunden hatte. In gemessener Entfernung umkreisten Vögel, die kleinen schwarzen Kreuzen auf einem feuerroten Felde glichen, den Brandherd.

Die umzingelte Stadt schien im Schlaf versunken, ihre Türme, Dächer, Zäune und Mauern leuchteten stumm im Widerschein der fernen Brände … Andrij schritt durch die Reihen der Kosaken. Die Scheiterhaufen, an denen die Wächter saßen, drohten jeden Augenblick zu verlöschen, und die Wächter selbst waren eingeschlafen, nachdem sie ihren kräftigen Kosakenappetit reichlich befriedigt hatten. Er wunderte sich nicht wenig über ihre Sorglosigkeit und dachte darüber nach, wie gut es doch sei, daß kein starker Feind in der Nähe und daß nichts zu fürchten wäre. Endlich näherte auch er sich einem der Wagen, kletterte hinauf und legte sich auf den Rücken, nachdem er die gefalteten Hände unter den Kopf geschoben hatte. Aber er konnte nicht einschlafen und blickte lange zum Himmel empor, der sich in seiner ganzen Unendlichkeit offen vor ihm ausbreitete; die Luft war rein und durchsichtig, das Sternenheer, das die Milchstraße bildete, zog sich schräg gleich einem Gürtel über den Himmel hin, und alles war wie mit Licht überflutet. Von Zeit zu Zeit schien Andrij alles zu vergessen, ein leichter Schlummer verhüllte wie ein Nebel den Himmel, der sich jedoch bald wieder aufklärte und ganz sichtbar wurde.

Mit einem Male war es ihm, als nähere sich ihm ein sonderbares menschliches Gesicht. Er glaubte natürlich, es sei ein Traum, der sich gleich wieder verflüchtigen werde, öffnete die Augen weit und sah, daß sich wirklich ein welkes und verhärmtes Gesicht über ihn gebeugt hatte und ihm in die Augen starrte. Lange, kohlschwarze, ungekämmte Haarsträhnen krochen wild aus dem dunklen, leicht übergeworfenen Kopftuch hervor. Das sonderbare Leuchten des Auges und die totenhafte Blässe des mageren Antlitzes mit den scharf hervortretenden Zügen verstärkten seine Meinung, ein Gespenst vor sich zu haben. Unwillkürlich griff er nach der Flinte und stieß fast krampfhaft hervor:

„Wer bist du? Bist du ein Teufel, so hebe dich weg, weit fort aus meinen Augen, bist du aber ein Mensch, so scherzest du zur Unzeit, ich nehme mein Gewehr und schieße dich nieder!“

Statt jeder Antwort legte die Erscheinung den Finger an den Mund und schien hierdurch um Schweigen zu flehen. Er ließ den Arm sinken und begann, sie aufmerksamer zu betrachten. An den langen Haaren, dem Hals, der braunen halbentblößten Brust erkannte er eine Frau. Sie schien eine Ausländerin zu sein: ihr Gesicht hatte eine gelblich-braune Farbe und war durch Krankheit völlig abgemagert, die breiten Knochen traten stark unter den eingefallenen Wangen hervor; der schmale Schlitz der Augenlider stieg bogenförmig nach oben empor. Je länger er sie betrachtete, um so bekannter schienen ihm ihre Züge. Endlich hielt er es nicht mehr aus und fragte:

„Sprich, wer bist du? Ich glaube, dich schon einmal gekannt oder gesehen zu haben?“

„Vor zwei Jahren in Kiew …“

„Vor zwei Jahren in Kiew,“ wiederholte Andrij und suchte sich an alles zu erinnern, was sein Gedächtnis ihm aus seiner Seminarzeit noch aufbehalten hatte. Noch einmal faßte er sie fest ins Auge und plötzlich schrie er laut auf: „Du – du bist die Tatarin! Die Zofe des Fräuleins, der Tochter des Wojewoden!“

„Pst!“ machte die Tatarin, faltete flehend die Hände und sah sich zitternd um, ob nicht etwa jemand durch Andrijs lauten Schrei erwacht sei.

„Sprich doch, sprich doch, weshalb bist du hier,“ flüsterte ihr Andrij beinah atemlos zu, die innere Erregung ließ ihn jeden Augenblick inne halten. „Wo ist das Fräulein? Lebt sie noch?“

„Sie ist hier, in der Stadt!“

„In der Stadt?“ wiederholte er und hätte beinah aufgeschrien; er fühlte wie sein ganzes Blut plötzlich zum Herzen strömte, „warum ist sie in der Stadt?“

„Weil der alte Herr dort ist, er ist seit anderthalb Jahren Wojewode in Dubno.“

„Und ist sie verheiratet? So sprich doch, sprich! Wie merkwürdig du bist! Was macht sie jetzt?“

„Sie hat seit zwei Tagen nichts mehr gegessen!“

„Was?“

„Die Einwohner unserer Stadt haben schon lange kein Stück Brot mehr gesehen, sie nähren sich nur noch von Erde …“

Andrij erstarrte vor Entsetzen.

„Das Fräulein hat dich von der Stadtmauer aus bei den Saporogern gesehen und mir den Auftrag gegeben: „Geh und sag dem Ritter: wenn er sich meiner erinnert, soll er zu mir kommen, wenn nicht – so soll er dir ein Stück Brot für meine alte Mutter geben – ich kann nicht sehen, wie meine Mutter vor meinen Augen stirbt. Es ist besser, ich sterbe zuerst und dann sie. Bitte ihn, umschlinge seine Knie und küsse seine Füße; er hat auch eine alte Mutter, er soll mir um ihretwillen ein Stück Brot geben.“

Die widerstreitendsten Gefühle erwachten in Andrij und bewegten die Brust des jungen Kosaken.

„Wie ist dir’s nur gelungen, hierher zu kommen?“

„Ich habe einen unterirdischen Gang benutzt.“

„Gibt es denn einen unterirdischen Gang hierher?“

„Ja.“

„Wo ist er?“

„Wirst du uns auch nicht verraten, Ritter?“

„Ich schwöre dir’s beim heiligen Kreuz.“

„Man geht erst am Ufer entlang und überschreitet das Flüßchen an der Stelle, wo das viele Schilf wächst.“

„Und er führt direkt in die Stadt hinein?“

„Gerade in das städtische Kloster.“

„Komm, komm, laß uns sogleich gehn.“

„Aber um Christi und der heiligen Jungfrau willen – erst ein Stück Brot!“

„Schon gut, du sollst es haben. Bleib hier am Wagen stehen, oder besser, leg dich hinein, so wird dich niemand sehen, alle schlafen, ich komme gleich zurück.“

Und er eilte zu dem Wagen, in dem die Vorräte seiner Truppe aufbewahrt wurden. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Die ganze Vergangenheit, alles, was durch das ständige Lagerleben, durch das rauhe Soldatendasein betäubt war – erwachte auf einmal wieder und ließ ihn die Gegenwart völlig vergessen. Wieder tauchte die stolze Frau wie aus dunklen Meeresfluten vor ihm empor, wieder leuchteten ihre herrlichen Arme in seinem Innern auf, ihre Augen, ihre lachenden Lippen, die dichten, dunkelbraunen Haare, die in krausen Locken über ihren Busen fielen – die festen, schöngeformten Glieder ihrer jungfräulichen Gestalt. Nein, dieses Bild war nie aus seinem Herzen geschwunden, es hatte nur für einige Zeit andern mächtigen Gefühlen Platz machen müssen, aber häufig genug hatte es den tiefen Schlaf des jungen Kosaken beunruhigt, und oft lag der Erwachte schlaflos auf seinem Lager, ohne sich den Grund hierfür erklären zu können …

Er ging, sein Herz klopfte bei dem Gedanken, sie wieder zu sehen, immer stärker und stärker, und seine jungen Knie wankten unter ihm. Als er die Wagen endlich erreicht hatte, wußte er nicht mehr, weshalb er gekommen war; er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und versuchte es, sich an das zu erinnern, was er eigentlich beabsichtigte. Endlich zuckte er zusammen, ein wilder Schrecken erfüllte ihn; plötzlich kam es ihm in den Sinn, daß sie vor Hunger stirbt. Schnell lief er zu dem Wagen heran und steckte sich mehrere große schwarze Brote unter den Arm; aber da ergriff ihn ein Zweifel, ob diese Nahrung, die wohl für einen kräftigen, nicht sehr wählerischen Saporoger genügen mochte, für ein so zartes Wesen wie sie nicht zu grob und zu schwer sein würde. Er erinnerte sich, daß der Hetman die Kosaken, denen die Bereitung des Breis oblag, noch gestern ausgescholten hatte, weil sie das ganze Buchweizenmehl verbraucht hatten, obwohl es für drei Mahlzeiten ausgereicht hätte. Fest davon überzeugt, daß er noch genügend Brei finden würde, holte er den Feldkessel seines Vaters hervor und ging damit zum Koch seiner Abteilung, der zwischen zwei Kesseln schlief, die wohl zehn Eimer fassen mochten und unter denen noch die Asche glimmte. Als er in die Kessel hineinblickte, sah er zu seinem Erstaunen, daß beide leer waren. Die Kosaken mußten geradezu unmenschliche Kräfte entwickelt haben, um alles aufzuessen, zumal seine Abteilung weniger Krieger zählte als die andern. Er blickte auch in die Kessel der anderen Abteilungen hinein, es war alles leer. Unwillkürlich fiel ihm das Sprichwort ein: „Die Saporoger sind wie Kinder: ist wenig da, so begnügen sie sich mit wenig, ist viel da, so lassen sie nichts übrig.“ Übrigens mußte sich im Wagen seines Vaters noch ein Sack mit Weißbrot befinden, den man bei der Plünderung der Klosterküche entdeckt hatte. Er ging geradewegs zum väterlichen Wagen, aber er fand den Sack nicht mehr vor. Ostap hatte ihn sich unter den Kopf gelegt und schnarchte, auf der Erde ausgestreckt, so laut, daß es durch das ganze Feld schallte. Andrij ergriff den Sack mit einer Hand und riß ihn unter Ostaps Kopf hervor, sodaß dieser auf den Boden sank. Ostap fuhr schlaftrunken auf und schrie mit geschlossenen Augen aus voller Kehle: „Greift, greift den verfluchten Polen, greift ihn, fangt doch sein Pferd, fangt sein Pferd!“ „Halt den Mund, sonst schlag ich dich tot,“ rief Andrij voller Schrecken und wollte mit dem Sack dreinschlagen. Aber Ostap war ohnehin schon wieder verstummt und schnarchte so laut, daß sich das Gras, auf dem er schlief, unter seinen Atemzügen hin- und herbewegte. Andrij sah sich scheu nach allen Seiten um, um sich darüber zu vergewissern, ob nicht Ostaps Geschrei einen von den Kosaken aufgeweckt hätte. In dem benachbarten Lager hatte sich in der Tat ein zottiger Kopf aufgerichtet und sah sich um, sank jedoch gleich wieder zu Boden. Andrij wartete noch zwei Minuten und zog dann mit seiner Last ab. Die Tatarin lag noch immer mit krampfhaft angehaltenem Atem auf dem Wagen.

 

„Steh auf, komm! Alle schlafen, fürchte dich nicht! Kannst du vielleicht eins von diesen Broten tragen, wenn ich keinen Platz für sie alle finden sollte?“ Mit diesen Worten lud er sich die Säcke auf den Rücken, nahm, als sie an einem Wagen vorbeigingen, noch einen Sack mit Hirse mit, ergriff selbst die Brote, die er der Tatarin zum Tragen geben wollte, und schritt dann, von seiner Last ein wenig zusammengebeugt, mutig durch die Reihen der schlafenden Saporoger hindurch.

„Andrij!“ rief der alte Bulba in dem Augenblick, als der Sohn an ihm vorbeikam. Sein Herz stockte, er blieb stehen und fragte zitternd: „Was willst du?“

„Du hast ein Weib bei dir! Wenn ich aufstehe, prügle ich dich durch, so groß du bist. Die Weiber führen einen nie zum Guten!“

Und mit diesen Worten stützte er den Kopf in die Hand und betrachtete aufmerksam die in ihr Tuch eingehüllte Tatarin.

Andrij stand mehr tot wie lebendig daneben. Er hatte nicht den Mut, seinem Vater ins Gesicht zu blicken. Doch als er endlich die Augen zu erheben wagte und ihn ansah, hatte der alte Bulba wieder den Kopf auf die Hand gestützt und schlief.

Andrij schlug ein Kreuz. Der Schrecken wich ebenso schnell aus seinem Herzen, wie er gekommen war. Als er sich nach der Tatarin umwandte, sah er sie in ihr schwarzes Tuch gehüllt, unbeweglich wie eine Granitsäule vor sich stehen, und der Widerschein der fernen Feuersbrunst spiegelte sich in ihren Augen, die starr waren wie die einer Toten. Er zupfte sie am Ärmel, und beide gingen, sich unablässig umschauend, zusammen vorwärts, bis sie endlich an einem Berghang vorbei in ein tiefes Tal oder an eine Böschung gelangten, auf deren Grunde sich ein Flüßchen träge dahinschlängelte; das Tal war mit Riedgras bewachsen und mit zahlreichen kleinen Erdhügeln übersät. Nachdem sie die Schlucht betreten hatten, konnten sie von dem Feld aus, auf dem die Saporoger lagerten, nicht mehr gesehen werden. Wenigstens sah Andrij, als er sich umwandte, die abschüssige Böschung sich hinter ihm gleich einer steilen Wand fast manneshoch erheben. Auf der Höhe schwankten einige große Feldblumen hin und her, und über ihnen stieg der Mond schräg gleich einer Sichel aus gemünztem Golde am Himmel empor. Ein leichter aus der Steppe herabwehender Wind ließ vermuten, daß es nicht mehr lange bis Tagesanbruch sei. Aber nirgends ertönte ein ferner Hahnenschrei: es gab schon seit langer Zeit weder in der Stadt noch in der ausgeplünderten Umgebung einen Hahn mehr.

Auf einem schmalen Brett überschritten sie den Fluß, dessen jenseitiges Ufer sich noch höher erhob als das andere und in Form eines steilen Abhanges emporstieg. Es schien dies der stärkste und von Natur auch der sicherste Punkt der städtischen Befestigungen zu sein; wenigstens war der Erdwall hier niedriger, und doch war von der Besatzung dahinter nichts zu sehen. Allerdings erhoben sich dafür in einiger Entfernung die starken Klostermauern. Das steile Ufer war überall mit Steppengras bewachsen, und der schmale Raum zwischen ihm und dem Flüßchen war mit mannshohem Schilfrohr bedeckt. Oben auf der Böschung sah man die Überreste eines geflochtenen Zauns, der wohl früher einen Gemüsegarten umfriedet hatte; davor wuchsen Disteln mit großen breiten Blättern, aus welchen Gänsefuß, stachelichte Kletten und Sonnenblumen hervorragten, die ihr Haupt stolz in die Luft streckten. Hier angelangt zog die Tatarin ihre Schuhe mit den hohen Absätzen aus und ging barfuß weiter, wobei sie sorgfältig ihr Kleid emporhob, denn der Weg wurde jetzt sumpfig und feucht. Sie bahnten sich mühsam einen Pfad durch das Röhricht, bis sie vor einem Haufen Reisig und Faschinen haltmachten. Sie entfernten das Reisig und fanden eine Art Erdhöhle, deren Öffnung wenig größer als die eines Backofens war. Die Tatarin bückte sich und ging voran, Andrij folgte ihr ebenfalls so gebückt wie möglich, um mit seinen Säcken hindurchzukommen, und bald befanden sich beide in vollkommener Finsternis.