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Sämmtliche Werke 4: Mirgorod

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Siebentes und letztes Kapitel

„Ah guten Tag, warum necken Sie denn meine Hunde?“ rief Iwan Nikiforowitsch, als er Anton Prokofjewitsch erblickte, denn man sprach allgemein nicht anders, als in scherzendem Tone mit ihm.

„Mögen sie alle verrecken! Wer denkt daran, sie zu necken!“ versetzte Anton Prokofjewitsch.

„Sie schwindeln!“

„Bei Gott nicht! Peter Fedorowitsch läßt Sie zu Tisch bitten.“

„Hm.“

„Bei Gott, er bittet Sie so dringend darum; ich kann es wirklich gar nicht ausdrücken. ‚Was soll das heißen‘, sagt er, ‚Iwan Nikiforowitsch geht mir ja aus dem Wege, wie einem Feinde. Er kommt nicht mehr zu mir; man sitzt nie mehr zusammen, und plaudert nicht mehr miteinander‘.“

Iwan Nikiforowitsch strich sich über das Kinn.

„‚Wenn Iwan Nikiforowitsch heute wieder nicht kommt, dann weiß ich wirklich nicht, was ich davon halten soll. Sicher führt er etwas gegen mich im Schilde. Anton Prokofjewitsch, tun Sie mir doch den Gefallen, sehen Sie zu, ob Sie ihn nicht überreden können.‘ Nun, was meinen Sie Iwan Nikiforowitsch? Kommen Sie mit? Sie finden dort eine reizende Gesellschaft beisammen!“

Aber Iwan Nikiforowitsch lag ruhig da und betrachtete einen Hahn, der auf einem Fuße stand und aus voller Kehle krähte.

„Wenn Sie wüßten Iwan Nikiforowitsch,“ fuhr der eifrige Abgeordnete fort, „was Peter Fedorowitsch für einen herrlichen Stör und für einen frischen Kaviar bekommen hat!“

Hier wandte ihm Iwan Nikiforowitsch das Gesicht zu und begann aufmerksamer zuzuhören.

Dies ermutigte den Abgesandten. „Kommen Sie schnell. Thomas Grigorjewitsch ist auch da. Was ist denn nur?“ fügte er hinzu, als er sah, daß Iwan Nikiforowitsch noch immer in der gleichen Stellung liegen blieb, „gehen wir – oder gehen wir nicht?“

„Ich mag nicht.“

Anton Prokofjewitsch war durch dieses „Ich mag nicht“ ganz verblüfft. Er hatte geglaubt, daß seine überzeugenden Vorstellungen den so würdigen Mann schon völlig gewonnen hatten: und nun mußte er ein glattes Nein vernehmen.

„Warum wollen Sie denn nicht,“ fragte er fast verdrießlich, obgleich ihm so etwas nur ganz selten passierte, (nicht einmal dann, wenn man ihn, wie das der Richter und der Polizeimeister zu ihrem Vergnügen zu tun pflegten, ein Stück brennendes Papier auf den Kopf legte).

Iwan Nikiforowitsch nahm eine Prise.

„Nun denn, machen Sie was Sie wollen, Iwan Nikiforowitsch, obgleich ich nicht verstehe, was Sie zurückhält.“

„Wozu soll ich hingehen,“ sagte endlich Iwan Nikiforowitsch, „der Räuber ist ja doch da.“ So nannte er gewöhnlich Iwan Iwanowitsch. Gerechter Gott! und wie lange war es her …

„Bei Gott, er ist nicht da! So gewiß ein gerechter Gott im Himmel lebt, er ist nicht da! Mich soll auf der Stelle der Blitz treffen!“ antwortete Anton Prokofjewitsch, der gewöhnt war, Gott in jeder Stunde zehnmal anzurufen. „Kommen Sie schnell, Iwan Nikiforowitsch.“

„Sie schwindeln ja, Anton Prokofjewitsch, er ist sicher da!“

„Bei Gott nein, so wahr mir Gott helfe, nein! Ich will nie von dieser Stelle weichen, wenn er da ist! Urteilen Sie selbst, warum sollte ich lügen? Hände und Füße sollen mir verdorren … Wie, Sie glauben mir noch immer nicht? Ich will hier vor Ihren Augen verrecken! Mein Vater, und meine Mutter und ich selbst, wir mögen alle um unsere Seligkeit kommen, wenn es nicht wahr ist! Glauben Sie mir noch immer nicht?“

Diese Beteuerungen beruhigten Iwan Nikiforowitsch vollkommen. Er befahl seinem Kammerdiener in dem endlosen Frack, ihm seine Hosen und seinen Nankingrock zu bringen.

Ich halte es für ganz überflüssig zu beschreiben, wie Iwan Nikiforowitsch seine Hosen anzog, wie man ihm die Halsbinde umwickelte und wie man ihm endlich in den Rock hineinhalf, der hierbei unter dem linken Ärmel platzte. Es genügt, wenn ich sage, daß er während dieser ganzen Zeit eine würdige Ruhe bewahrte und mit keinem Wort auf die Vorschläge Anton Prokofjewitschs einging, der ihm durchaus seinen türkischen Tabaksbeutel gegen etwas andres eintauschen wollte.

Unterdessen wartete die ganze Gesellschaft mit Ungeduld auf den entscheidenden Moment, wo Iwan Nikiforowitsch erscheinen, und wo endlich der allgemeine Wunsch in Erfüllung gehen würde, die beiden Ehrenmänner zu versöhnen. Viele waren nahezu überzeugt, daß Iwan Nikiforowitsch garnicht kommen würde. Der Polizeimeister wollte sogar mit dem schielenden Iwan Iwanowitsch eine Wette eingehen, daß er nicht kommen würde. Die Wette kam jedoch nicht zustande, weil der schielende Iwan Iwanowitsch vorschlug, der Polizeimeister solle sein angeschossenes Bein gegen sein schielendes Auge einsetzen; – der Polizeimeister fühlte sich ernstlich verletzt, aber die ganze Gesellschaft lachte im geheimen über diesen Scherz. Niemand wollte sich zu Tisch setzen, obwohl es schon längst zwei Uhr war, eine Zeit, zu der man in Mirgorod auch bei den feinsten Diners längst zu Mittag speist. Sowie Anton Prokofjewitsch in der Tür erschien, umringte ihn die ganze Gesellschaft augenblicklich, aber Anton Prokofjewitsch hatte auf die zahlreichen Fragen nur ein entschiedenes und lautes: „Er kommt nicht!“ Kaum war das Wort gefallen, als ein Hagelwetter von Scheltworten, Vorwürfen und vielleicht sogar Püffen seinen Kopf für die verfehlte Mission bedrohte, doch da tat sich die Türe auf, und Iwan Nikiforowitsch trat herein.

Wenn in diesem Augenblick Satan in höchsteigener Person, oder irgend ein Verstorbener eingetreten wäre – sie hätten bei den Anwesenden kein solches Erstaunen erregt, wie das unerwartete Erscheinen Iwan Nikiforowitschs. Anton Prokofjewitsch aber hielt sich die Seiten vor Lachen und freute sich unbändig, daß er die ganze Gesellschaft so zum Narren gehalten hatte.

Wie dem auch sei, alle hielten es für völlig unwahrscheinlich, daß Iwan Nikiforowitsch sich in so kurzer Zeit hatte ankleiden können, wie es sich für einen Edelmann ziemt. Iwan Iwanowitsch war in diesem Moment gerade nicht im Zimmer, er war aus irgend einem Grunde eben hinausgegangen. Als man sich vom ersten Erstaunen erholt hatte, äußerte die ganze Gesellschaft ihren lebhaften Anteil an dem Wohlbefinden Iwan Nikiforowitschs, und alle sprachen ihre Freude über die Zunahme seiner Körperfülle aus. Iwan Nikiforowitsch küßte alle Anwesenden und sagte: „Sehr verbunden“.

Unterdessen aber drang der Duft der Rübensuppe in das Zimmer und kitzelte in angenehmster Weise die Nasen der hungrigen Gäste. Alle gingen ins Eßzimmer. Eine lange Reihe von stillen und gesprächigen, dicken und dünnen Damen zog voran, und die lange Tafel erstrahlte in allen Farben. Ich werde nicht alle Speisen beschreiben, die aufgetragen wurden, werde nichts über die Knödel in saurer Sahne und das Gekröse, das es zur Rübensuppe gab, sagen, auch nicht von dem Truthahn mit der Pflaumen- und Rosinenfüllung, noch von der Speise, die einem in Kwas4 eingeweichten Paar Stiefeln gleicht, noch von der Sauce, dem Schwanenliede des alten Kochs, noch vom Pudding, der brennend serviert wurde, was die Damen immer sehr ängstigt und zugleich unterhält. Ich werde nicht von diesen Speisen sprechen, denn ich muß gestehn, daß ich sie viel lieber verzehre als mich des weiteren über sie auslasse.

Iwan Iwanowitsch hatte besonders einem mit Meerrettich zubereiteten Fisch Geschmack abgewonnen. Er beschäftigte sich eifrig mit dieser nützlichen und nahrhaften Veranstaltung, löste die allerkleinsten Gräten heraus und legte sie auf den Rand des Tellers. Dabei blickte er zufällig auf sein Visavis. Himmlischer Vater, war das merkwürdig! Ihm gegenüber saß Iwan Nikiforowitsch.

In demselben Augenblick sah auch Iwan Nikiforowitsch auf … Nein – ich kann nicht weiter! Man reiche mir eine andere Feder, nein – die meine ist viel zu matt und tot. Für dieses Bild bedürfte sie eines weit feineren Kieles! Der Ausdruck großer Verwunderung, die sich in ihren Gesichtern spiegelte, gab ihren Zügen etwas Steinernes. Jeder von ihnen erblickte das längst vertraute Gesicht, jeder von ihnen war dem Anschein nach unwillkürlich bereit, zum Freunde, der so unerwartet vor ihm saß, hinzutreten und ihm die Tabaksdose mit den Worten hinzuhalten: „Bitte, bedienen Sie sich“ oder „Darf ich Sie bitten, sich zu bedienen!“ Zugleich aber hatten die Gesichter etwas Furchtbares und Unheilverkündendes. Iwan Iwanowitsch und Iwan Nikiforowitsch waren wie in Schweiß gebadet.

Alle Anwesenden, soviel ihrer bei Tische waren, verstummten vor Spannung und konnten die Augen nicht von den einstigen Freunden wegwenden. Die Damen, die bis dahin in ein sehr interessantes Gespräch über die Entstehung der Kapaunen vertieft waren, brachen plötzlich ab. Alles schwieg. Es war ein Bild, würdig des Pinsels eines großen Künstlers.

Endlich zog Iwan Iwanowitsch sein Taschentuch hervor und begann sich zu schneuzen. Iwan Nikiforowitsch aber sah sich um und suchte mit den Augen nach dem Ausgang.

Aber der Polizeimeister hatte schon bemerkt, was mit ihnen vorging, und ließ die Türe noch fester verschließen. Die beiden Freunde wandten sich daher wieder ihren Speisen zu und würdigten einander keines Blickes mehr.

Sowie jedoch das Diner zu Ende war, sprangen die beiden alten Freunde von ihren Sitzen auf und sahen sich nach ihren Mützen um, um sich schleunigst davonzumachen. Da jedoch winkte der Polizeimeister, und Iwan Iwanowitsch (nicht unser Iwan Iwanowitsch, sondern der andere, mit dem schielenden Auge) stellte sich hinter Iwan Nikiforowitsch, während der Polizeimeister hinter Iwan Iwanowitsch trat. Beide begannen, sie von hinten zu stoßen, um sie gegeneinander zu drängen und nicht eher loszulassen, als bis sie sich die Hände gereicht hätten. Iwan Iwanowitsch (mit dem schielenden Auge) schob Iwan Nikiforowitsch, wenn auch ein wenig schief, doch immerhin ganz geschickt nach der Stelle, wo Iwan Iwanowitsch stand; der Polizeimeister dagegen nahm die Richtung etwas zu sehr nach der Seite, da er mit seinen störrischen Gehwerkzeugen, die ihrem Kommandanten diesmal garnicht parierten, durchaus nicht zurechtkommen konnte. Wie zum Trotz schwenkte er das Bein gar zu weit zurück und nach der entgegengesetzten Richtung (das kam möglicherweise daher, weil bei Tisch sehr viel verschiedene Getränke gereicht worden waren) – jedenfalls fiel Iwan Iwanowitsch auf eine Dame in einem roten Kleide, die sich aus Neugierde bis in die Mitte gedrängt hatte. Dieses Omen ließ nichts Gutes vermuten. Um die Sache wieder einzurenken, trat der Richter an die Stelle des Polizeimeisters, sog mit der Nase allen Tabak von der Oberlippe auf und drängte Iwan Iwanowitsch nach der andern Seite. Das ist die in Mirgorod übliche Art der Versöhnung, sie erinnert entfernt an das Ballspiel. Kaum aber hatte der Richter Iwan Iwanowitsch einen Stoß gegeben, als auch Iwan Iwanowitsch mit dem schielenden Auge sich aus allen Kräften gegen Iwan Nikiforowitsch stemmte und ihn vorwärts stieß. Der Schweiß floß Iwan Iwanowitsch von der Stirne herab wie das Regenwasser von einem Dach. Aber trotzdem beide Freunde sich heftig sträubten, wurden sie doch aneinandergedrängt, da beide Parteien von den Gästen tüchtig unterstützt wurden.

 

Man umringte sie von allen Seiten und ließ sie nicht früher auseinander, als bis sie sich die Hände gereicht hatten.

„Gott mit Ihnen Iwan Nikiforowitsch, und Iwan Iwanowitsch, sagen Sie doch ehrlich: warum haben Sie sich entzweit! Es war doch nur ein Unsinn! Schämen Sie sich doch vor Gott und vor den Menschen!“

„Ich weiß nicht,“ sagte Iwan Nikiforowitsch, der vor Müdigkeit laut schnaufte, (kein Zweifel, er war durchaus nicht abgeneigt, sich zu versöhnen) „ich weiß nicht, was ich Iwan Iwanowitsch getan habe. Aber warum hat er meinen Stall zerstört? Warum wollte er mich zugrunde richten?“

„Ich bin mir keiner bösen Absicht bewußt,“ sagte Iwan Iwanowitsch, ohne Iwan Nikiforowitsch anzusehen, „ich schwöre vor Gott und vor Ihnen allen, verehrte Freunde und Edelleute, ich habe meinem Feinde nichts getan! Warum verleumdet er mich, warum beschimpft er immer wieder meinen Rang und meinen Namen?“

„Was habe ich Ihnen denn für einen Schaden zugefügt, Iwan Iwanowitsch?“ sagte Iwan Nikiforowitsch. Noch einen Augenblick der Aussprache – und die lange Feindschaft war dicht daran, ganz zu verlöschen. Schon griff Iwan Nikiforowitsch in die Tasche, um seine Tabaksdose hervorzuholen und zu sagen: „Bitte bedienen Sie sich.“

„Ist das vielleicht kein Schaden,“ antwortete Iwan Iwanowitsch, ohne die Augen zu erheben, „wenn Sie, geehrter Herr, mich, meinen Rang und meine Familie durch ein Wort beschimpft haben, das hier zu wiederholen, nicht anständig wäre!“

„Iwan Iwanowitsch, erlauben Sie mir, Ihnen in aller Freundschaft zu sagen:“ (hierbei packte Iwan Nikiforowitsch Iwan Iwanowitsch beim Knopf, ein Zeichen seiner innigsten Sympathie) „der Teufel weiß, weswegen Sie sich beleidigt gefühlt haben: weil ich Sie einen „Gänserich“ genannt habe!“

Iwan Nikiforowitsch sah sofort ein, was für eine Unvorsichtigkeit er begangen hatte, als er dies Wort aussprach – aber es war schon zu spät, das Wort war heraus. Jetzt ging alles zum Teufel! War doch Iwan Iwanowitsch schon damals, unter vier Augen und ohne Zeugen, bei Nennung dieses Wortes ganz außer sich und in eine Wut geraten, die ich, weiß Gott, keinem Menschen wünschen möchte; urteilen Sie also selbst, meine verehrten Leser, was sollte nun geschehen, jetzt, wo das tödliche Wort in Gesellschaft, in Gegenwart vieler Damen gefallen war – denn da liebte es Iwan Iwanowitsch besonders, seine noble Lebensart zu zeigen. Wäre Iwan Nikiforowitsch etwas anderes eingefallen, hätte er Vogel statt Gänserich gesagt, die Sache hätte sich noch einrenken lassen, aber so … war natürlich alles vorüber!

Iwan Iwanowitsch warf Iwan Nikiforowitsch einen Blick zu – einen Blick! Hätte dieser Blick ausübende Gewalt gehabt, Iwan Nikiforowitsch wäre zu Staub und Asche verbrannt worden. Die Gäste verstanden diesen Blick und bemühten sich, sie zu trennen. Und dieser Mann, das Muster aller Freundlichkeit, der keinen Bettler vorübergehen lassen konnte, ohne ihn anzusprechen und auszufragen, dieser Mann lief in maßloser Wut davon. So mächtig sind die Stürme der Leidenschaft!

Einen ganzen Monat hörte man nichts von Iwan Iwanowitsch. Er schloß sich in seinem Hause ein. Der vorsintflutliche Kasten wurde geöffnet, und es wurden alle möglichen Dinge aus ihm hervorgeholt – ja was denn? Silberrubel, alte vom Großvater ererbte Silberrubel. Und diese Silberrubel wanderten in die schmutzigen Hände von Tintenklexern hinüber. Die Sache ging an den Appellationshof weiter, und erst als Iwan Iwanowitsch die freudige Nachricht erhielt, daß seine Sache morgen entschieden sein würde, erst da entschloß er sich endlich, wieder einen Blick in die Welt zu tun und etwas auszugehen. Oh, weh! Seit jenem Tage benachrichtigt ihn das Appellationsgericht täglich im Laufe von zehn Jahren, daß die Entscheidung morgen fallen werde.

Vor fünf Jahren kam ich einmal durch Mirgorod. Ich hatte mir eine ungünstige Zeit zum Reisen ausgesucht. Es war Herbst, das Wetter war feucht und trübe, überall lag Schmutz und Nebel. Ein unnatürliches Grün – die Folge des trübseligen, ununterbrochenen Regens – bedeckte wie ein dünnes Netz die Felder und Wiesen, und das stand ihnen so an, wie einem Greise Torheiten, oder einer alten Frau Rosen anstehen. Meine Stimmung war damals sehr vom Wetter abhängig: ich wurde stets traurig, sowie das Wetter schlecht war. Nichtsdestoweniger fühlte ich mein Herz heftiger schlagen, als ich mich Mirgorod näherte. Herrgott, wieviel Erinnerungen drängten sich mir auf! Ich hatte Mirgorod zwölf Jahre lang nicht gesehen. Damals lebten hier zwei einzigartige Freunde in rührender Liebe vereinigt. Und wie viele berühmte Männer waren seitdem gestorben! Der Richter Demian Demianowitsch war schon tot, auch Iwan Iwanowitsch mit dem schielenden Auge hatte das Zeitliche gesegnet. Ich fuhr durch die Hauptstraße. Überall ragten Stangen mit aufgehefteten Strohbündeln empor; offenbar fand gerade eine neue Planierung statt. Einige von den Hütten waren abgetragen, und die Reste von Zäunen und Flechtwerk standen ganz melancholisch da.

Es war ein Feiertag, ich ließ meinen mit Matten gedeckten Wagen vor der Kirche halten und trat so leise ein, daß niemand sich umsah. Freilich, es war ja auch niemand da, der sich hätte umsehen können. Die Kirche war fast leer, es war kaum ein Mensch darin: augenscheinlich fürchteten sich auch die Allerfrömmsten vor dem Straßenschmutz. Die Kerzen machten bei dem trüben oder besser kränklichen Tageslicht einen fast beängstigenden Eindruck; die Hallen waren düster, und die runden Scheiben der länglichen Kirchenfenster waren feucht von Regentränen. Ich trat in die Vorhalle und wandte mich an einen ehrwürdigen Mann mit grauen Haaren. „Gestatten Sie mir die Frage, lebt Iwan Nikiforowitsch noch?“ In diesem Augenblick flackerte das Lämpchen vor dem Gottesbild heller auf, und das Licht fiel gerade auf das Gesicht meines Nachbars. Wie sehr erstaunte ich, als ich bei näherem Hinsehen bekannte Züge entdeckte. Das war Iwan Nikiforowitsch in eigener Person, aber wie hatte er sich verändert!

„Sind Sie gesund Iwan Nikiforowitsch? Wie alt Sie geworden sind!“

„Ja, ich bin alt geworden,“ antwortete Iwan Nikiforowitsch. „Ich bin heute aus Poltawa gekommen.“

„Was Sie sagen! Bei dem schlechten Wetter sind Sie nach Poltawa gefahren?“

„Was soll man machen – der Prozeß!“

Unwillkürlich seufzte ich.

Iwan Nikiforowitsch hatte meinen Seufzer gehört und sagte: „Beunruhigen Sie sich nicht; ich habe die bestimmte Nachricht erhalten, daß die Sache in der nächsten Woche entschieden sein wird, und zwar zu meinen Gunsten.“

Ich zuckte die Achseln und ging, um mich nach Iwan Iwanowitsch zu erkundigen.

„Iwan Iwanowitsch ist hier, er ist oben auf dem Chor,“ sagte mir jemand. Ich erblickte eine magere Gestalt. War das wirklich Iwan Iwanowitsch? Sein Gesicht war mit Runzeln bedeckt, die Haare waren schneeweiß, und nur die Pekesche hatte sich nicht verändert. Nach der ersten Begrüßung wandte sich Iwan Iwanowitsch mit dem heiteren Lächeln, das seinem trichterförmigen Gesicht so gut stand, zu mir hin und sagte: „Soll ich Ihnen eine frohe Neuigkeit mitteilen?“

„Eine Neuigkeit?“ fragte ich.

„Morgen wird meine Sache entschieden; das Appellationsgericht hat es mir bestimmt versprochen!“

Ich seufzte noch tiefer und beeilte mich mit dem Abschied, da ich in einer sehr wichtigen Angelegenheit reiste. Ich bestieg meinen Wagen. Die elenden Gäule, die in Mirgorod unter dem Namen Kurierpferde bekannt sind, zogen an und verursachten mit ihren, in der grauen Schmutzmasse einsinkenden Hufen ein unangenehmes Geräusch. Der Regen floß in Strömen auf den auf dem Bock sitzenden Juden herab, der sich durch eine Matte zu schützen suchte. Die Feuchtigkeit drang mir durch Mark und Bein. Der wehmütige Schlagbaum mit dem Wärterhäuschen, in dem der Invalide seine graue Uniform flickte, zog langsam an mir vorüber. Und wieder breitete sich das stellenweise aufgewühlte schwarze, hie und da grünlich schimmernde Feld vor mir aus: nasse Krähen und Raben, der monotone Regen und ein tränenfeuchter, trostlos grauer Himmel!

Es ist eine traurige Welt, meine Herren!

Novellen

übersetzt von S. Bugow und Mario Spiro

Die Equipage

Das Städtchen B. sah viel fröhlicher aus, seitdem das ***er Kavallerieregiment in ihm Quartier genommen hatte, bis dahin war es dort entsetzlich langweilig gewesen. Wenn man einmal durch die Stadt fuhr und einen Blick auf die niedrigen, getünchten Häuschen warf, die mit einem ganz unglaublich sauren Gesicht dreinschauen, so … nein es ist unmöglich auszudrücken, wie es einem da ums Herze wurde, – so trübselig, als ob man sein ganzes Geld verspielt, oder bei einer unpassenden Gelegenheit eine große Dummheit gemacht hätte, – mit einem Worte: es war einem gar nicht gut zumute. Der Lehm hatte sich infolge des Regens von den Häusern gelöst, und die Wände hatten ihre ursprüngliche Weiße verloren und waren ganz scheckig geworden; die Dächer sind meistens mit Rohr gedeckt, wie es in unseren südlichen Städten Brauch ist. Die kleinen Gärtchen, die die Häuser umgaben, waren längst verschwunden, da der Stadthauptmann die Bäume des besseren Aussehens wegen hatte fällen lassen. Auf den Straßen begegnete man keiner Seele, es sei denn, daß ein Hahn quer über den Fahrdamm ging, der infolge des hohen Staubes so weich wie ein Kissen war. Dieser Staub verwandelt sich beim geringsten Regen in Dreck, und dann fanden sich in den Straßen des Städtchens B. jene fetten Tiere ein, die von dem zuständigen Stadthauptmann „Franzosen“ genannt wurden, streckten die ernsten Schnauzen aus ihren Badewannen und stimmten ein solches Grunzen an, daß dem Vorüberfahrenden nichts übrig blieb, als die Pferde zu schnellerem Laufe anzutreiben. Allerdings war es schwer, im Städtchen B. einem solchen zu begegnen. Nur selten, ganz selten, rasselte ein mit einem Nankingrock bekleideter Gutsbesitzer, der elf Bauernseelen sein eigen nannte, auf einem kleinen Wagen oder Wägelchen hindurch, indem er hinter den aufgestapelten Mehlsäcken hervorlugte und mit der Peitsche auf die braune Stute einhieb, der stets ein Füllen folgte. Der Marktplatz selbst hatte ein etwas trauriges Aussehen: das Haus des Schneiders ging törichterweise nicht mit der Fassade, sondern mit einer Ecke auf den Platz hinaus; ihm gegenüber wurde bald an die fünfzehn Jahre lang an einem steinernen Hause mit zwei Fenstern gebaut, und ferner sah man dort einen ganz für sich stehenden modernen Bretterzaun, der grau angestrichen war, damit er nicht so von dem Schmutze abstach. Diesen hatte der Stadthauptmann einmal in seiner Jugend, als er noch nicht die Gewohnheit hatte, gleich nach dem Mittagessen zu schlafen und zur Nacht ein gewisses, aus getrockneten Stachelbeeren bereitetes Gebräu zu trinken, zum Muster für die anderen Bauten errichten lassen. Sonst begegnete man überall nur geflochtenen Zäunen. Mitten auf dem Platze standen mehrere winzige Buden, in denen man immer einen Bund Bretzeln, ein Weib in einem roten Kopftuch, ein Pud Seife, ein paar Pud bittere Mandeln, Schrot zum Schießen, starkes baumwollenes Zeug und zwei Ladenburschen finden konnte, die zu jeder Tageszeit vor den Türen standen und Swajka5 spielten. Sowie jedoch das Kavallerieregiment im Kreisstädtchen B. Quartier genommen hatte, änderte sich alles ganz plötzlich. Das Straßenbild wurde bunter, belebte sich – und nahm, mit einem Wort, ein ganz anderes Aussehen an; die niedrigen Häuschen sahen des öfteren einen gewandten, schlanken Offizier mit einem Federbusch auf dem Kopfe vorübergehen, der zu einem Kameraden ging, um sich mit ihm über die Avancementverhältnisse und den vorzüglichen Tabak zu unterhalten, oder ein Spielchen zu machen, bei dem eine Droschke den Einsatz bildete: ein Gefährt, das man wohl mit Recht die Regimentsdroschke nennen konnte, da sie, ohne das Regiment zu verlassen, bei allen die Runde machte: – heute fuhr der Major in ihr, morgen erschien sie in der Remise eines Leutnants, und eine Woche darauf war sie wieder beim Major, dessen Bursche sie gründlich mit Öl einschmierte. Die geflochtenen Zäune zwischen den Häusern waren überall mit Soldatenmützen geziert, die in der Sonne hingen; stets flatterte ein grauer Mantel vom Tore herab, und in den Gäßchen stieß man immer auf Soldaten, deren Schnurrbärte so borstig waren, wie eine Stiefelbürste. Diese Schnurrbärte fehlten nirgends: wenn sich die Kleinbürgerinnen einmal mit ihren Krügen auf dem Marktplatze versammelten – so guckten hinter ihren Schultern ganz sicher ein paar solche Schnurrbärte hervor. Die Offiziere brachten etwas Leben in die Gesellschaft, die bis dahin nur aus dem Richter, der zusammen mit einer Diakonuswitwe ein Haus bewohnte, und dem Stadthauptmann bestand: einem ruhigen und bedächtigen Menschen, der aber den ganzen Tag über – vom Mittagessen bis zum Abend, und vom Abend bis zum nächsten Mittagessen – zu schlafen geruhte. Die Gesellschaft wurde noch zahlreicher und interessanter, nachdem das Quartier des Brigadegenerals hierher verlegt wurde. Die Gutsbesitzer aus der Umgebung, von deren Existenz bis dahin niemand etwas geahnt hatte, fingen jetzt an, des öfteren in dem Kreisstädtchen zu erscheinen, um mit den Herren Offizieren zusammenzutreffen, oder manchmal eine Partie Whist mit ihnen zu spielen, ein Spiel, von dem ihr durch die vielen Gedanken an die Aussaaten, die Aufträge der Ehefrau und an die Hasenjagden abgeplagtes Gehirn nur noch eine ganz dunkle Ahnung hatte.

 

Es tut mir sehr leid, daß ich mich nicht daran erinnern kann, was die Veranlassung war, daß der Brigadegeneral einmal ein großes Diner gab; die Vorbereitungen, die zu diesem Feste getroffen wurden, waren ganz außerordentlich; schon am Stadttor konnte man hören, wie in der Küche des Generals mit den Messern geklappert wurde. Ja, für dieses Diner waren die ganzen Marktvorräte aufgekauft worden, sodaß der Richter mit seiner Diakonuswitwe nichts als Kuchen aus Buchweizenmehl und Kartoffelbrei zu essen bekam. Der kleine Hof, der zu der Wohnung des Generals gehörte, war ganz mit Droschken und Kaleschen gefüllt. Die Gesellschaft bestand ausschließlich aus Herren: aus den Offizieren des Regiments und einigen Gutsbesitzern des Kreises. Von den letzteren war Pythagor Pythagorowitsch Tschertokutski sicher der bemerkenswerteste. Dies war einer der vornehmsten Aristokraten des B.er Kreises, der bei den Wahlen mehr Lärm machte, als alle andern zusammen und stets in einer prächtigen Equipage zu erscheinen pflegte. Er hatte früher bei einem Kavallerieregiment gedient und zu den schneidigsten und angesehensten Offizieren gehört; wenigstens war er auf allen Bällen und Festen und überall dort zu sehen gewesen, wo sein Regiment sich gerade aufhielt; darüber kann man sich übrigens am besten bei den Jungfrauen des Tambower und Ssimbirsker Gouvernements erkundigen, doch ist es nicht unmöglich, daß er auch in den übrigen Gouvernements zu einer gewissen Berühmtheit gelangt wäre, hätte er nicht infolge einer sogenannten unliebsamen Affäre seinen Abschied genommen. Hatte er jemandem eine Ohrfeige verabfolgt, oder hatte er selbst eine solche erhalten, dessen kann ich mich nicht mehr genau entsinnen; die Hauptsache war, daß er ersucht wurde, seinen Abschied zu nehmen. Darum hatte er aber doch nicht das geringste an seiner Würde eingebüßt; er trug einen Frack mit einer langen Taille, der die Form eines Waffenrockes hatte, Sporen an den Stiefeln und einen Schnurrbart unter der Nase, weil sonst wohl gar noch ein Edelmann annehmen konnte, daß er bei den Fußtruppen gedient hätte, die er verächtlich „Fußschleicher“ oder manchmal gar „Trampeltiere“ nannte. Er besuchte sämtliche Jahrmärkte, auf denen es immer sehr lebhaft zuging, und wo sich das ganze Innere Rußlands, das aus Müttern, Kindern, Töchtern und dicken Gutsbesitzern besteht, auf Wagen, Kaleschen, Dormeusen und solchen Karossen, wie sie noch niemand, auch nur im Traume gesehen hatte, zu seiner Kurzweil versammelt. Er erriet stets mit dem ihm angeborenen Spürsinn, wo ein Kavallerieregiment stand, und kam sofort angefahren, um den Herren Offizieren einen Besuch abzustatten; dann sprang er vor ihren Augen höchst gewandt aus seiner Equipage oder Droschke und war sofort mit ihnen bekannt. Bei den letzten Wahlen gab er dem Adel ein prachtvolles Diner, bei welcher Gelegenheit er öffentlich erklärte: falls er zum Adelsmarschall gewählt würde, wolle er aufs beste für die Herren Edelleute sorgen. Überhaupt benahm er sich stets als Grandseigneur, wie man sich in der Provinz auszudrücken pflegte; – er heiratete ein recht hübsches Mädchen, das ihm zweihundert Bauernseelen und einige tausend Rubel als Mitgift in die Ehe brachte. Das Geld wurde sofort in einem Gespann von sechs prächtigen Pferden, vergoldeten Türschlössern, einem zahmen Hausaffen und einem französischen Hofmeister angelegt. Auf die zweihundert Seelen, die zusammen mit den eigenen zweihundert vierhundert ausmachten, wurde zur Förderung gewisser kommerzieller Unternehmungen, eine Hypothek aufgenommen. Mit einem Wort, er war ein Gutsbesitzer comme il faut, d. h. ein höchst achtbarer und ehrenwerter Gutsbesitzer. Außer ihm nahmen noch einige andere Gutsbesitzer, über die aber nichts zu sagen ist, an dem Diner des Generals teil. Alle übrigen Gäste waren Militärs, die demselben Regiment angehörten; zwei von ihnen, ein Oberst und ein ziemlich dicker Major, waren Stabsoffiziere. Der General selbst war sehr kräftig und korpulent, im übrigen aber nach der Ansicht der Offiziere ein vortrefflicher Vorgesetzter, und hatte eine recht volle, gewichtige Baßstimme. Das Diner war ganz ungewöhnlich großartig. Der Stör, der Hausen, der Sterlet, die Trappgänse, der Spargel, die Wachteln, die Rebhühner und die Pilze – legten Zeugnis davon ab, daß der Koch seit einem ganzen Tage nichts Alkoholisches zu sich genommen hatte; außerdem hatten ihm die ganze Nacht hindurch vier Soldaten mit Messern in den Händen bei der Zubereitung von Frikassees und Gelees helfen müssen. Eine Unmenge von langhalsigen Flaschen voll Haute Lafitte, und von kurzhalsigen voll Madeira, der wunderbare Sommertag, die sperrangelweit geöffneten Fenster, die auf dem Tische stehenden Teller mit Eis, die zerknitterten Hemden unter den weiten Fräcken, ein wahres Kreuzfeuer von Gesprächen, das von dem tiefen Baß des Generals übertönt und mit Champagner gelöscht wurde; dies alles paßte ganz vortrefflich zueinander. Nach dem Diner erhoben sich die Gäste mit der angenehmen Empfindung einer gewissen Magenfülle, zündeten sich Pfeifen mit langen und kurzen Röhren an und traten, mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf die Terrasse hinaus.

„Ja, jetzt könnte man sie besichtigen,“ sagte der General. „Ach bitte, mein Lieber – “, sprach er zu seinem Adjutanten, einem jungen Herrn von recht sicherem Auftreten und angenehmem Äußeren, „lassen Sie doch die braune Stute herführen! Sie sollen gleich selbst sehen.“ Dabei tat der General einen Zug aus der Pfeife und blies den Rauch weit aus. „Sie hat hier noch nicht die richtige Pflege: dieses verdammte Nest hat keinen einzigen anständigen Stall. Dabei ist es“ – er tat wieder zwei Züge aus der Pfeife – „ein wirklich ganz famoser Gaul!“

„Besitzen Exzellenz ihn schon lange?“ meinte Tschertokutzky, der gleichfalls ein paar Züge tat.

4Eine Art kalte Schale.
5Das Spiel besteht darin, daß ein langer Nagel mit schwerem Kopfe so geworfen wird, daß er sich innerhalb eines eisernen Ringes in die Erde einbohrt.