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Sämmtliche Werke 4: Mirgorod

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„Warum?“ antwortete der Verwalter wie gewöhnlich, „sie sind verschwunden, glatt verschwunden. Der Blitz hat sie getroffen, die Würmer haben sie gefressen – sie sind verschwunden, gnädige Frau, – ganz verschwunden.“

Pulcheria Iwanowna begnügte sich vollkommen mit dieser Antwort. Als sie jedoch nach Hause kam, befahl sie, die Zahl der Wächter bei den spanischen Kirschen und bei den großen Winterbirnen zu verdoppeln.

Diese würdigen Herren, der Verwalter und der Dorfälteste, hielten es auch für ganz überflüssig, dem herrschaftlichen Speicher alles Mehl zukommen zu lassen, und meinten, daß die Herrschaft schon an der Hälfte genug hätte: zu guter Letzt bestand diese Hälfte gar nur aus allerhand verschimmelten und feuchten Resten, die auf den Märkten nicht verkauft worden waren. Gewiß stahlen der Verwalter und Dorfälteste außerordentlich viel, und das Gesinde, von der Wirtschafterin abwärts bis hinab zu den Schweinen, vertilgten eine schreckliche Menge von Äpfeln und Pflaumen – diese Tiere stießen nämlich mit ihren Rüsseln oft gegen die Bäume, um sich einen ganzen Fruchtregen herabzuschütteln – gewiß pickten die Sperlinge und Krähen sehr viel an – gewiß beschenkten die Knechte und Mägde ihren Verwandten in den andern Dörfern auf das reichlichste (sie holten sogar ganze Stücke Leinwand und alter Hausgewebe aus dem Speicher). Auch fand außerordentlich viel den Weg ins allgemeine Reservoir d. h. zum Gastwirt, und auch die Gäste, die phlegmatischen Kutscher und Diener mochten nicht wenig wegstehlen: jedoch die fruchtbare Erde brachte alles in solcher Überfülle hervor, und Afanassji Iwanowitsch und Pulcheria Iwanowna hatten so wenig Bedürfnisse, daß diese verheerenden Räubereien in der Wirtschaft vollkommen unbemerkt blieben.

Unsere beiden alten Leutchen liebten vor allen nach Art der Gutsbesitzer aus der alten Zeit auch sehr – zu essen. Kaum brach die Morgenröte an, (sie standen immer sehr zeitig auf), und kaum begannen die Türen ihr vielstimmiges Konzert, – da saßen die beiden auch schon bei Tisch und tranken Kaffee. Nach dem Kaffee ging Afanassji Iwanowitsch gewöhnlich in den Flur, schwenkte sein Taschentuch und rief: „Ksch, Ksch! Marsch! fort von der Treppe ihr Gänse!“ Im Hofe traf er meist den Verwalter und ließ sich gewohnheitsmäßig mit ihm in ein Gespräch ein, ließ sich mit der größten Ausführlichkeit von allen Arbeiten erzählen und gab dann Anweisungen und Befehle, die jeden durch die gediegene Wirtschaftskenntnis, von der sie zeugten, in Staunen gesetzt hätten; ein Neuling hätte es sich sicher nicht träumen lassen, daß man einem so aufmerksamen Hausherrn etwas stehlen könne. Aber der Verwalter war ein geriebener Herr: er wußte, welche Antworten er geben mußte, noch besser aber verstand er sich auf das Wirtschaften.

Dann ging Afanassji Iwanowitsch ins Haus zu Pulcheria Iwanowna zurück und fragte: „Pulcheria Iwanowna, wie denken Sie, wäre es nicht Zeit, einen kleinen Imbiß nehmen?“

„Was könnte man jetzt wohl essen, Afanassji Iwanowitsch? Vielleicht ein paar in Schmalz gesottene Pfannkuchen? Oder kleine Mohnkuchen? Oder ein paar gesalzene Pilze?“

„Meinetwegen – Pilze oder auch Mohnkuchen,“ antwortete Afanassji Iwanowitsch, und plötzlich deckte sich der Tisch mit einem Tischtuch, Pilzen und Mohnkuchen.

Eine Stunde vor dem Mittagessen nahm Afanassji Iwanowitsch wieder einen Imbiß, trank aus einem alten silbernen Becherchen einen Schnaps und aß ein paar Pilze, getrocknete Fischchen und dergleichen. Um zwölf Uhr setzte man sich zu Tisch. Außer den verschiedenen Schüsseln und Saucièren standen auf dem Tisch noch zahlreiche Töpfchen, die sorgfältig zugedeckt und verklebt waren, damit die zahlreichen angenehmen Erzeugnisse der alten, wohlschmeckenden Küche nicht ihr Aroma verlören. Beim Mittagstisch drehte sich die Unterhaltung gewöhnlich um Gegenstände, die eng mit der Mahlzeit verknüpft waren.

„Mir scheint,“ sagte zum Beispiel Afanassji Iwanowitsch, „daß diese Grütze etwas angebrannt ist. Meinen Sie nicht auch, Pulcheria Iwanowna?“

„Nein, Afanassji Iwanowitsch, nehmen Sie nur etwas mehr Butter, so wird sie nicht mehr angebrannt schmecken, oder hier, gießen Sie etwas Pilzsauce darüber – “

„Hm! vielleicht haben Sie recht,“ sagte Afanassji Iwanowitsch und reichte seinen Teller hin. „Ich will es mal versuchen.“

Nach dem Mittag legte sich Afanassji Iwanowitsch auf ein Stündchen nieder. Hierauf brachte ihm Pulcheria Iwanowna eine angeschnittene Wassermelone und sagte: „Afanassji Iwanowitsch, versuchen Sie einmal, sehen Sie nur, was das für eine schöne Melone ist.“

„Lassen Sie sich nicht dadurch täuschen, daß sie in der Mitte so schön rot ist, Pulcheria Iwanowna,“ sagte Afanassji Iwanowitsch, indem er sich eine gute Portion vorlegte, „es kommt vor, daß Melonen rot und doch schlecht sind!“

Die Melone wurde sofort verzehrt. Hierauf aß Afanassji Iwanowitsch noch einige Birnen und machte mit Pulcheria Iwanowna einen Spaziergang durch den Garten. Wenn sie wieder nach Hause kamen, besorgte Pulcheria Iwanowna ihre Geschäfte und er setzte sich vor die Tür und sah zu, wie der Speicher dem Beschauer bald sein Innerstes preisgab, bald wieder verbarg, und wie die Dienstmädchen sich unaufhörlich stoßend und drängend, allerhand Kram in Holzkisten, Sieben, Mulden und sonstigen Obstbehältern hin- und hertrugen. Nach einer Weile schickte er nach Pulcheria Iwanowna, oder er ging selbst zu ihr hin und sagte: „Was sollte ich jetzt wohl essen, Pulcheria Iwanowna?“

„Ja, was könnte man wohl essen …!“ meinte Pulcheria Iwanowna, „soll ich Ihnen vielleicht Quarkkuchen mit Beerenfüllung bringen lassen, die ich eigens für Sie aufbewahren ließ?“

„Ja, das wäre ausgezeichnet,“ sagte Afanassji Iwanowitsch.

„Oder vielleicht wollen Sie etwas rote Grütze essen?“

„Auch das läßt sich hören,“ antwortete Afanassji Iwanowitsch, und gleich darauf wurde all dieses hereingebracht und, wie zu erwarten war, mit Appetit verzehrt.

Vor dem Abendbrot versorgte sich Afanassji Iwanowitsch noch mit diesem oder jenem. Um ½10 Uhr setzte man sich zum Abendbrot. Darauf ging man sofort schlafen, und eine allgemeine Stille senkte sich auf diesen tätigen und doch ruhevollen Erdenwinkel herab.

Das Schlafzimmer Afanassji Iwanowitschs und Pulcheria Iwanownas war so warm, daß ein anderer kaum einige Stunden in ihm hätte zubringen können; aber Afanassji Iwanowitsch schlief noch eigens auf der Ofenbank, um es wärmer zu haben, obgleich die Hitze ihn des Nachts einige Male zwang, aufzustehen und im Zimmer auf und ab zu laufen. Hin und wieder stöhnte er leise im Gehen.

Gewöhnlich fragte dann Pulcheria Iwanowna: „Warum stöhnen Sie so, Afanassji Iwanowitsch?“

„Weiß Gott, Pulcheria Iwanowna,“ sagte Afanassji Iwanowitsch, „ich habe wohl ein wenig Leibdrücken!“

„Sollten Sie nicht vielleicht etwas zu sich nehmen, Afanassji Iwanowitsch?“

„Ich weiß nicht, Pulcheria Iwanowna; wird mir das auch bekommen? Übrigens, was könnte ich denn essen?“

„Nun, etwas saure Milch oder ein paar geschmorte Birnen?“

„Ja, so etwas – das wäre noch das Einzige,“ murmelte Afanassji Iwanowitsch; die schläfrige Magd mußte alle Schränke durchsuchen, und Afanassji Iwanowitsch aß einen Teller Milch oder Birnen, wonach er gewöhnlich erklärte: „Mir scheint, es ist mir schon wieder besser.“

Mitunter, wenn es schon heller war und eine angenehme Wärme im Zimmer herrschte, wurde Afanassji Iwanowitsch ganz munter; dann liebte er es wohl, ein wenig mit Pulcheria Iwanowna zu scherzen.

„Was würden wir machen, Pulcheria Iwanowna, wenn plötzlich Feuer im Hause ausbräche? Wohin würden wir uns flüchten?“ fragte er.

„Gott behüte uns davor!“ sagte Pulcheria Iwanowna und schlug ein Kreuz.

„Gewiß – aber nehmen wir einmal an, unser Haus würde niederbrennen? Wohin würden wir dann ziehen?“

„Gott weiß, was Sie da schwatzen, Afanassji Iwanowitsch! Wie kann denn unser Haus abbrennen! Das wird Gott nie zulassen!“

„Hm – und wenn es doch abbrennt?“

„Nun dann werden wir in die Küche übersiedeln. Sie müßten dann für einige Zeit in dem Zimmer wohnen, wo jetzt die Wirtschafterin haust.“

„Und wenn die Küche mit abbrennt?“

„Auch das noch! Das würde Gott nie zulassen, daß Haus und Küche so plötzlich niederbrennen. Dann müßten wir ja in den Speicher ziehen, bis das neue Haus fertig ist.“

„Hm – wenn nun aber auch der Speicher mit abbrennt?“

„Herrgott, was Sie nur reden! Ich will nichts davon hören, es ist eine Sünde, so zu sprechen. Gott straft einen für solche Reden!“

Aber Afanassji Iwanowitsch saß zufrieden lächelnd auf seinem Stuhl und freute sich, daß er Pulcheria Iwanowna ein wenig geneckt hatte.

Am allerinteressantesten erschienen mir jedoch die alten Leutchen, wenn sie Besuch hatten. Dann nahm in ihrem Hause alles einen andern Anstrich an. Man kann wohl sagen, diese prächtigen Menschen lebten ganz für ihre Gäste. Das Beste, was sie hatten, wurde herausgesucht, und sie wetteiferten miteinander, dem Gast die schönsten Erzeugnisse der ganzen Wirtschaft vorzusetzen. Und was dabei das Angenehmste war: in all ihrer Liebenswürdigkeit lag auch nicht eine Spur von Aufdringlichkeit. Die Treuherzigkeit, Gefälligkeit und Güte leuchtete ihnen aus den Augen und stand ihnen so gut, daß man unwillkürlich ihren Einladungen Folge leistete. Diese Güte und Freundlichkeit quoll aus der schlichten Einfalt ihrer braven und ehrlichen Seelen, und ihre Liebenswürdigkeit hatte nichts mit der eines Staatsbeamten gemein, der es mit Ihrer Hilfe zu etwas gebracht hat, Sie seinen Wohltäter nennt und vor Ihnen kriecht. Der Gast durfte nie am selben Tag wieder gehn: er mußte durchaus bei den Alten übernachten.

„Wie kann man bloß zu so später Stunde noch einen so weiten Weg antreten?“ pflegte Pulcheria Iwanowna zu sagen. (Gewöhnlich wohnte der Gast drei oder vier Werst weit von ihnen.)

„Natürlich,“ sagte Afanassji Iwanowitsch, „wer weiß, was einem alles passieren kann: es gibt doch Räuber und andres Gesindel, die einen überfallen können!“

 

„Gott möge Sie vor Räubern bewahren,“ sagte Pulcheria Iwanowna, „warum sprichst du zur Nacht von solchen Dingen. Ich sage es nicht der Räuber wegen, – man sollte überhaupt nicht in solch einer Dunkelheit fahren! Ja, und Ihr Kutscher – ich kenne doch Ihren Kutscher, er ist so ein dürftiger, kleiner Kerl, den wirft jede Stute um – und dann ist er jetzt sicherlich schon betrunken und schläft irgendwo.“

Und dem Gast blieb nichts anderes übrig: er mußte bleiben. Übrigens waren der Abend in dem niedrigen, warmen Zimmer, die treuherzige, erwärmende und zugleich einschläfernde Unterhaltung, und der Geruch, der von den nahrhaften und meisterhaft zubereiteten Gerichten, die den Tisch besetzten, aufstieg, eine entsprechende Belohnung. Ich sehe Afanassji Iwanowitsch noch ganz deutlich vor mir, wie er gebeugt im Lehnstuhl sitzt und dem Gaste voller Aufmerksamkeit, ja mit Entzücken zuhört. Zuweilen war auch von Politik die Rede. Der Gast, der meist auch nur selten aus dem Dorf herauskam, teilte dann wohl mit wichtiger und geheimnisvoller Miene seine Vermutungen mit und erzählte, daß die Franzosen sich heimlich mit den Engländern verbündet hätten, um Bonaparte wieder einmal auf Rußland loszulassen; oder er erzählte einfach von dem bevorstehenden Kriege. Dann pflegte Afanassji Iwanowitsch wohl zu antworten, indem er Pulcheria Iwanowna scheinbar gar nicht beachtete:

„Ich denke auch daran, in den Krieg zu gehen – : warum sollte ich auch nicht in den Krieg gehen?“

„Was er da wieder redet – das fehlt gerade noch,“ unterbrach ihn Pulcheria Iwanowna. „Glauben Sie ihm nicht,“ wandte sie sich an den Gast, „wie kann er in seinem Alter noch in den Krieg ziehen – der erste beste Soldat schießt ihn ja gleich tot; bei Gott, er schießt ihn tot. Ja, er wird auf ihn anlegen, zielen und ihn niederschießen.“

„Nun und was ist dabei?“ erwiderte Afanassji Iwanowitsch, „ich werde ihn auch niederschießen!“

„Hören Sie nur, was er wieder spricht,“ fiel ihm Pulcheria Iwanowna ins Wort, „wie kann er denn in den Krieg gehen! Seine Pistolen sind ja längst verrostet und liegen schon lange in der Rumpelkammer. Sie sollten sie nur ansehen: das sind ganz gräßliche Dinger, bevor man abdrückt, sprengt einem das Pulver das ganze Zeug auseinander. Er wird sich die Hände verstümmeln, und das Gesicht verunstalten, er wird sich noch für ewige Zeiten unglücklich machen!“

„Und wenn schon,“ sagte Afanassji Iwanowitsch, „ich werde mir eben ein neues Gewehr kaufen – und mir einen Säbel und einen Kosakenspieß anlegen.“

„Dummheiten, Dummheiten! Plötzlich fällt ihm etwas ein, und dann geht es los!“ sagte Pulcheria Iwanowna ganz ärgerlich. „Ich weiß ja, daß er spaßt, aber es ist doch unangenehm, so etwas anhören zu müssen. Sehen Sie, so spricht er immer, mitunter wird einem ganz bange, wenn man ihn so reden hört.“

Aber Afanassji Iwanowitsch saß höchst befriedigt darüber, daß er Pulcheria Iwanowna etwas geängstigt hatte, ganz zusammengebeugt in seinem Stuhl und lachte vergnügt.

Pulcheria Iwanowna war immer am interessantesten für mich, wenn sie einen Gast zu Tische führte. „Dies hier“, – sagte sie, indem sie den Verschluß einer Karaffe entfernte, „ist ein Schnaps, der auf Holz oder Salbei abgesetzt ist, der ist besonders gut gegen Schmerzen im Schulterblatt oder im Kreuz – oder der hier ist aus Tausendgüldenkraut und sehr nützlich gegen Ohrensausen und Flechten im Gesicht; und der da ist aus Pfirsichkernen destilliert, nehmen Sie doch ein Gläschen – ein herrlicher Duft nicht wahr? Wenn man beim Aufstehen zufällig gegen eine Tisch- oder Schrankecke stößt und sich eine Beule auf der Stirn holt, dann hat man nur nötig, vor dem Mittag-Essen ein Gläschen davon zu nehmen – und die Beule ist wie weggeblasen; in einer Minute ist alles spurlos verschwunden.“ Hierauf folgte eine Lobrede auf die übrigen Karaffen, und fast alle hatten irgend eine heilkräftige Wirkung. Wenn sie den Gast in diese vollständige Apotheke eingeführt hatte, so geleitete sie ihn vor eine ganze Sammlung von Tellern. „Das hier sind Pilze mit Pfefferkraut, und da das mit Nelken und Walnüssen. Eine Türkin hat mich gelehrt, sie einzusalzen – das war damals, als noch die Türken bei uns in der Gefangenschaft lebten. Eine so brave Türkin, man merkte es ihr garnicht an, daß sie Mohammed anbetete; sie betrug sich ganz unauffällig, ganz wie unsereiner und wollte nur kein Schweinefleisch essen: „unser Gesetz verbietet uns das“, pflegte sie zu sagen. Diese Pilze da sind mit Johannisbeerblättern und Muskatnüssen angerichtet, und das da sind große Feldnelken, es ist das erste Mal daß ich es versuche, sie mit Essig aufzukochen, ich weiß nicht, ob sie gut schmecken werden. Der Priester Iwan hat mir das Geheimnis mitgeteilt: man muß vor allem einen kleinen Zuber mit Eichenblättern auslegen, dann Pfeffer und Salz darauf streuen und zuletzt die Blüten von Mauseöhrchen darüber legen: aber so, daß die Schwänzchen alle nach oben zu liegen kommen. – Dies hier sind Pastetchen, mit Käsefüllung – die dort mit Schmalz, und das sind Afanassji Iwanowitschs Lieblingspasteten mit Kraut und Buchweizengrütze.“

„Ja,“ fügte Afanassji Iwanowitsch hinzu, „ich liebe sie sehr, sie sind so weich und etwas säuerlich.“

Pulcheria Iwanowna war überhaupt immer in bester Laune, wenn sie Besuch hatte. Die brave Alte! Sie ging vollkommen in ihren Gästen auf. Ich besuchte sie sehr gern, obgleich ich mich jedesmal schrecklich überaß, wie alle ihre Gäste, was mir sehr schädlich war, aber ich freute mich doch immer wieder, zu ihnen zu fahren. Übrigens glaube ich, daß die Luft in Kleinrußland eine besondere, die Verdauung befördernde Eigenschaft haben muß: wenn es hier jemand einfiele, sich so zu überessen, so würde er zweifellos sehr bald auf dem Tisch statt auf dem Bette liegen.

Die guten alten Leutchen … Jedoch meine Erzählung nähert sich einem sehr traurigen Ereignis, das das Leben dieses friedlichen Winkels für immer veränderte. Dieses Ereignis wirkt um so überraschender, als es durch einen ganz belanglosen Vorfall verursacht wurde. Aber nach dem seltsamen Lauf der Welt haben kleine Ursachen noch immer große Wirkungen gezeitigt, und umgekehrt große Unternehmungen oft nur winzige Erfolge gehabt. Irgend ein Eroberer sammelt alle Kräfte seines Reichs und kämpft viele Jahre lang, seine Feldherrn zeichnen sich aus und werden berühmt, und die ganze Geschichte schließt mit der Eroberung eines Fleckchens Erde, auf welchem man kaum ein paar Kartoffeln pflanzen kann. Und umgekehrt, ein andermal geraten zwei Wurstfabrikanten aus zwei verschiedenen Städten wegen irgendeiner Bagatelle aneinander, der Streit zieht die Städte und alle Dörfer und Flecken mit hinein, und plötzlich ist das ganze Reich in Mitleidenschaft gezogen. Aber lassen wir diese Betrachtungen – sie gehören nicht hierher; ich liebe überhaupt keine Betrachtungen, die nur Betrachtungen bleiben.

Pulcheria Iwanowna besaß ein graues Kätzchen, welches fast immer zu einem Knäul zusammengeballt zu ihren Füßen lag. Manchmal streichelte Pulcheria Iwanowna es freundlich und kraute ihm mit den Fingern den Hals, den das verwöhnte Kätzchen so hoch als möglich emporstreckte. Man kann nicht gerade sagen, daß Pulcheria Iwanowna das Kätzchen besonders liebte, aber sie hatte sich daran gewöhnt, es immer bei sich zu haben. Afanassji Iwanowitsch neckte sie mitunter wegen ihrer Zuneigung zu dem Tierchen.

„Ich begreife nicht, was Sie an der Katze finden, Pulcheria Iwanowna, was für einen Nutzen hat sie? Wenn Sie noch einen Hund hätten, – das wäre ganz etwas anderes – einen Hund kann man mit auf die Jagd nehmen; aber was macht man mit einer Katze?“

„Schweigen Sie nur still, Afanassji Iwanowitsch. Sie wollen ja nur so reden, und weiter nichts. Ein Hund ist nicht reinlich, ein Hund macht viel Schmutz, und wirft alles um – aber eine Katze ist ein stilles Geschöpf, die wird niemandem etwas zuleide tun.“

Übrigens machte sich Afanassji Iwanowitsch weder aus Hunden noch Katzen etwas, er redete nur so, um Pulcheria Iwanowna wieder einmal zu necken.

Hinter dem Garten befand sich ein großer Wald, der von dem unternehmenden Verwalter bisher noch verschont geblieben war; vielleicht weil der Lärm des Fällens leicht bis zu den Ohren Pulcheria Iwanownas dringen konnte. Dieser Wald war sehr verwildert und verwahrlost; die alten Baumstämme waren mit wilden Haselnußsträuchern bewachsen und sahen wie befiederte Taubenfüße aus. In diesem Walde hausten auch wilde Waldkater. Diese wilden Waldkater darf man jedoch nicht mit jenen kühnen Helden verwechseln, die auf den Häuserdächern herumlaufen; sie sind in der Stadt trotz ihrer schlechten Manieren weit zivilisierter als im Walde. Die Waldkatzen sind dagegen ein finsteres und wildes Volk; sie sind immer elend und mager, und miauen mit einer groben, unartikulierten Stimme. Manchmal dringen sie durch unterirdische Gänge in die Speicher ein und stehlen Speck, oder sie springen durch das Küchenfenster, wenn sie merken, daß der Koch ins Feld gegangen ist. Überhaupt fehlt es ihnen an allen edleren Regungen, sie leben nur von Raub und würgen die jungen Sperlinge in den eigenen Nestern. Diese Kater hatten seit längerer Zeit ein Liebesverhältnis mit dem schüchternen Kätzchen Pulcheria Iwanownas angeknüpft, sie beschnüffelten es durch ein Loch im Speicher und lockten es endlich zu sich, so wie wohl ein Trupp Soldaten eine dumme Bauerndirne verführt. Pulcheria Iwanowna bemerkte bald das Verschwinden der Katze und schickte Leute aus, um sie zu suchen; aber die Katze konnte nicht aufgespürt werden. So vergingen drei Tage, Pulcheria Iwanowna bedauerte den Verlust der Katze, aber bald war sie ganz vergessen. Eines Tages, als Pulcheria Iwanowna eben ihren Gemüsegarten revidiert hatte und mit einer Menge eigenhändig gepflückter frischer Gurken für Afanassji Iwanowitsch zurückkehrte, vernahm sie zu ihrer Überraschung ein jämmerliches Miauen. Unwillkürlich lockte sie das Kätzchen, rief „Ksch, ksch“, und plötzlich kam eine graue, magere, elende Katze aus dem Steppengras hervorgekrochen, der man es deutlich ansah, daß sie schon einige Tage nichts zu fressen bekommen hatte. Pulcheria Iwanowna ließ nicht nach, sie zu rufen, aber die Katze blieb stehen, miaute und wagte es nicht, näher zu kommen; sie war augenscheinlich in der Zwischenzeit sehr verwildert. Pulcheria Iwanowna ging voraus und hörte nicht auf, die Katze zu locken, die ihr allmählich ängstlich bis zum Speicher nachschlich. Als die Katze jedoch die alten Plätze wiedererkannte, folgte sie ihrer Herrin bis ins Zimmer. Pulcheria Iwanowna befahl sogleich, ihr Milch und Fleisch zu bringen, setzte sich vor ihr nieder und freute sich über die Gier, mit der ihr Liebling ein Stück nach dem andern verschlang und die Milch ausleckte. Die graue Vagabundin wurde zusehends dicker und fraß schon nicht mehr so gierig. Pulcheria Iwanowna streckte die Hand aus, um sie zu streicheln, aber die Undankbare hatte sich offenbar schon zu sehr an die wilden Kater gewöhnt, oder sie hatte den Kopf voll romantischer Ideen und glaubte wohl, Armut und Liebe sei besser als ein Palast (und die Kater waren arm wie Kirchenmäuse), kurzum, sie sprang aus dem Fenster und keiner von den Knechten und Mägden vermochte sie einzufangen.

Die alte Frau wurde nachdenklich. „Der Tod ist zu mir gekommen,“ murmelte sie vor sich hin, und hinfort konnte sie nichts mehr zerstreuen.

Den ganzen Tag war sie traurig. Vergeblich scherzte Afanassji Iwanowitsch und wollte wissen, warum sie plötzlich so melancholisch geworden sei, Pulcheria Iwanowna schwieg, oder sie gab Antworten, die Afanassji Iwanowitsch unmöglich befriedigen konnten. Am nächsten Tage sah sie ganz verändert aus.

„Was fehlt Ihnen, Pulcheria Iwanowna? Am Ende sind Sie gar krank?“ „Nein, ich bin nicht krank, Afanassji Iwanowitsch! Ich muß Ihnen etwas sehr Merkwürdiges mitteilen. Ich weiß, daß ich diesen Sommer sterben werde: der Tod ist schon bei mir gewesen, um mich zu holen.“ Afanassji Iwanowitschs Mund verzog sich schmerzlich, aber er suchte das in seiner Seele aufsteigende traurige Gefühl zu überwinden und sagte lächelnd: „Gott weiß, was Sie reden, Pulcheria Iwanowna. Sie haben gewiß statt des üblichen Kräutertranks ein Gläschen Pfirsichschnaps getrunken!“

„Nein, Afanassji Iwanowitsch, ich habe keinen Pfirsichschnaps getrunken,“ antwortete Pulcheria Iwanowna.

Afanassji Iwanowitsch bereute, daß er Pulcheria Iwanowna geneckt hatte: er sah sie an, und eine Träne hing an seiner Wimper.

„Ich bitte Sie, Afanassji Iwanowitsch, erfüllen Sie meinen Wunsch,“ sagte Pulcheria Iwanowna, „und lassen Sie mich wenn ich sterbe, an der Kirchhofsmauer beerdigen. Ziehen Sie mir das graue Kleid an, wissen Sie – das mit den kleinen Blümchen auf dem braunen Saum. Ziehen Sie mir nicht das Atlaskleid mit dem himbeerroten Streifen an – Tote brauchen keine Kleider – was sollte ich auch damit? Aber Ihnen kann es noch von Nutzen sein, Sie können sich einen schönen Schlafrock daraus machen lassen: wenn Gäste kommen, können Sie sich doch sehen lassen, und sie würdig empfangen.“

 

„Gott weiß, was Sie da schwatzen, Pulcheria Iwanowna,“ sagte Afanassji, „wer kann denn wissen, wann er sterben wird, und Sie erschrecken mich jetzt mit solchen Worten.“

„Nein, Afanassji Iwanowitsch, ich weiß schon, wann ich sterben werde. Aber Sie dürfen nicht um mich trauern. Ich bin schon alt, wir werden uns bald im Jenseits wiedersehen.“

Aber Afanassji Iwanowitsch schluchzte wie ein Kind.

„Afanassji Iwanowitsch, es ist eine Sünde, so zu weinen. Versündigen Sie sich nicht an Gott, erzürnen Sie ihn nicht mit Ihrem Schmerz. Ich bedaure nicht, daß ich sterben soll, nur das eine tut mir leid (ein tiefer Seufzer unterbrach für einen Augenblick ihre Rede), es tut mir leid, daß ich nicht weiß, wem ich Sie anvertrauen soll. Wer wird für Sie sorgen, wenn ich sterbe? Sie sind ja wie ein kleines Kind – wer für Sie sorgen will, müßte Sie lieb haben!“ Und bei diesen Worten lag ein solch tiefes, herzinniges Mitleid in ihren Zügen, daß ich nicht weiß, ob ihr jemand in diesem Augenblick ohne Bedauern hätte in die Augen sehen können.

Hierauf wandte sie sich an die Wirtschafterin, die sie hatte rufen lassen, und sagte: „Paß mir auf, Jawdocha, und sorge für den Herrn, wenn ich sterbe, hüte ihn wie deinen Augapfel, und wie dein eigenes Kind. Achte darauf, daß man in der Küche stets seine Lieblingsgerichte kocht, und daß Du ihm immer reine Wäsche und reine Kleider gibst, achte darauf daß er anständig angezogen ist, wenn Gäste kommen: sonst kann es noch am Ende passieren, daß er im einen alten Schlafrock herauskommt, er vergißt doch jetzt schon manchmal, ob es Feiertag oder ein Wochentag ist. Laß ihn nicht aus den Augen, Jawdocha, ich werde in jener Welt für dich beten, und Gott wird dich belohnen. Vergiß nicht, Jawdocha, du bist schon alt, und hast auch nicht mehr lange zu leben, häufe keine Sünde auf deine Seele. Wenn du nicht auf den Herren acht gibst, so wirst du nie wieder glücklich werden auf dieser Erde, ich werde Gott selbst bitten, dir kein seliges Ende zu gewähren. Du selbst wirst unglücklich sein, deine Kinder werden unglücklich werden, und dein ganzes Geschlecht wird ohne Gottes Segen sein.“

Die arme Alte! In diesem Moment dachte sie nicht an den gewaltigen Augenblick, der ihrer harrte, nicht an ihre eigene Seele, noch an das zukünftige Leben – sie dachte nur an ihren armen Kameraden, mit dem sie ihr Leben geteilt und den sie nun verwaist und hilflos zurücklassen mußte. Mit der größten Geschäftigkeit und Eile richtete sie alles so ein, daß Afanassji Iwanowitsch nach ihrem Tode ihre Abwesenheit nicht merken sollte. Ihre Überzeugung von der Nähe ihres Todes war so stark, ihre Seele war so davon erfüllt, daß sie wirklich nach einigen Tagen bettlägerig wurde und keine Nahrung mehr zu sich zu nehmen vermochte. Afanassji Iwanowitsch war die Aufmerksamkeit selbst, er wich keinen Augenblick von ihrem Bette. „Vielleicht sollten Sie doch etwas essen, Pulcheria Iwanowna,“ sagte er, und sah ihr ängstlich in die Augen. Aber Pulcheria Iwanowna sprach kein Wort. Endlich, nach langem Schweigen, schien es, als wollte sie etwas sagen, ihre Lippen bewegten sich, und – ihre Seele war entflohen.

Afanassji Iwanowitsch war aufs höchste betroffen. Das alles erschien ihm so unsinnig und schrecklich, daß er nicht einmal zu weinen vermochte. Trüben Auges blickte er auf die Tote, wie wenn er nicht verstünde, was dieser kalte Leichnam zu bedeuten hätte.

Man legte die Verstorbene auf den Tisch, zog ihr das Kleid an, welches sie sich selbst ausgesucht hatte, und gab ihr eine Wachskerze in die gefalteten Hände. Teilnahmslos sah er allem zu. Eine große Volksmenge aus den verschiedensten Ständen erfüllte den Hof; eine große Anzahl Gäste war zur Beerdigung gekommen; im Hofe wurden lange Tische gedeckt, Gebäck aus Reis und Rosinen (das russische Gericht, das bei keinem Totenmahl fehlen darf), Schnäpse und Kuchen standen in großen Massen umher, die Gäste weinten, betrachteten die Tote, unterhielten sich über ihren Charakter und sahen Afanassji Iwanowitsch an: er aber ging wie abwesend herum. Endlich trug man die Verstorbene hinaus, das Volk strömte hinterher, und auch er folgte mechanisch nach. Die Geistlichkeit erschien in vollem Ornat, die Sonne stand leuchtend am Himmel, die Säuglinge schrien auf den Armen ihrer Mütter, die Lerchen sangen, und eine Unzahl nur mit einem Hemde bekleideter Kinder lief durcheinander und tollte am Wege herum. Endlich stellte man den Sarg neben dem Grabe nieder, und bat ihn heranzutreten und die Verstorbene zum letztenmal zu küssen. Er trat hinzu und küßte sie, Tränen füllten seine Augen, aber es waren kalte, gefühllose Tränen. Der Sarg wurde hinabgelassen, der Priester ergriff als erster die Schaufel und warf eine Handvoll Erde hinunter: unter dem wolkenlosen Himmel stimmte der volle, langgezogene Chor des Vorsängers und zweier Kirchendiener das Lied vom ewigen Gedenken an. Die Totengräber ergriffen den Spaten, und bald füllte Erde das Grab und machte es dem Boden gleich. Da drängte Afanassji Iwanowitsch sich vor, und alle wichen zurück und machten ihm Platz, um zu sehen, was er tun würde. Er aber hob die Augen empor, blickte verstört um sich und sagte: „So also, ihr habt sie schon begraben! Warum …? …“ Er stockte und brachte den Satz nicht zu Ende. Aber als er nach Hause kam, und sah, daß sein Zimmer leer war, und daß sogar der Stuhl, auf dem Pulcheria Iwanowna zu sitzen pflegte, fehlte: da weinte er, da weinte er trostlos und bitterlich – und Tränenströme stürzten aus seinen trüben Augen.

Seitdem sind fünf Jahre vergangen. Welches Leid stillt nicht die Zeit? Welche Leidenschaft hält stand im ungleichen Kampfe mit der Zeit? Ich kannte einen jungen blühenden Mann in voller Jugendkraft, erfüllt von Edelmut und herrlichen Gaben, ich kannte ihn damals, als er leidenschaftlich verliebt war: seine Liebe war zärtlich, glühend, wahnsinnig, brutal und schüchtern zugleich; und in meiner Gegenwart, fast vor meinen Augen, raffte der unersättliche Tod den Gegenstand seiner Liebe, – ein zartes, engelgleiches Mädchen dahin. Ich habe nie solch’ furchtbare Ausbrüche des Seelenschmerzes, eines wahnsinnigen, verzehrenden Jammers, und einer so brennenden Verzweiflung gesehen wie die, die den unglücklichen Liebenden durchrasten. Ich hätte nie gedacht, daß der Mensch selbst sich eine solche Hölle schaffen könnte, in der kein Schatten, kein Bild, – nichts vorhanden ist, was auch nur im entferntesten einer Hoffnung ähnlich sieht … Man gab sich Mühe, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Man versteckte alle Waffen, mit denen er sich vielleicht hätte ein Leid antun können. Nach zwei Wochen aber hatte er plötzlich die Herrschaft über sich selbst wiedergewonnen, er begann wieder zu lachen und zu scherzen; man gab ihm die Freiheit, und das erste, wozu er sie benutzte, war – sich einen Revolver zu kaufen. Eines Tages wurden seine Verwandten durch einen plötzlichen Schuß aufgeschreckt: sie liefen hinzu und fanden ihn mit zerschmettertem Schädel. Der schnell herbeigerufene Arzt, dessen Kunst damals in aller Munde war, fand noch einige Lebenszeichen bei ihm, auch war die Wunde nicht unbedingt tödlich; und zu aller Erstaunen wurde er wieder hergestellt. Die Aufsicht über ihn wurde noch verschärft, sogar bei Tisch legte man nie ein Messer in seine Nähe. Man versuchte alles von ihm fern zu halten, womit er sich hätte töten können. Aber nur zu bald fand er wieder eine Gelegenheit und warf sich unter die Räder eines Wagens. Arme und Beine wurden ihm zerquetscht: aber auch diesmal genas er wieder. Ein Jahr später sah ich ihn in einer großen Gesellschaft. Er saß auf einem Stuhl und sagte fröhlich: „petit ouvert“, indem er eine Karte verdeckte; und hinter ihm, auf die Stuhllehne gestützt, stand seine junge Frau und spielte mit seinen Marken.