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Sämmtliche Werke 4: Mirgorod

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„Wer erinnert sich nicht noch des Jägers Mikita, oder des …“

„Und was ist mit dem Jäger Mikita geschehen?“ fragte der Philosoph.

„Halt! Ich will die Geschichte vom Jäger Mikita erzählen,“ rief Dorosch.

„Nein, ich will die Geschichte vom Mikita erzählen,“ schrie der Pferdehirt, „es war doch mein Gevatter!“

„Nein, ich will die Geschichte vom Jäger Mikita erzählen,“ sagte Spirid.

„Laßt ihn erzählen, laßt Spirid erzählen!“ riefen alle.

Spirid begann. „Du hast Mikita nicht gekannt, Herr Philosoph. Ja, das war ein seltener Mensch. Jeden Hund kannte er wie seinen leiblichen Vater. Der jetzige Hundeaufseher, Mikolo, der dritte dort in der Reihe, reicht lange nicht an ihn heran, obgleich er seine Sache auch gut versteht, aber gegen Mikita ist er nichts wie Schund und Dreck.“

„Du erzählst ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet,“ warf Dorosch ein und nickte zufrieden mit dem Kopfe.

Spirid fuhr fort. „Noch ehe du dir den Tabak aus der Nase wischst, hat der den Hasen gesehen. Es kam vor, daß er den Hunden zurief: ‚Auf, Räuber, auf Schneller‘ und saß selbst schon auf dem Gaul und sauste mit Windeseile davon. Es war unmöglich, vorauszusagen, ob er – die Hunde, oder die Hunde – ihn überholen würden. Der goß euch ein Viertel Branntwein hinunter, wie wenn nichts passiert wäre. Ein herrlicher Jäger! Aber plötzlich fing er an, sich in einem fort nach dem Fräulein umzusehen. War er in sie verschossen, oder hatte sie ihn schon behext, kurz der Mann war verloren, und ein richtiger Weiberknecht geworden. Weiß der Teufel, was aus dem geworden war. Pfui – man schämt sich, es auszusprechen.“

„Ausgezeichnet,“ sagte Dorosch.

„Das Fräulein brauchte ihn nur anzusehen, und die Zügel glitten ihm aus den Händen. Den ‚Räuber‘ nannte er ‚Brauner‘, er stotterte fortwährend und trieb weiß Gott was für einen Unsinn. Einmal kam das Fräulein in den Stall, wo er die Pferde putzte. ‚Erlaub mal, Mikita,‘ sagte sie, ‚daß ich meinen Fuß auf dich setze.‘ Und der Esel – freut sich noch und sagt: ‚nicht bloß deinen Fuß, setz dich ganz auf mich.‘ Das Fräulein hob den Fuß in die Höhe, und wie er ihr nacktes, volles, weißes Bein sieht, da hat mich der Zauber völlig betäubt, sagte er. Der Esel bückte sich, faßte ihre beiden nackten Beine mit seinen Händen und begann zu galoppieren wie ein Pferd, immer die Felder entlang und immer weiter; wohin sie eigentlich geritten waren, das wußte er nie zu sagen. Jedenfalls kam er halbtot zurück, und wurde von da ab dürr und mager wie ein Kienspan; als man einmal in den Pferdestall kam, lag an der Stelle, wo er sonst zu schlafen pflegte, nur ein Haufen Asche und ein leerer Eimer; er war verbrannt, ganz von selbst verbrannt. Und war doch ein Jäger gewesen, wie man auf der ganzen Welt keinen zweiten findet!“

Als Spirid seine Erzählung beendet hatte, begann man sich allerseits der Vorzüge des früheren Jägers zu erinnern.

„Hast du auch nichts von dem Scheptschicha gehört,“ wandte sich Dorosch an Choma.

„Nein.“

„He! Sieh an! Man scheint euch in der Bursa nicht viel Gescheites beizubringen. Na paß mal auf. Wir haben im Dorf einen Kosaken, Scheptun, einen feinen Kosaken sag ich dir. Er liebt es zwar, hin und wieder was zu stibitzen und einen ohne Grund anzulügen – aber er ist doch ein feiner Kosak. Seine Hütte liegt nicht weit von hier. Einst setzten sich also Scheptun und seine Frau zum Abendbrot, es war so um dieselbe Zeit wie jetzt; nach dem Abendessen legten sie sich nieder, und weil das Wetter schön war, legte sich die Frau auf den Hof, während sich Scheptun in der Hütte auf einer Bank ausstreckte, oder nein: die Frau lag in der Hütte auf der Bank und Scheptun auf dem Hof …“

„Die Frau legte sich auch nicht auf die Bank, sondern auf den Boden,“ rief eine Alte dazwischen, die auf der Schwelle stand und, den Kopf in die Hand gestützt, zuhörte.

Dorosch sah sie an, schlug die Augen nieder, sah sie dann noch einmal an und sagte nach einer Weile: „Wenn ich dir öffentlich deinen Unterrock aufstreife, wird dir das sicher nicht angenehm sein.“

Die Warnung verfehlte ihre Wirkung nicht; die Alte schwieg und hütete sich, ihn noch einmal zu unterbrechen.

Dorosch fuhr fort. „In der Wiege, welche mitten in der Hütte hing, lag ein einjähriges Kind, ich weiß es nicht mehr, ob es ein Knabe oder ein Mädchen war. Die Frau des Scheptun lag eine Weile da, da hört sie plötzlich, wie der Hund vor der Hütte scharrt und heult und heult, – es war um davonzulaufen. Die Frau erschrickt – die Weiber sind ja so ein dummes Volk, steckt ihnen abends die Zunge durch die Türspalte, so verlieren sie den Kopf vor lauter Angst – sie denkt aber doch: ich werde dem verdammten Hund eins auf die Schnauze geben, dann wird er wohl mit seinem Geheul aufhören. Sie nimmt also die Ofenzange und will die Tür öffnen, kaum aber hat sie sie ein wenig aufgetan, da springt der Hund zwischen ihren Beinen hindurch und stürzt auf die Wiege des Kindes los. Jetzt sah die Frau erst, daß es gar kein Hund war, sondern das Fräulein – ja wenn es noch das Fräulein gewesen wäre, wie sie es sonst gesehen hatte – das wäre noch nicht so schlimm gewesen; aber die Sache war eben die und der Umstand der: sie war ganz dunkelblau, und ihre Augen glühten wie feurige Kohlen. Sie ergriff das Kind, biß ihm die Gurgel entzwei und fing an, ihm das Blut auszusaugen. Die Frau schrie bloß: Ach und weh, und stürzte aus der Hütte. Als sie sah, daß die Tür im Flur verschlossen war, kroch sie auf den Dachboden: da sitzt nun das dumme Weib und zittert, aber plötzlich sieht sie, wie das Fräulein ihr auf den Boden nachklettert – und hier wirft sich das Fräulein über das dumme Weib und fängt an, sie zu beißen. Am nächsten Morgen holt Scheptun seine Frau ganz blau und zerbissen vom Boden herunter – und am folgenden Tage starb das dumme Weib. Was es nicht für Dinge und Vorfälle gibt! Ja, ja, wenn sie auch von vornehmer Herkunft ist – eine Hexe bleibt sie doch!“

Nach dieser Erzählung blickte sich Dorosch zufrieden im Kreise um und bohrte seine Finger tief in die Pfeife, um sie von neuem zu stopfen. Das Hexenthema war unerschöpflich, ein jeder brannte darauf, etwas zu erzählen. Zu dem einen war die Hexe in Gestalt eines Heuschobers bis dicht an die Tür gekommen; einem andern hatte sie die Mütze oder die Pfeife gestohlen; vielen Mädchen im Dorfe hatte sie die Zöpfe abgeschnitten, und andern das Blut eimerweis ausgesogen.

Endlich merkte die ganze Gesellschaft, daß sie sich erheblich verplaudert hatte, denn es war auf dem Hofe stockfinster geworden. Alle suchten ihr Lager auf, das sich teils in der Küche, teils auf dem Speicher oder im Hofe befand. „Nun, Herr Choma! für uns ist es jetzt Zeit, zu der Toten zu gehn,“ sagte der alte Kosak, indem er sich an den Philosophen wandte; sie gingen also zu viert – Spirid und Dorosch kamen auch mit – zur Kirche und wehrten mit ihren Peitschen die Hunde ab, die in Massen auf der Dorfstraße herumlungerten, bellten und sich wütend in die Peitschengriffe verbissen.

Je mehr sie sich der erleuchteten Kirche näherten, um so lebhafter war die Angst, die der Philosoph im geheimen in seinem Herzen aufsteigen fühlte, obschon er sich durch einen tüchtigen Krug Schnaps gestärkt hatte. Die Geschichten und Abenteuer, die er soeben gehört hatte, hatten seine Phantasie noch mehr erregt. Die Dunkelheit, die in der Nähe des Staketenzaunes und unter den Bäumen herrschte, erhellte sich ein wenig, die Strecke wurde freier. Endlich traten sie in die alte Umfriedung vor der Kirche ein: da gab es keinen Baum, nur ödes Feld, und dahinter lagen in nächtliches Dunkel gehüllte Wiesen. Die drei Kosaken stiegen mit Choma die steilen Stufen der Treppe bis zum Flur hinauf und betraten die Kirche. Hier wünschten sie dem Philosophen eine glückliche Vollendung seiner Aufgabe und gingen fort, nachdem sie auf Befehl ihres Herrn die Tür hinter ihm geschlossen hatten.

Der Philosoph war allein. Erst gähnte er ein paarmal, dann streckte er sich, blies in beide Hände und sah sich endlich in der Kirche um. In der Mitte stand der schwarze Sarg. Vor den dunklen Heiligenbildern brannten Kerzen, aber das Licht erleuchtete nur den Altar und warf einen schwachen Schimmer bis in die Mitte der Kirche. Der hohe altertümliche Altar machte einen recht gebrechlichen Eindruck; das durchbrochene und vergoldete Schnitzwerk hatte nur noch an ganz vereinzelten Stellen seinen Glanz bewahrt, die Vergoldung war stellenweise abgebröckelt oder nachgedunkelt. Die Gesichter der Heiligen waren ganz schwarz und blickten sehr düster und ernst aus den Rahmen. Der Philosoph sah sich noch einmal um. „Nun,“ sagte er, „wovor hätte ich mich hier zu fürchten? Kein Mensch kann herein, und gegen Tote und Gespenster aus der andern Welt habe ich meine Gebete; wenn ich die hersage, wird kein Geist es wagen, mich auch nur mit einem Finger zu berühren. Ach was,“ fügte er resigniert hinzu, „also fangen wir an zu lesen.“ Als er in die Nähe des Chors kam, erblickte er einige Bündel Kerzen. „Das ist ausgezeichnet,“ dachte der Philosoph, „ich werde die ganze Kirche taghell erleuchten! Schade nur, daß man hier im Gotteshause keine Pfeife rauchen darf!“

Und er fing an, jedes Gesims, jedes Lesepult und jedes Heiligenbild mit Kerzen zu versehen; er sparte nicht mit ihnen, und bald war die ganze Kirche von Licht erfüllt. Nur oben schien die Dunkelheit noch größer geworden zu sein, und die düsteren Heiligen schauten noch finsterer aus ihren altmodischen, geschnitzten Rahmen, deren Vergoldung hier und da aufblitzte. Er näherte sich dem Sarge und blickte verstohlen der Toten ins Antlitz – ein leichtes Frösteln durchlief seine Glieder. Er mußte die Augen schließen vor dieser dämonisch strahlenden Schönheit!

Er wandte sich ab und wollte gehen; aber infolge einer seltsamen Neugierde, die den Menschen besonders in Augenblicken der Angst zu quälen pflegt, konnte er es nicht unterlassen, im Fortgehen noch einen Blick auf die Tote zu werfen, und als derselbe Schauder ihn durchrieselte, sie noch einmal anzusehen. Und in der Tat, die grausame Schönheit der Verstorbenen erschien ihm schrecklich. Vielleicht hätte sie diese lähmende Furcht nicht hervorgerufen, wenn sie weniger schön gewesen wäre. In den Zügen war nichts Schlaffes, Trübes, Erstarrtes; es war dem Philosophen, als wenn ihn die Tote trotz ihrer geschlossenen Augen ansähe. Es schien ihm, als ob eine Träne zwischen den Wimpern des rechten Auges hervorquelle, und als sie über die Wange rollte, sah er deutlich, daß es ein Blutstropfen war.

 

Er trat schnell zum Chor, schlug das Buch auf, und begann, um sich Mut zu machen, so laut als möglich zu lesen. Seine Stimme schlug gegen die längst verstummten, tauben Holzwände, aber sein voller Baß fand in der Totenstille kein Echo und erschien dem Leser rauh und fremd. „Wovor soll ich mich fürchten,“ dachte er sich, „sie wird doch nicht aus dem Sarge aufstehen! Sie wird doch Furcht vor dem Wort Gottes haben! Sie soll ruhig liegen bleiben! Was wäre ich für ein Kosak, wenn ich Furcht hätte? Sicher, ich habe ein wenig zu viel getrunken, daher ist mir’s so unheimlich. Ich will jetzt eine Prise nehmen. Hm, ein feiner Tabak! Ein herrlicher Tabak!“ Allein, während er die Seiten umblätterte, schielte er immer wieder nach dem Sarge, und ein unabweisbares Gefühl flüsterte ihm ins Ohr: „Jetzt wird sie gleich aufstehen. Da – jetzt erhebt sie sich. Jetzt sieht sie hierher!“

Aber nichts störte die Totenstille, der Sarg stand unbeweglich da, und die Kerzen strömten ein ganzes Meer von Licht aus. Wie schrecklich ist doch eine hellerleuchtete Kirche – nachts, wenn sie einen Leichnam beherbergt, und keine Menschenseele in ihr ist!

Er erhob seine Stimme und begann in den verschiedensten Tonarten zu singen, um den Rest von Angst in seiner Seele zu betäuben. Aber immer wieder wanderten seine Augen zum Sarge, wie wenn sie unwillkürlich fragen wollten: „und was wird geschehen, wenn sie sich plötzlich erhebt, und aus dem Sarge steigt?“

Allein der Sarg rührte sich nicht. Wenn auch nur das kleinste Geräusch zu hören gewesen wäre! Wenn nur ein lebendes Wesen einen Laut von sich gegeben hätte! Aber nicht einmal ein Heimchen machte sich im Winkel bemerkbar. Nur dann und wann hörte man das schwache Knistern einer entfernten Kerze, oder den leicht aufklopfenden Ton eines zu Boden fallenden Wachströpfchens.

„Wie wenn sie aufstünde!“

Sie erhob den Kopf …

Er schaute wild um sich und rieb sich die Augen. Wahrhaftig, sie lag nicht mehr, sie saß aufrecht im Sarge. Er wandte den Blick ab, aber im nächsten Moment sah er wieder mit Schrecken nach dem Sarge. Sie war aufgestanden – und ging mit geschlossenen Augen durch die Kirche … immer wieder breitete sie die Arme aus, als wolle sie jemanden umschlingen!

Jetzt kam sie direkt auf ihn zu. In seiner Todesangst beschrieb er einen Kreis um sich und betete aus Leibeskräften. Er sagte alle Beschwörungen her, die ihn ein Mönch gelehrt, welcher sein ganzes Leben lang mit Hexen und bösen Geistern zu tun gehabt hatte.

Dicht vor dem Kreise blieb sie stehen. Man sah, sie hatte nicht die Macht, ihn zu überschreiten und wurde ganz blau, wie ein Mensch, der schon vor mehreren Tagen gestorben ist. Choma hatte nicht den Mut, sie anzusehen, sie war zu schrecklich. Ihre Zähne schlugen aufeinander, und sie öffnete ihre toten Augen, aber sie vermochte nichts zu sehen. Voller Wut – die sich deutlich in ihrem verzerrten Gesichte widerspiegelte – wandte sie sich nach der anderen Seite, und umschlang mit ihren ausgebreiteten Armen jeden Pfeiler, und betastete jede Ecke: sie wollte Choma fangen. Endlich blieb sie stehen, drohte mit dem Finger und legte sich wieder in ihren Sarg.

Der Philosoph konnte nicht gleich wieder zu sich kommen, und blickte voller Furcht auf die enge Behausung der Hexe. Da aber riß sich der Sarg plötzlich mit einem Rucke los und begann mit furchtbaren Pfeifen durch die Kirche zu fliegen, wobei er die Luft nach allen Richtungen kreuzte. Der Philosoph sah ihn einen Augenblick dicht über seinem Kopf, aber er bemerkte wohl, daß er den von ihm beschriebenen Kreis nicht zu berühren vermochte, und verstärkte seine Beschwörungen. Der Sarg stürzte mitten in der Kirche wieder herab und blieb unbeweglich liegen. Wieder erhob sich der Leichnam, der jetzt ganz blau und grün aussah. Da ertönte der ferne Ruf eines Hahnes: der Leichnam sank in den Sarg zurück, und der Deckel fiel krachend zu.

Dem Philosophen klopfte das Herz zum Zerspringen. Er war ganz in Schweiß gebadet, aber durch den Hahnenschrei ermutigt, fing er an, schneller zu lesen, bis er sein Pensum Seite für Seite vollendet hatte. Beim ersten Frührot lösten ihn der Vorsänger, und der alte Jawtuch, der damals das Amt eines Kirchenvorstehers bekleidete, ab.

Nachdem der Philosoph sein fernes Lager erreicht hatte, konnte er noch lange nicht einschlafen. Endlich aber siegte die Müdigkeit, und er schlummerte bis zum Mittag. Als er erwachte, glaubte er das ganze nächtliche Abenteuer geträumt zu haben. Man gab ihm einen Quart Schnaps zur Stärkung. Beim Essen ermunterte er sich vollkommen, flocht ein paar Bemerkungen in die Unterhaltung ein und aß beinahe allein ein ziemlich ausgewachsenes Ferkel auf. Aber ein unerklärliches Gefühl hielt ihn ab, von den Ereignissen in der Kirche zu sprechen, und er antwortete auf alle neugierigen Fragen: „Ja, es gab dort mancherlei Wunderbares.“ Der Philosoph gehörte zu den Menschen, welche sehr leutselig werden, wenn man ihnen gut zu essen gibt. Er lag mit der Pfeife zwischen den Zähnen, auf der Bank, sah alle mit freundlichen Blicken an und spuckte unaufhörlich aus.

Nach dem Essen befand sich der Philosoph in der besten Laune. Er fand Zeit, durch das ganze Dorf zu spazieren und schloß fast mit allen Bekanntschaft; aus zwei Hütten wurde er sogar herausgeworfen, und eine hübsche junge Frau versetzte ihm einen Schlag mit der Schaufel, als er in seiner Neugierde nachprüfen wollte, aus was für einem Stoff ihr Hemd und ihr Rock genäht wären. Aber je näher der Abend heranrückte, um so nachdenklicher wurde der Philosoph. Eine Stunde vor dem Abendbrot versammelte sich fast das ganze Gesinde, um „Grütze“ oder „Klötzchen“ zu spielen, eine Art Kegelspiel, bei dem man statt der Kugeln lange Stöcke benutzt, und wo der Gewinner dann das Recht hat, auf dem Rücken seines Partners herumzureiten. Dieses Spiel hatte für den Zuschauer etwas äußerst Interessantes: oft stieg der Pferdehirt, ein breitschulteriger Kerl, der aufgeschwemmt war wie ein Pfannkuchen, auf den Rücken des Schweinehirten, eines elenden, ganz runzligen Männchens. Ein anderes Mal mußte der Pferdeknecht seinen Rücken darbieten, und Dorosch sagte jedesmal, wenn er ihn bestieg: „das ist ein kräftiger Stier“. Die solideren Leute saßen an der Küchenschwelle, rauchten ihre Pfeifen und blieben immer ernst, auch wenn die Jungen sich über einen Witz des Pferdeknechts oder Spirids vor Lachen ausschütten wollten. Choma machte vergeblich den Versuch, am Spiele teilzunehmen; ein finsterer Gedanke saß ihm wie ein Nagel im Kopf. Beim Abendbrot gab er sich die größte Mühe, munter zu sein, aber seine Angst stieg in dem Maße, als die nächtliche Dämmerung den Himmel überzog.

„Nun wird es auch Zeit für uns, Herr Seminarist,“ sagte der uns bekannte alte Kosak, indem er zugleich mit Dorosch aufstand, „komm, gehen wir an die Arbeit!“

Man führte Choma wie am vorigen Abend in die Kirche und wieder ließ man ihn allein; da stieg die Angst aufs neue in ihm auf. Wieder sah er die düsteren Heiligenbilder, die glänzenden Rahmen und den bekannten schwarzen Sarg, der in drohender Stille unbeweglich in der Mitte der Kirche stand.

„Nun, all diese Zaubereien sind mir ja jetzt nichts Neues mehr,“ sagte er, „das ist nur zum erstenmal so schrecklich. Ja das erstemal ist es etwas peinlich, – aber später ist es schon nicht mehr so schlimm, dann ist es gar nicht mehr schrecklich.“

Eilig betrat er den Chor, beschrieb einen Kreis um sich, sagte einige Beschwörungen her und begann laut zu lesen, fest entschlossen, die Augen nicht vom Buche zu erheben und auf nichts zu achten. Er mochte etwa eine Stunde gelesen haben und begann schon müde zu werden und dann und wann zu husten; er nahm daher seine Tabaksdose aus der Tasche; ehe er jedoch eine Prise nahm, schielte er scheu nach dem Sarge. Sein Herz erstarrte.

Die Tote stand vor ihm, dicht vor dem Kreise und bohrte ihre erloschenen grünen Augen in die seinen. Der Seminarist erbebte, Eiseskälte durchrieselte seinen ganzen Körper. Er heftete seine Augen auf das Buch und begann seine Gebete und Beschwörungen lauter herzusagen; hierbei hörte er, wie die Tote mit den Zähnen klapperte, und fühlte, wie sie ihre Arme ausbreitete, um ihn zu umschlingen. Er schielte mit einem Auge nach der Toten hin, und sah, daß diese nicht dahin griff, wo er stand – es war also klar, daß sie ihn nicht sehen konnte. Sie begann dumpf zu murren und sprach mit erstorbenen Lippen drohende Worte, die heiß aufzischten wie das Brodeln kochenden Peches. Er hätte nicht sagen können, was diese Worte zu bedeuten hatten, aber sie mußten etwas ganz Schreckliches enthalten. In seiner Todesangst begriff jedoch der Philosoph, daß es Beschwörungen waren. Nach ihren Worten erhob sich ein Sturm in der Kirche, ein Lärm wie von unzähligen Flügeln, die durch die Luft rauschten. Er hörte, wie die Flügel gegen die Fensterscheiben und eisernen Fensterrahmen der Kirche schlugen, er hörte es winseln und an dem Eisen kratzen, eine ungeheuere Kraft stieß donnernd gegen die Tür und wollte sie aufbrechen. Sein Herz schlug fortwährend zum Zerspringen, mit geschlossenen Augen las er seine Gebete und Beschwörungen – endlich ertönte etwas in der Ferne – es war ein ferner Hahnenschrei. Der gepeinigte Philosoph hielt inne und wurde ruhiger.

Als die Ablösung kam, fand man ihn halbtot an der Wand lehnend, und er stierte die hereintretenden Kosaken mit blöden Augen an. Fast mit Gewalt führten sie ihn hinaus und mußten ihn unterwegs die ganze Zeit über stützen. Als sie im Herrenhof ankamen, ermannte er sich jedoch und verlangte einen Quart Branntwein. Nachdem er ihn ausgetrunken hatte, strich er über sein Haar und sagte: „Es gibt viel Lumpenzeug auf der Welt. Und so viel Schreckliches …“ Hierbei fuhr seine Hand durch die Luft.

Die Umstehenden ließen bei diesen Worten die Köpfe hängen. Selbst ein kleiner Junge, den alle im Hof schieben und stoßen zu können glaubten, wenn es den Stall zu reinigen oder Wasser zu tragen galt – selbst dieser arme Junge sperrte das Maul auf.

In diesem Augenblicke ging eine nicht mehr ganz junge Frau vorüber, deren enganliegendes Oberkleid ihre vollen drallen Hüften sehen ließ; sie war die Gehilfin der alten Köchin und ein furchtbar kokettes Frauenzimmer, dessen Kopftuch immer mit allerhand schönen Dingen aufgeputzt war: einem Endchen Band, einer Nelke, ja sogar, wenn gar nichts Besseres zur Hand war, mit einem Stückchen Papier.

„Guten Morgen, Choma,“ sagte sie, als sie den Philosophen erblickte. „Halloh, was ist denn mit dir los!“ schrie sie auf und schlug die Hände zusammen.

„Ja was denn, dummes Weib?“

„Mein Gott, du bist ja ganz grau!“

„Herrgott, Herrgott! Sie hat wirklich recht!“ sagte Spirid und sah ihn genauer an. „Du bist wirklich ganz grau geworden, wie unser alter Jawtuch!“

Als der Philosoph dies hörte, lief er schnell in die Küche, wo er ein kleines dreieckiges und ganz von Fliegen beschmutztes Stückchen Spiegel an der Wand gesehen hatte; es war mit Vergißmeinnicht, Nelken und sogar mit einer Girlande geschmückt, was darauf hindeutete, daß es einer putzsüchtigen Kokette bei der Toilette diente. Mit Schrecken sah Choma, daß sie die Wahrheit gesprochen hatte, die Hälfte seines Kopfes war wirklich ganz weiß!

Choma Brut ließ den Kopf hängen und überließ sich seinen Gedanken. „Ich will zu dem Herrn gehen,“ sagte er endlich, „ich will ihm alles erzählen und ihm erklären, daß ich die Gebete nicht mehr lesen will. Er soll mich gleich nach Kiew zurückschicken.“

Mit diesem Entschluß ging er auf die Freitreppe des Herrschaftshauses zu. Der Hauptmann saß fast regungslos in seinem Zimmer. Der trostlose Gram, den Choma schon früher auf seinem Gesichte bemerkt hatte, verdüsterte noch immer seine Züge, und seine Wangen waren vielleicht noch etwas hohler geworden. Man sah, daß er nur wenig oder gar keine Nahrung zu sich nahm. Die ungewöhnliche Blässe gab seinem Gesicht eine geradezu steinerne Unbeweglichkeit.

„Guten Morgen, du Ärmster,“ sagte er, als er Choma erblickte, der mit der Mütze in der Hand in der Türe stehen blieb. „Nun wie geht’s? Ist alles in Ordnung?“

„In Ordnung? Jawohl, das ist eine schöne Ordnung! Das ist ja der reinste Hexensabbat, daß man am liebsten seine Mütze nehmen und davonlaufen möchte, soweit einen die Füße tragen!“

 

„Wieso?“

„Ja Herr, Eure Tochter … Wenn man sich’s ordentlich überlegt … sie ist ja von vornehmer Abkunft, das wird niemand leugnen … aber nehmt es mir nicht übel, Gott gebe ihrer Seele Ruhe …“

„Was ist denn mit meiner Tochter?“

„Sie hat sich dem Teufel verschrieben. Es geschehen solche furchtbaren Dinge – da hilft kein Lesen und kein Beten …“

„Lies nur, lies. Sie hat dich nicht umsonst hierher gerufen, sie war um ihr Seelenheil besorgt, das liebe Kind, und wollte alle Versuchungen durch Gebete zuschanden machen …“

„Ich stehe in Ihrer Macht, Herr, aber bei Gott, ich kann nicht mehr!“

„Lies, lies nur weiter,“ fuhr der Hauptmann in dem gleichen mahnenden Tone fort, „es ist doch nur noch eine Nacht übrig geblieben, und du tust ein christliches Werk. Ich werde dich gut belohnen.“

„Und wenn die Belohnung noch so groß wäre, Herr! Nein, wie Ihr wollt, ich lese nicht mehr,“ sagte Choma entschlossen.

„Hör mal, Philosoph,“ sagte der Hauptmann, und seine Stimme wurde stark und drohend, „ich liebe solche Scherze nicht. So etwas magst du in deiner Bursa machen, aber nicht bei mir. Wenn ich dich durchprügeln lasse, dann sieht es etwas anders aus, als bei eurem Rektor – Weißt du, was ein guter lederner Riemen ist?“

„Wie sollte ich nicht?“ sagte der Philosoph und ließ die Stimme sinken: „ein jeder weiß, was lederne Riemen sind – ein größere Portion davon – das kann niemand aushalten.“

„Ja. Aber du weißt wohl noch nicht, wie meine Leute sich aufs Prügeln verstehen,“ sagte der Hauptmann drohend und erhob sich; seine Züge nahmen eine gebieterische und grausame Miene an, in der sich die ganze Zügellosigkeit seines Charakters spiegelte, die eben nur durch den Kummer ein wenig eingeschläfert war. „Bei mir wird erst geprügelt, dann Branntwein darauf gegossen, und dann geht’s von neuem los. Geh, vollende deine Arbeit. Tust du es nicht – so stehst du nie wieder auf; gehorchst du mir dagegen – so gibt’s tausend Goldstücke!“

„Herrgott, das ist ja ein Teufelskerl,“ dachte der Philosoph, als er hinausging, „mit dem darf man nicht spaßen. Paß auf, Freundchen, ich werde Fersengeld geben, daß du mich mit all deinen Hunden nicht einholen sollst.“

Choma Brut war fest entschlossen, auszureißen. Er wartete nur noch die Zeit bis nach dem Mittagessen ab, wo das Gesinde sich ins Heu unter den Speichern zu legen pflegte, um mit offenem Munde in ein so schreckliches Pfeifen und Schnarchen auszubrechen, daß sich der Herrschaftshof in eine Fabrik zu verwandeln schien.

Endlich war es so weit. Selbst Jawtuch streckte sich in der Sonne aus und schloß die Augen. Zitternd und zagend schlich sich der Philosoph in den herrschaftlichen Garten, von wo er leicht und unbemerkt ins freie Feld zu gelangen hoffte. Der Garten war, wie das gewöhnlich der Fall ist, unglaublich verwildert und schien daher für allerlei geheime Unternehmungen besonders geeignet. Mit Ausnahme eines kleinen Fußpfades (der zu wirtschaftlichen Zwecken ausgetreten worden war), waren alle Wege dicht von Kirschbäumen, Holundersträuchern und Kletten verwachsen, die ihre langen Stengel mit den klebrigen, rosafarbenen Blüten hoch hinaufstreckten. Die Spitzen dieses bunten Gemischs von Bäumen und Sträuchern war wie mit einem Netze von Hopfenranken überzogen. Sie bildeten gewissermaßen ein Schutzdach, das auf dem geflochtenen Zaune ruhte und sich in grünen, mit wilden Glockenblumen durchwachsenen Schlangenwindungen zur Erde hinabließ. Hinter dem Zaun, der den Garten begrenzte, zog sich ein förmlicher Wald von Steppengras hin: hier schien noch kein neugieriger Blick hineingeschaut zu haben, und die Sense, welche mit ihrer Klinge diese dicken holzharten Stengel zu schneiden versucht hätte, wäre sicher in Stücke zersprungen.

Als der Philosoph über den Zaun steigen wollte, klapperten seine Zähne, und sein Herz pochte so heftig, daß er selbst erschrak. Die Schöße seines langen Rockes schienen an der Erde festzukleben, als hätte sie dort jemand angenagelt. Als er über den Zaun stieg, klang plötzlich ein betäubender Pfiff an sein Ohr, und eine Stimme schrie: „Wohin, wohin?“ Der Philosoph tauchte im Steppengras unter und begann zu laufen, wobei er in einem fort über alte Wurzeln stolperte und Maulwürfe zertrat. Er sah nun, daß er nach dem Heidegras noch ein Stück Feld zu passieren hatte, hinter dem sich eine dichte Dornenhecke hinzog: dort glaubte er sich gerettet, da er jenseits der Hecke einen direkten Weg nach Kiew zu finden meinte. Mit einer geradezu unglaublichen Geschwindigkeit durchmaß er das Feld, und befand sich plötzlich vor einer dichten Dornbuschhecke. Er kroch durch die Hecke, wobei er an jedem spitzen Dorn ein Fetzen seines Gewandes als Tribut zurückließ. Endlich gelangte er zu einem kleinen Hohlwege, wo eine Weide stand, die mit ihren weit ausgebreiteten Zweigen ab und zu die Erde berührte, und wo eine schmale, kristallklare Quelle wie lauteres Silber erglänzte. Das erste, was der Philosoph tat, war, daß er niederkniete und zu trinken begann – denn er verspürte einen geradezu unerträglichen Durst. „Ein herrliches Wasser,“ sagte er, indem er sich die Lippen abtrocknete, „hier könnte man fein ausruhen!“

„Nein, es ist doch besser, wir laufen weiter, vielleicht sind uns die Verfolger schon auf den Fersen!“

Diese Worte ertönten dicht neben seinem Ohr. Er sah sich um – Jawtuch stand vor ihm.

„So ein Teufel, dieser Jawtuch,“ dachte der Philosoph, „ich würde dich mit Vergnügen bei beiden Beinen packen und deine verdammte Fratze samt allen übrigen Körperteilen mit einem Eichenknüppel bearbeiten!“

„Wozu hast du so einen großen Umweg gemacht,“ fuhr Jawtuch fort, „es wäre klüger gewesen, du hättest den Weg gewählt, den ich gegangen bin: er führt dicht beim Stall vorbei. Dein Anzug tut mir leid. Solch ausgezeichnetes Tuch. Was hast du für die Elle bezahlt? – Doch jetzt sind wir genug spazieren gegangen: es ist Zeit, nach Hause zu gehen.“

Der Philosoph kratzte sich den Hinterkopf und folgte Jawtuch langsam nach. „Jetzt wird mir die verdammte Hexe erst recht die Hölle heiß machen,“ dachte er. „Aber was soll denn das! Wovor habe ich Angst? Bin ich ein Kosak, oder nicht? Ich habe doch zwei Nächte hintereinander gelesen, so werde ich denn mit Gottes Hilfe auch wohl noch die dritte überstehen. Die verfluchte Hexe hat sicherlich viel auf dem Gewissen, daß der Böse so für sie eintritt.“

Mit diesen Gedanken beschäftigt, betrat er den Gutshof. Nachdem er sich durch solche und ähnliche Erwägungen Mut gemacht hatte, bat er Dorosch, der durch die Protektion des Kellermeisters manchmal Zutritt zum herrschaftlichen Keller hatte, ihm eine Flasche gewöhnlichen Branntwein zu verschaffen. Dann setzten sich beide Kameraden am Speicher nieder und leerten fast einen halben Eimer, so daß der Philosoph plötzlich aufsprang und schrie: „Musikanten her! Musikanten!“ und ohne zu warten, bis die Musikanten erschienen, auf einem freien Platz mitten auf dem Hofe einen Trepak zu tanzen begann. Er tanzte unaufhörlich bis zum Nachmittag. Das Gesinde, das, wie es in solchen Fällen üblich ist, einen Kreis um ihn gebildet hatte, spuckte zuletzt aus und zog sich zurück. Kopfschüttelnd meinten sie: „Wie kann ein Mensch nur so lange tanzen!“ Endlich sank der Philosoph auf derselben Stelle nieder und schlief ein; erst ein Kübel frischen Wassers vermochte ihn zu wecken, als man sich zum Abendbrot versammelte. Beim Essen redete er viel davon, was ein rechter Kosak sei, und behauptete, daß ein Kosak sich vor nichts fürchten dürfe.