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Sämmtliche Werke 4: Mirgorod

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Inzwischen aber verbreitete sich überall das Gerücht, die Tochter eines der reichsten Hauptleute – der ungefähr 50 Werst von Kiew eine Besitzung hatte – sei eines Morgens ganz zerschlagen von einem Spaziergang zurückgekommen. Sie hätte kaum noch die Kraft gehabt, das väterliche Haus zu erreichen, läge im Sterben, und hätte den Wunsch geäußert, der Seminarist Choma Brut aus Kiew solle nach ihrem Tode während dreier Nächte, die Totenmesse bei ihr lesen. Der Philosoph erfuhr das alles durch den Rektor selbst, der ihn zu sich ins Zimmer beschied und ihn beauftragte, sich unverzüglich auf den Weg zu machen, da der berühmte Hauptmann zu diesem Zweck ein paar Leute und seinen Wagen hergeschickt hätte.

Der Philosoph zitterte; ein unerklärliches Gefühl überkam ihn. Er konnte sich selbst keine Rechenschaft über den Grund geben, aber eine dunkle Ahnung sagte ihm, daß ihm nichts Gutes bevorstände. Ohne selbst zu wissen warum, erklärte er geradeheraus, daß er nicht hinfahren werde.

„Hör’ mal Domine Choma,“ sagte der Rektor (es gab Fälle, wo er sehr höflich mit seinen Untergebenen umging), „kein Teufel fragt danach, ob du fahren willst oder nicht. Ich sage dir nur eins. Wenn du hier den Störrischen spielst und räsonierst, so lasse ich dir den Rücken und anliegende Körperteile so mit jungen Birkenruten durchbleuen, daß du dir den Gang ins Bad ersparen kannst.“ Der Philosoph kratzte sich ein wenig hinter dem Ohr, ging wortlos hinaus, und setzte seine ganze Hoffnung auf seine Beine, von denen er bei der ersten günstigen Gelegenheit Gebrauch machen wollte. Ganz in Gedanken versunken stieg er die steile Treppe hinab, die in den pappelumstandenen Hof führte und blieb einen Moment stehen; er hörte den Rektor mit deutlicher Stimme dem Verwalter und noch jemanden, – wahrscheinlich einem Boten des Hauptmanns, der nach ihm gekommen war, – Befehle erteilen und sagen:

„Danke deinem Herrn für die Grütze und die Eier und sage ihm, sobald die Bücher, von denen er schreibt, fertig sind, würde ich sie ihm zusenden; ich habe sie dem Schreiber schon zur Abschrift übergeben. Und noch was, mein Lieber, vergiß deinen Herrn nicht daran zu erinnern, daß ihr auf eurem Gut so herrliche Fische habt, besonders einen ganz ausgezeichneten Stör: er könnte mir bei Gelegenheit etwas davon schicken; bei uns auf den Jahrmärkten ist er nicht gut und zu teuer. Und du, Jantuch, gib den Leuten einen Becher Schnaps; den Philosophen aber bindet mir fest, sonst läuft er euch noch davon.“

„Sieh doch den Teufelskerl!“ dachte der Philosoph, „er hat es schon herausgeschnüffelt! So’n Schlammbeißer!“

Er ging hinunter und erblickte einen Wagen, den er zuerst für einen Getreideschuppen auf vier Rädern hielt; und wahrhaftig, er war so tief wie ein Ofen, in dem man Ziegel brennt. Dies war ein gewöhnlicher Krakauer Wagen, in dem an die fünfzig Juden samt ihrer Ware in allen Städten herumzufahren pflegen, wo sie nur einen Jahrmarkt wittern. Sechs gesunde, kräftige, ältere Kosaken erwarteten ihn. Die kurzen mit Troddeln verzierten Röcke aus feinem Tuch bewiesen, daß die Kosaken einem reichen und angesehenen Herrn dienten. Die kleinen Narben auf der Stirn ließen erkennen, daß sie im Kriege gewesen und nicht ganz ruhmlos gekämpft hatten.

„Was bleibt mir übrig! Kein Mensch kann seinem Schicksal entgehen,“ dachte der Philosoph, wandte sich an die Kosaken und rief mit lauter Stimme: „Grüß Gott, Kameraden!“

„Grüß Gott, Herr Philosoph,“ erwiderten einige von den Kosaken.

„Ich soll also mit euch zusammen fahren? Der Wagen kann sich schon sehen lassen!“ fuhr er fort und stieg ein. „Schade, daß keine Musikanten dabei sind, hier ließe sich’s gut tanzen!“

„Ja, es ist ein geräumiger Wagen,“ sagte der eine Kosak und stieg mit dem Kutscher auf den Bock. Dieser hatte statt der Mütze, die er in der Schenke gelassen, ein Tuch um den Kopf gebunden. Die übrigen fünf krochen mit dem Philosophen in die Versenkung und setzten sich dort auf Säcke, die mit allerlei Waren, welche die Kosaken in der Stadt gekauft hatten, angefüllt waren.

„Es wäre interessant, zu wissen,“ begann der Philosoph, „wieviel Pferde nötig wären, um den Wagen von der Stelle zu bringen, wenn man ihn mit allerhand Waren, etwa mit Salz oder Eisenschienen beladen würde“.

„Ja,“ sagte nach einigem Schweigen der Kosak, der auf dem Bock saß, „da wäre wohl eine große Menge dazu nötig“.

Mit dieser befriedigenden Antwort glaubte der Kosak sich das Recht erworben zu haben, den Rest des Weges über zu schweigen.

Der Philosoph hätte gern Genaueres über den Hauptmann erfahren: über seinen Charakter, was man über seine Tochter wußte, die unter so merkwürdigen Umständen nach Hause gekommen war und jetzt im Sterben lag, und deren Geschick nun mit seinem eigenen verknüpft wurde; wie sie leben und was sie zu Hause treiben. Er suchte seine Begleiter auszufragen, aber wahrscheinlich waren die Kosaken auch Philosophen, denn statt zu antworten, schwiegen sie still und rauchten, auf den Säcken hingestreckt, weiter.

Nur der eine wandte sich mit dem kurzen Befehl an den Kameraden auf dem Kutschbock: „Paß auf, Owerko, alter Maulaffe; wenn du bei der Schenke an der Straße nach Tschuchrailowsk vorbeikommst, so vergiß nicht anzuhalten und uns zu wecken, falls einer von uns einschlafen sollte.“

Hierauf schlummerte er ziemlich geräuschvoll ein. Übrigens war diese Ermahnung ganz überflüssig, denn kaum näherte sich das Riesengefährt der Schenke an der Straße nach Tschuchrailowsk, als alle wie aus einem Munde losschrien: „Halt!“ Auch waren Owerkos Gäule schon so abgerichtet, daß sie von selbst vor jeder Schenke still standen. Trotz des heißen Julitages krochen alle aus dem Wagen und gingen in die niedrige, schmutzige Stube, wo der jüdische Schankwirt seine alten Bekannten voller Freude begrüßte. Der Jude holte sofort ein paar Würste aus Schweinefleisch herbei, die er unter seinen Rockschößen versteckt hielt, und legte sie auf den Tisch, um sich schleunigst von diesem vom Talmud verbotenen Gericht abzuwenden. Alle setzten sich um den Tisch herum, und bald hatte jeder Gast einen Tonkrug vor sich stehen. Auch der Philosoph, Choma Brut, mußte an dem gemeinsamen Mahle teilnehmen. Und da die Kleinrussen sofort anfangen, sich zu küssen oder zu heulen, wenn sie ein wenig angetrunken sind, so hallte die Hütte bald von schallenden Küssen wider. „Laß uns anstoßen Spirid! Komm her Dorosch, ich will dich küssen!“ Einer der Kosaken, der etwas älter war als die anderen, und dessen Schnurrbart schon grau zu werden begann, stützte seinen Kopf auf die Hand und fing bitterlich an zu weinen. Er jammerte, daß er weder Vater noch Mutter habe und ganz allein auf der Welt dastehe. Ein anderer, der ein großer Schwätzer war, tröstete ihn fortwährend, und sagte: „Weine doch nicht, bei Gott, weine nicht, was ist dann dabei … Gott weiß schon, warum es so ist.“

Ein anderer, namens Dorosch, wurde plötzlich sehr neugierig, wandte sich an den Philosophen Choma und fragte ihn in einem fort. „Ich möchte gern wissen, was man euch in der Bursa eigentlich beibringt. Das, was der Vorsänger in der Kirche vorliest, oder etwas anderes?“

„Frag’ doch nicht,“ sagte der Schwätzer gedehnt, „laß es doch, gehn wie es geht. Gott weiß schon, wie es am besten ist, Gott weiß alles!“

„Nein, ich will wissen, was in den Büchern steht,“ sagte Dorosch, „vielleicht ist es etwas ganz anderes, als was der Vorsänger sagt!“

„Mein Gott, mein Gott,“ sagte der weise Moralist, „wie kann man nur so sprechen? Gott hat es nun einmal so gemacht: und was Gott gemacht hat, das läßt sich nicht ändern.“

„Ich will aber alles wissen, was in den Büchern steht; ich will in die Bursa eintreten, bei Gott, ich werde dort eintreten! Was? was denkst du? Ich werde nichts lernen? Alles werde ich lernen, alles!“

„Mein Gott, mein Gott,“ sagte der Moralist, und legte seinen Kopf auf den Tisch, er war wirklich nicht mehr imstande, ihn noch länger auf den Schultern zu tragen. Die übrigen Kosaken sprachen von ihren Herrschaften und darüber, warum wohl der Mond am Himmel leuchte.

Als der Philosoph Choma merkte, wie es in ihren Köpfen aussah, beschloß er den Moment auszunutzen und sich aus dem Staube zu machen. Zuerst wandte er sich an den graubärtigen Kosaken, der sich um Vater und Mutter grämte. „Was weinst du Onkelchen?“ fragte er. „Sieh, ich bin auch eine Waise. Freunde, laßt mich laufen! Gebt mir die Freiheit! Wozu braucht ihr mich?“

„Lassen wir ihn laufen,“ sagten einige, „er ist ja eine Waise. Lassen wir ihn gehn, wohin er will.“

„O mein Gott, mein Gott,“ stöhnte der Moralist, langsam seinen Kopf erhebend, „laßt ihn laufen! Mag er gehen, wohin er will!“

Und die Kosaken waren schon im Begriff, ihn selbst ins Freie zu führen, aber der, der so viel Wißbegierde gezeigt hatte, hielt sie zurück und sagte: „Rührt ihn nicht an; ich will mit ihm über die Bursa reden, ich werde selbst in die Bursa eintreten!“

Übrigens wäre ihm die Flucht kaum gelungen, denn als der Philosoph sich vom Tisch zu erheben suchte, fühlte er, daß seine Beine wie aus Holz waren, und er glaubte im Zimmer so viel Türen zu erblicken, daß er kaum die rechte gefunden hätte.

Erst gegen Abend fiel es der Gesellschaft ein, daß sie sich wieder auf den Weg machen müßte. Sie machten sich’s im Wagen bequem, und brachen auf, indem sie die Pferde antrieben und ein Lied anstimmten, dessen Sinn und Wortlaut wohl niemand enträtselt hätte. Nachdem sie die größere Hälfte der Nacht gefahren waren, wobei sie beständig vom Wege abkamen, obwohl sie ihn fast auswendig kannten, rollten sie endlich einen steilen Berg ins Tal hinab; der Philosoph erblickte zu beiden Seiten des Weges Staketzäune, Hecken und Dächer, die hier und da zwischen den niedrigen Bäumen hervorschauten. Es war ein großes Dorf, welches dem Hauptmann gehörte. Mitternacht war längst vorüber; der Himmel war dunkel, nur hier und da sah man einen einsamen Stern blinken und in keiner Hütte war ein Licht zu entdecken. Sie fuhren von Hundegebell begleitet in das Dorf ein. Auf beiden Seiten standen Scheunen und kleine Häuser mit Strohdächern; das eine, welches gerade in der Mitte und dem Tor gegenüber lag, war größer als die übrigen und schien dem Hauptmann als Wohnung zu dienen. Das Gefährt hielt vor einem kleinen Wagenschuppen, und unsere Reisenden legten sich nieder, um zu schlafen. Der Philosoph verspürte jedoch den Drang, sich die herrschaftlichen Wohnräume wenigstens von außen anzusehen, aber wie sehr er auch seine Augen anstrengte; er konnte nichts klar unterscheiden: statt des Hauses erblickte er einen Bären, und der Schornstein schien ihm dem Rektor zu gleichen. – Der Philosoph gab daher seine Bemühungen auf, und ging schlafen.

 

Als er wieder erwachte, war der ganze Hof schon in Bewegung: die Tochter des Hauses war in der Nacht gestorben. Die Diener liefen atemlos hin und her; ein paar alte Weiber heulten, eine Menge Neugieriger versuchte es, durch die Ritzen im Zaune zu erspähen, was auf dem herrschaftlichen Hof vorging. Der Philosoph begann, in aller Ruhe die Stätte zu betrachten, die er in der Nacht nicht hatte erkennen können. Das herrschaftliche Haus war ein kleines niedriges Gebäude, wie man sie in alten Zeiten in Kleinrußland zu bauen pflegte, und hatte ein Strohdach. Die kleine spitz zulaufende, hohe Giebelwand mit dem einen Fenster, das wie ein nach oben gerichtetes Auge aussah, war ganz mit blauen und gelben Blumen und roten Halbmonden bemalt. Sie ruhte auf Eichenpfosten, die oben rund und kunstvoll gedrechselt und unten sechseckig waren. Unter der Giebelwand befand sich eine kleine Treppe, und rechts und links standen Bänke. An den Seiten des Hauses gab es Schutzdächer auf ähnlichen und hier und da gewundenen Säulen. Davor stand ein hoher Birnbaum mit pyramidenförmiger Krone in der grünen Pracht seiner bebenden Blätter. In der Mitte des Hofes befanden sich mehrere, in zwei Reihen geordnete Speicher, die gleichsam eine breite Straße bildeten, welche direkt zum Herrenhause führte. Hinter den Speichern, dicht beim Tor, standen zwei dreieckige Kellergebäude, die einander gerade gegenüber lagen und gleichfalls mit Stroh gedeckt waren. Ihre dreieckigen Vorderwände hatten eine niedrige Tür, und waren mit allerlei Bildern bemalt. Auf der einen war ein Kosak dargestellt, der auf einem Faß saß und einen Krug mit der Inschrift: Ich trinke Rest! in die Höhe hob. Die andere hatte der Künstler mit runden und flachen Flaschen bemalt, und zu beiden Seiten erblickte man, was wohl besonders schön sein sollte, je ein Pferd, das sich emporbäumte, und ferner mehrere Pfeifen und Schellen, worunter zu lesen war: „Der Wein ist des Kosaken Wonne!“ Durch das riesige Bodenfenster guckten eine Trommel und ein paar kupferne Trompeten heraus. Am Tor standen zwei Kanonen. Dies alles ließ vermuten, daß der Hausherr sich zu amüsieren liebte, und daß der Hof oft von lustigen Gelagen widerhalle. Hinter dem Tor standen zwei Windmühlen. An der Rückseite des Hauses befanden sich Gärten, und zwischen den Wipfeln der Bäume sah man nichts wie die dunklen Kappen der Schornsteine, der im dichten Grün verborgenen Hütten. Das ganze Dorf lag auf dem breiten und ebenen Vorsprung eines Berges. Im Norden wurde dies alles von dem steil aufsteigenden Felsen abgeschlossen, der mit seinem Fuß bis dicht an den Hof heranreichte. Von unten gesehen schien er noch steiler zu sein und auf seinem Gipfel hoben sich die zerstreut stehenden Stengel des dürren Steppengrases schwarz vom hellen Himmel ab. Die nackte Lehmerde war ganz von Wasserrinnen und Regenlöchern zerrissen und verbreitete eine seltsame Schwermut. Auf dem abschüssigen Abhang sah man an zwei Stellen je eine Hütte stehen, deren eine von einem Apfelbaum beschattet wurde, der an der Wurzel durch kleine Pflöcke gestützt, mit herangefahrener Erde bedeckt war, und dessen Äpfel, die der Wind herunterwarf, bis in den herrschaftlichen Hof rollten. Vom Gipfel führte ein Weg über den ganzen Berg am Hofe vorbei bis ins Dorf hinunter. Als der Philosoph den furchtbaren Abhang des Berges betrachtete, und sich der gestrigen Fahrt erinnerte, sagte er sich, der Hausherr müsse fabelhaft kluge Pferde, oder die Kosaken enorm harte Köpfe haben, wenn sie nicht einmal im Rausche mitsamt dem riesigen Gefährt und dem Gepäck Hals über Kopf in den Hof hinabgerollt waren. Der Philosoph stand auf dem höchsten Punkte des Hofes: als er sich umwandte und auf die entgegengesetzte Seite blickte, bot sich ihm ein ganz anderes Bild dar. Das Dorf zog sich längs dem Abhange bis in die Ebene hin. Unabsehbare Wiesen erstreckten sich im Umkreis bis an den Horizont, deren helles Grün sich in der Ferne immermehr verdunkelte. Im Hintergrunde sah man eine ganze Reihe von Gehöften im blauen Dämmerlicht dagegen, obgleich sie wohl zwanzig und mehr Werst weit entfernt sein mochten. Rechts von diesen Wiesen zog sich eine Hügelkette hin, und ganz hinten erglühte ein dunkler Streifen des Dnjepr.

„Welch herrliches Stück Erde,“ sagte der Philosoph, „wie schön ließe sich’s hier leben; im Dnjepr und in den Teichen könnte man Fische fangen, und mit Gewehr und Netz auf Schnepfen und Zwergtrappen jagen; übrigens wird es in diesen Wiesen auch andere Trappen geben. Man könnte in Hülle und Fülle Früchte trocknen, und sie in der Stadt verkaufen, oder noch besser Schnäpse daraus machen, denn Fruchtschnaps geht doch noch über Branntwein. – Herrgott, ich muß mich doch umsehen, wie ich am besten ausreißen könnte.“

Hinter dem Zaun bemerkte er einen kleinen Fußweg, der ganz mit Steppengras bewachsen war; mechanisch setzte er den Fuß drauf; er wollte anfangs nur ein wenig spazieren gehen, und dann still zwischen den Hütten hindurchschlendern und sich ins freie Feld schlagen. Da fühlte er plötzlich eine kräftige Hand auf seiner Schulter.

Hinter ihm stand der alte Kosak, der gestern über den Verlust von Vater und Mutter und über seine Einsamkeit geklagt hatte.

„Du hoffst vergeblich, aus diesem Hofe zu entfliehen, Herr Philosoph,“ sagte er, „das ist kein Haus, wo man davonlaufen kann; – übrigens sind auch die Wege sehr schlecht und beschwerlich für Fußgänger – geh lieber zum Herrn, er erwartet dich schon längst in seinem Zimmer.“

„Gut denn, gehn wir, warum auch nicht – ich habe nichts dagegen,“ antwortete der Philosoph und folgte dem Kosaken.

Der Hauptmann war schon alt. Er hatte einen grauen Schnurrbart und saß, den Kopf auf beide Hände gestützt, mit einem Ausdruck dumpfer Trauer am Tisch. Er mochte fünfzig Jahre alt sein; aber der tiefe Gram in seinen Zügen und die bleiche, schlechte Farbe bewiesen, daß sein Herz ganz plötzlich gebrochen und vernichtet, und daß all seine frühere Fröhlichkeit und das laute sorglose Leben für immer zerstört war. Als Choma mit dem alten Kosak in das Zimmer trat, nahm der Hauptmann die eine Hand vom Gesichte und nickte unmerklich mit dem Kopfe; Choma und der Kosak verbeugten sich tief vor ihm und blieben ehrfurchtsvoll an der Türe stehen.

„Wer bist du und wo kommst du her, mein Lieber. Was ist dein Beruf?“ fragte der Hauptmann nicht eben freundlich, aber auch nicht schroff.

„Ich bin ein Seminarist und heiße Choma Brut, der Philosoph.“

„Und wer war dein Vater?“

„Ich weiß es nicht, gnädiger Herr.“

„Und deine Mutter?“

„Meine Mutter habe ich auch nicht gekannt. Es ist natürlich selbstverständlich, daß ich eine Mutter gehabt habe, aber wer sie war, woher sie stammte und wo sie gelebt hat, das weiß ich bei Gott nicht, gnädiger Herr!“

Der Alte schwieg und schien einen Augenblick in Grübeleien versunken.

„Wie hast du denn meine Tochter kennen gelernt?“

„Ich habe sie gar nicht kennen gelernt, gnädiger Herr, bei Gott, ich habe sie nie kennen gelernt. Solange ich auf der Welt bin, habe ich noch nie mit einem Fräulein zu tun gehabt. Gott bewahre mich davor, um nichts Unschicklicheres zu sagen.“

„Warum hat sie denn aber gerade dich und keinen anderen dazu bestimmt, an ihrem Sarge zu beten?“

Der Philosoph zuckte die Achseln. „Mein Gott, wie soll ich das erklären? Es ist ja bekannt, daß die vornehmen Herrschaften manchmal auf Dinge kommen, die auch der gelehrteste Mensch nicht zu erklären vermag. ‚Wenn der Herr will – muß der Knecht springen‘, sagt das Sprichwort.“

„Lügst du auch nicht, Herr Philosoph?“

„So wahr ich hier stehe, der Blitz soll mich treffen, wenn ich lüge!“

„Wenn sie nur noch einen Augenblick länger gelebt hätte,“ sagte der Hauptmann traurig, „dann hätte ich gewiß alles erfahren. ‚Laß niemand für mich beten, Vater, schicke gleich in das Kiewer Seminar und laß den Seminaristen Choma Brut kommen. Er soll drei Nächte lang für meine sündige Seele beten. Er weiß alles …‘ was er aber wissen sollte, das bekam ich nicht mehr zu hören. Nur dies konnte mein Liebling noch sagen, dann starb sie. Du bist sicherlich durch deinen reinen Lebenswandel und durch deine Gottesfurcht berühmt, mein Lieber, und sie hat vielleicht von dir gehört.“

„Wer? Ich?“ sagte der Seminarist und trat vor Erstaunen einen Schritt zurück. „Ich, wegen meines gottesfürchtigen Lebens berühmt?“ Er sah dem Hauptmann gerade in die Augen. „Gott segne Sie! Herr, was sagen Sie da! Ich … ich … ich schäme mich fast, davon zu reden … aber ich bin am Abend vor Gründonnerstag noch zur Bäckerin gegangen!“

„Nun, nun … sie wird schon ihren Grund gehabt haben, als sie diese Bestimmung traf! Du mußt gleich heute beginnen.“

„Euer Gnaden, gestatten Sie mir, darauf zu erwidern … natürlich, jeder Mensch, der die heilige Schrift kennt, kann ja – je nach den Verhältnissen … aber hier wäre ein Diakonus oder wenigstens ein Vorsänger mehr am Platz. Das sind doch verständige Leute, die da wissen, wie alles gemacht werden muß … ich dagegen … ich habe ja nicht einmal die Stimme, die dazu nötig ist, ich bin … weiß der Teufel, was ich bin! Ich sehe ja auch nach nichts aus!“

„Mach, was du willst, aber ich will alles tun, was mein Liebling bestimmt hat, und nichts soll mich gereuen. Wenn du von heute an die üblichen drei Nächte bei ihr wachen und beten willst, sollst du reichlich belohnt werden. Wenn du dich dagegen weigerst – ich möchte selbst dem Teufel nicht raten, mich zu reizen!“

Der Hauptmann sprach diese letzten Worte mit solch einer Energie aus, daß der Philosoph ihren Sinn vollkommen begriff.

„Folge mir,“ sagte der Hauptmann.

Sie traten in den Flur. Der Hauptmann öffnete die Tür des gegenüberliegenden Zimmers. Der Philosoph blieb einen Augenblick im Flur stehen, um sich die Nase zu putzen, und trat dann mit einem unwillkürlichen Schauder über die Schwelle.

Der ganze Boden war mit rotem chinesischem Tuch bedeckt. In der Ecke, unter den Heiligenbildern war die Tote auf einem hohen Tisch aufgebahrt. Sie lag auf einer blausamtenen Decke, die mit goldenen Fransen und Quasten geschmückt war. Am Kopf- und Fußende standen hohe mit Schneeballblüten umwundene Wachskerzen, die ein mattes Licht verbreiteten, das in der Helle des Tages verblich. Vor der Leiche saß der untröstliche Vater; er hatte der Tür den Rücken zugekehrt und verdeckte das Antlitz der Entschlafenen, sodaß Choma es nicht sehen konnte. Der Philosoph war aufs höchste erstaunt über die Worte, die er bei seinem Eintritt ins Zimmer vernahm.

„Ich weine nicht deshalb, liebes Töchterlein, weil du mir zum Kummer und Herzeleid, in der Blüte der Jahre die Erde verläßt, ohne das Alter erreicht zu haben, das dem Menschen vergönnt ist; ich klage darüber, daß ich nicht weiß, welcher grimme Feind deinen Tod verursacht hat. Wüßte ich, wer es gewagt hat, dich zu beleidigen, oder nur ein böses Wort über dich zu sagen – bei Gott, wenn er ein alter Mann ist, wie ich, er sollte seine Kinder nicht wiedersehn; – und wenn er noch jung ist, sollte er nie wieder zu Vater und Mutter zurückkehren. Seine Leiche sollte den Vögeln und wilden Tieren der Steppe zum Fraße dienen! Weh mir, du Blume des Feldes, meine kleine Wachtel, du Licht meiner Augen – ich muß den Rest meiner Tage freudlos und traurig verbringen und mit dem Saum meines Rockes die kargen Tränen trocknen, die aus meinen alten Augen tropfen, während meine Feinde sich des Lebens freuen, und sich in der Stille über den schwachen Greis lustig machen werden!“

Er schwieg, ein heftiger Schmerz erschütterte ihn und machte sich in einem Tränenstrom Luft.

Der Philosoph war tief gerührt von diesem namenlosen Kummer. Er hustete ein wenig, stieß einen dumpfen krächzenden Ton aus und räusperte sich.

Der Hauptmann wandte sich um und wies ihm einen Platz am kleinen Lesepult zu Häupten der Toten an. Auf dem Pult lagen mehrere Bücher.

„Ich will die drei Nächte schon irgendwie hinbringen und mein Pensum absolvieren,“ dachte der Philosoph, „dafür wird mir der Herr auch beide Taschen mit neuen glänzenden Goldstücken anfüllen.“

Er ging näher, räusperte sich noch einmal und begann zu lesen, ohne sich umzusehen, denn er hatte nicht den Mut, der Toten ins Gesicht zu blicken. Eine tiefe Stille umfing ihn: er merkte, daß der Hauptmann hinausgegangen war. Langsam wandte er den Kopf um, um die Tote anzusehen und …

 

Ein Zittern lief durch seine Glieder: vor ihm lag das schönste Mädchen, das je auf Erden gelebt hatte. Wohl nie noch war in der Form der Gesichtszüge strenge Schönheit so mit Harmonie vereinigt gewesen wie hier. Sie lag da wie eine Lebende; die herrliche, zarte, schnee- und silberweiße Stirn schien auf eine intensive Gedankenarbeit hinzudeuten, die feinen edlen Brauen, die wie ein nächtliches Dunkel die sonnige Helle des Tages durchbrachen – schwangen sich stolz über die geschlossenen Augen; lange Wimpern senkten sich wie eine Schar spitzer Pfeile auf die vom Feuer geheimer Wünsche glühenden Wangen; die rubinroten Lippen schienen zu einem seligen Lächeln und zu Ausbrüchen des Glücks und der Freude bereit … Und doch glaubte er in diesen Zügen etwas Schauerliches zu entdecken, das sich tief in seine Seele bohrte. Choma fühlte einen quälenden Schmerz in seinem Herzen; es war, wie wenn mitten im Wirbel ausgelassener Fröhlichkeit und einer sich im wilden Taumel drehenden Menge jemand einen Choral angestimmt hätte. Die Rubinlippen leuchteten so rot wie Herzblut. Plötzlich glaubte er in ihrem Gesicht etwas furchtbar Vertrautes zu erkennen; mit völlig veränderter Stimme schrie er auf: „Es ist die Hexe ..“, erblaßte, wandte die Augen ab und begann von neuem die Gebete herunter zu lesen. Es war dieselbe Hexe, die er getötet hatte.

Als die Sonne herabzusinken begann, wurde die Verstorbene in die Kirche getragen. Der Philosoph stützte den schwarzen Sarg mit seiner Schulter und Eiseskälte durchrieselte ihn. Der Hauptmann ging selbst voran, und hielt die rechte Seite des engen Totengehäuses mit der Hand fest. Die verwitterte hölzerne Kirche mit ihren drei kegelförmigen Kuppeln stand trübselig und moosbewachsen am Ende des Dorfes: man spürte, daß hier lange kein Gottesdienst gehalten worden war. Fast vor jedem Heiligenbilde brannten Kerzen. Der Sarg wurde in der Mitte der Kirche, gegenüber dem Altare hingestellt. Der alte Hauptmann küßte die Tote noch einmal, warf sich nieder, berührte den Boden mit der Stirn und verließ mit den Trägern die Kirche, nachdem er den Befehl gegeben hatte, dem Philosophen gut zu essen zu geben und ihn abends wieder in die Kirche zu führen. Als sie in die Küche traten, legten alle, die den Sarg getragen hatten, einer nach dem andern die Hand an den Ofen, was die Kleinrussen stets zu tun pflegen, wenn sie eine Leiche gesehen haben. Der Hunger, welchen der Philosoph um diese Zeit zu spüren begann, ließ ihn auf einige Augenblicke die Tote vollständig vergessen. Allmählich versammelte sich hier das ganze Gesinde, denn die Küche des Hauptmanns war eine Art Klub oder Versammlungsort, und hier strömte alles zusammen, was im Hofe lebte, selbst die Hunde, die schweifwedelnd vor der Tür erschienen, um sich einen Knochen und andere Abfälle zu holen. Jeder, der irgendeinen Auftrag erhalten hatte, oder irgendwohin geschickt worden war, kam immer erst in die Küche, um sich einen Augenblick auf die Bank zu legen, auszuruhen und eine Pfeife zu rauchen. Alle Junggesellen, die im Hause lebten und in eleganten Kosakenröcken umher liefen, lagen fast den ganzen Tag lang auf dem Ofen, oder auf und unter den Bänken – mit einem Wort überall, wo sich ein bequemes Ruheplätzchen fand. Außerdem hatte immer jemand etwas in der Küche vergessen: seine Mütze, die Peitsche, die für die fremden Hunde bestimmt war, oder etwas Ähnliches. Aber die zahlreichste Gesellschaft fand sich doch erst zum Abendbrot zusammen, dann kamen auch der Pferdehirt, der seine Pferde in die Hürden getrieben, und der Viehhirt, der die Kühe zur Tränke geführt hatte, und alle die, die am Tage nicht zu sehen gewesen waren. Beim Abendbrot wurde auch die schweigsamste Zunge redselig. Hier wurde gewöhnlich alles besprochen: wer sich neue Hosen genäht hatte, was sich im Innern der Erde befindet, und wer einen Wolf gesehen hatte. Hier kamen auch die Witzbolde zu ihrem Recht, an denen unter den Kleinrussen ja kein Mangel ist.

Der Philosoph setzte sich im Freien, mit vielen andern in einem großen Kreis, dicht an der Küchenschwelle nieder. Bald erschien eine Frau mit einem roten Kopftuch an der Tür; sie trug eine Schüssel mit heißen Klößen in den Händen und stellte sie in die Mitte vor die Hungrigen hin, die sich zum Abendessen anschickten. Jeder holte seinen Holzlöffel, und in Ermangelung eines Besseren, ein hölzernes Stäbchen aus der Tasche. Als die Kinnbacken sich langsamer zu bewegen anfingen und der Wolfshunger der ganzen Gesellschaft ein wenig gestillt war, begannen mehrere von den Anwesenden, sich zu unterhalten. Das Gespräch wandte sich natürlich der Verstorbenen zu.

„Ist es wahr,“ fragte ein junger Schafhirt, der an seinem Pfeifenriemen so viel Knöpfe und Messingplatten angebracht hatte, daß er dem Kramladen einer kleinen Händlerin glich, „ist es wahr, daß das Fräulein – ohne daß ich ihr deswegen etwas Böses nachsagen wollte, – es mit dem Gottseibeiuns zu tun gehabt hat?“

„Wer? Unser Fräulein?“ sagte Dorosch, der unserem Philosophen schon von früher bekannt war, „ja, das war eine richtige Hexe. Ich will jeden Schwur darauf ablegen – daß sie eine Hexe war.“

„Hör auf, Dorosch, hör auf,“ sagte der andere, der schon während der Fahrt eine große Neigung gezeigt hatte, alle Gegensätze zu mildern, „das geht uns nichts an, Gott mit ihr! Wozu sollen wir darüber sprechen.“ Aber Dorosch hatte gar keine Lust zu schweigen; er war erst eben mit dem Kellermeister in einer wichtigen Angelegenheit in den Keller gegangen, war nachdem er sich ein paarmal über zwei oder drei Fässer gebeugt hatte, sehr aufgeräumt von dort zurückgekehrt und redete nun in einem fort.

„Was willst du? Daß ich schweigen soll?“ sagte er, „ja sie ist doch aber auf mir selbst herumgeritten! Bei Gott, sie ist auf mir herumgeritten!“

„Onkelchen,“ rief der junge Schafhirt mit den vielen Knöpfen, „gibt es ein Zeichen, an dem man eine Hexe erkennen kann?“

„Nein,“ antwortete Dorosch, „die kann kein Mensch erkennen; du kannst den ganzen Psalter durchlesen, und erkennst sie doch nicht!“

„Sag das nicht, Dorosch, man kann sie wohl erkennen,“ fiel ihm der Moralist von gestern ins Wort, „Gott hat nicht umsonst einem jeden sein besonderes Abzeichen gegeben: die Gelehrten sagen, daß die Hexen hinten ein kleines Schwänzchen haben.“

„Wenn sie alt wird, ist jedes Weib eine Hexe,“ sagte der alte Kosak kaltblütig.

„O, o, ihr seid mir die Rechten,“ rief die Alte, die eben frische Klöße in die Schüssel schüttete, „ihr seid mir rechte Wildschweine!“

Der alte Kosak, der Jawtuch hieß, aber den Spitznamen Kowtun erhalten hatte, schmunzelte vergnügt, als er sah, daß die Alte sich von seinen Worten getroffen fühlte, der Viehhirt aber brach in ein so wüstes Gelächter aus, als hätten zwei Ochsen sich gegenübergestellt und zu gleicher Zeit losgebrüllt.

Das begonnene Gespräch hatte die Neugierde und den dringenden Wunsch des Philosophen geweckt, Genaueres über die Tochter des Hauptmanns zu erfahren, und er fragte daher, um wieder auf das alte Thema zurückzukommen, seinen Nachbar:

„Ich möchte doch wissen, warum halten alle, die hier beim Abendbrot sitzen, die Tochter des Herrn für eine Hexe? Hat sie denn jemanden etwas Böses zugefügt? Oder ihn gar behext?“

„Es ist alles schon dagewesen,“ sagte einer der Zunächstsitzenden, der ein ganz glattes Gesicht hatte, das so eben war wie eine Schaufel.