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Sämmtliche Werke 4: Mirgorod

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Diesmal wehte der Wind von der andern Seite, und den Kosaken entging keins seiner Worte. Aber für seine Warnung erhielt er einen solchen Hieb mit der Keule über den Schädel, daß es ihm dunkel vor den Augen wurde.

Schnell wie der Blitz jagten die Kosaken den Bergsteig hinab, und dicht hinter ihnen die Verfolger. Sie sahen, daß der schmale Pfad sich vielfach hin und her schlängelt und windet und sich seitwärts verzweigt. „Ach Kameraden, es wird uns nicht glücken“ seufzten alle und hielten einen Augenblick inne, dann aber ließen sie ihre Peitschen durch die Luft sausen – ein Pfiff, und im Nu flogen ihre Tatarenpferde über die Erde hin; lang streckten sie sich in der Luft aus gleich einer Schlange, setzten im Sprung über Abgründe und stürzten dann mitten in den Dnjestr hinein. Nur zwei Kosaken vermochten den Fluß nicht mehr zu erreichen: sie fielen samt ihren Pferden auf die Felsen hinab und blieben dort für immer tot liegen, ohne auch nur einen Schrei ausgestoßen zu haben. Die andern aber schwammen bereits mit ihren Pferden im Flusse und banden die Boote los. Verdutzt blieben die Polen vor dem Abgrunde stehen; ganz erstaunt über diese unerhörte Kühnheit der Kosaken und noch im Zweifel ob sie ihnen folgen sollten oder nicht. Nur ein junger Hauptmann, dem das Blut heiß und wild durch die Adern stürmte, ein Bruder der schönen Polin, die den armen Andrij betört hatte, überlegte nicht lange, nahm einen Anlauf und warf sich mit seinem Roß in die Fluten: dreimal überschlug er sich in der Luft mit seinem Pferde und stürzte dann jäh auf die spitzen Felsen herab. Das scharfe Gestein riß seinen Körper in Stücke, der bald im Abgrunde verschwand, und sein mit Blut vermischtes Gehirn spritzte weit über Sträucher, die an den rauhen Felsenklippen des Abhanges wuchsen. Als Taraß sich von dem Schlage erholt hatte, blickte er nach dem Dnjestr hinab, die Kosaken saßen bereits in den Kähnen und ruderten davon; die Kugeln regneten nur so von oben auf sie herab, allein sie trafen niemand, und freudig leuchteten die Augen des alten Hetmans.

„Lebt wohl, Kameraden,“ rief er ihnen von oben zu, „denkt an mich, kommt im nächsten Frühling wieder her und setzt ihnen ordentlich zu. Nun! Was habt ihr erreicht, ihr teuflischen Polen? Glaubt ihr, es gibt etwas auf der Welt, wovor der Kosak sich fürchtet? Wartet nur, es kommt noch einmal der Tag, wo ihr erfahren werdet, was der rechte russische Glaube vermag! Schon jetzt spüren es die fernen und die nahen Völker! Ein Zar wird erstehen aus dem russischen Blute, und es wird keine Macht der Welt geben, die sich ihm nicht unterwerfen müßte!“ Schon züngelte die Glut über den Scheiterhaufen, das Feuer beleckte seine Füße und schlängelte sich in einer mächtigen Flamme am Baume empor. Aber gibt es denn irgendwo in der Welt ein Feuer, gibt es Qualen oder irgend eine Macht, die die Kraft eines Russen zu überwältigen vermöchte?

Ein großer Fluß ist der Dnjestr; er hat viele Buchten, viel dichtes Schilf, viele Sandbänke und gewaltige Untiefen. Es glänzt sein Wasserspiegel; hell klingt das Schreien der Schwäne, und stolz fliegt die Quäker-Ente über ihn dahin; viele Wasserschnepfen, Rebhühner mit roten Kröpfen und noch manch andere Vögel hausen in dem dichten Rohr seiner Ufer. Behend und kraftvoll glitten die Kosaken in ihren zweiruderigen Kähnen dahin, wacker legten sie sich in die Ruder, wichen vorsichtig den Sandbänken aus, scheuchten die ängstlich flatternden Vögel auf und sprachen preisend von ihrem Hauptmann.

Zweiter Teil

Übersetzt von Charlotte König

Wij. 2

Sowie die helle Glocke ertönte, die an der Pforte des Bruderschaftsklosters zu Kiew hing, kamen die Schüler und Seminaristen von allen Enden der Stadt in dichten Scharen herbeigeeilt. Die Grammatiker, die Rhetoriker, die Philosophen und Theologen, sie alle strebten mit ihren Heften unter dem Arm der Schule zu. Die Grammatiker waren noch sehr klein; sie balgten sich unterwegs und schimpften sich mit ihren feinen Diskantstimmen. Fast immer hatten sie zerrissene, schmutzige Kleider an, und ihre Taschen waren stets mit allerlei Plunder wie: Knöcheln, Federkielpfeifen und angebissenen Pasteten vollgestopft. Manchmal trugen sie sogar junge Spatzen in der Tasche, und mitunter begann wohl der eine oder der andere, wenn tiefe Stille in der Klasse herrschte, zu zwitschern, was seinem Besitzer ein paar tüchtige Schläge auf beide Hände, und ab und zu auch eine Tracht Prügel mit der Rute aus jungen Kirschbaumzweigen eintrug. Bei den Rhetorikern ging es schon solider zu; ihre Kleider waren oft noch vollkommen heil, aber dafür waren sie im Gesicht fast immer mit einer Trophäe in Form einer rhetorischen Trope geschmückt: entweder versteckte sich ein Auge ganz unter der geschwollenen Stirn, oder man sah statt der Lippen eine große Blase, oder auch ein anderes charakteristisches Merkzeichen. Diese Rhetoriker sprachen und fluchten im Tenor, die Philosophen aber griffen eine ganze Oktave tiefer. Ihre Taschen enthielten nichts, außer kräftigen Tabaksblättern. Sie legten sich keine Vorräte an, denn alles, was ihnen unter die Finger kam, wurde sofort verzehrt. Sie rochen oft schon von weitem so stark nach Tabak und Schnaps, daß ein vorübergehender Handwerker stets stehen blieb und wie ein Jagdhund in der Luft herum schnüffelte.

Um diese Zeit begann der Marktplatz langsam zu erwachen. Die Händlerinnen breiteten ihre Bretzeln, Semmeln, Wassermelonen und Mohnsamen mit Honig aus und zupften die Vorübergehenden, die Kleider aus feinem Tuch oder schmuckem Baumwollstoff trugen, an den Rockschößen.

„Junge Herren, junge Herren, hierher! hierher!“ riefen sie von allen Seiten. „Sehen Sie nur, was für Mohnkuchen, was für schöne Brötchen und Bretzeln – sie sind ganz ausgezeichnet, bei Gott! Von feinstem Honig – ich habe sie selbst gebacken!“

Eine andere hielt ein langes, gewundenes Gebäck aus Teig in die Höhe und schrie: „He, he, die schöne Honigstange! Junger Herr kaufen Sie doch diese Honigstange!“

„Kaufen Sie ja nichts bei der: Sehen Sie doch diese widerliche Person an, die häßliche Nase, die unsauberen Hände …“

Die Philosophen und Theologen aber ließen sie in Ruhe; denn diese liebten es nur zu „probieren“, und zwar nahmen sie sich immer gleich eine ganze Hand voll.

Im Seminar angekommen, verteilte sich die ganze Schar sogleich in den Klassen, die sich in niedrigen aber ziemlich geräumigen Zimmern, mit breiten Türen, kleinen Fenstern und schmutzigen Bänken befanden. Plötzlich erfüllte ein vielstimmiges Summen die Räume: die älteren Schüler, die sogenannten Auditoren, hörten den jüngeren ihre Lektionen ab; hierbei war der helle Diskant des Grammatikers genau auf den Ton der kleinen Fensterscheibe abgestimmt, die ihn fast unverändert zurückwarf; in der Ecke brüllte ein Rhetor, dessen Mund und wulstige Lippen eigentlich mehr zu einem Philosophen paßten. Er rezitierte mit tiefer Baßstimme und man vernahm von weitem nichts wie ein dumpfes Bu, bu, bu, bu … Die Auditoren, die den jüngeren Schülern ihre Lektion überhörten, schielten mit einem Auge unter die Bank, wo gewöhnlich aus der Tasche des ihnen unterstellten Seminaristen ein Brot, ein Quarkkuchen, oder Kürbissamen hervorblickten.

Traf es sich, daß sich die ganze gelehrte Schar etwas früher als nötig versammelt hatte, oder wenn es bekannt wurde, daß die Professoren später als sonst kommen würden, dann inszenierte man unter allgemeinen Beifall eine „Schlacht“, an der alle Schüler, sogar die Zensoren teilnehmen mußten, die verpflichtet waren, die Ordnung aufrechtzuerhalten, und die die Moral des ganzen Schülerstandes zu beaufsichtigen hatten. Gewöhnlich entschieden zwei Theologen, wie die Schlacht vor sich gehen, ob jede Klasse für sich kämpfen, oder ob alle zusammen zwei Lager, nämlich die Bursa und das Seminar, bilden sollten. Auf alle Fälle machten die Grammatiker den Anfang, sobald sich dann die Rhetoriker hineinmengten, liefen sie fort und stellten sich an erhöhten Plätzen auf, um den Gang der Schlacht zu beobachten. Dann kamen die Philosophen mit ihren langen schwarzen Schnurrbärten an die Reihe, und ganz zuletzt griffen die Theologen mit ihren gräßlichen Hosen und den furchtbaren, dicken Hälsen in die Schlacht ein. Gewöhnlich endete der Kampf damit, daß die Theologie sämtliche Kämpfer besiegte, die Philosophie aber wurde in die Klasse gedrängt, rieb sich die Lenden und setzte sich auf die Bänke, um sich zu erholen. Der Professor, der zu seiner Zeit auch an ähnlichen Kämpfen teilgenommen hatte, merkte beim Eintritt in die Klasse sofort an den Gesichtern seiner Zuhörer, daß es keine üble Schlacht gegeben hatte, und klopfte den Rhetoren mit Ruten auf die Finger, während sein Kollege in der anderen Klasse die Hände der Philosophen mit einer Holzleiste bearbeitete. Mit den Theologen wurde ganz anders verfahren: ihnen wurde, nach dem Ausdruck des Theologieprofessors, ein Maß „grober Erbsen“, und zwar vermittelst eines kurzen Lederriemens zugemessen.

An Festen und an Feiertagen zogen die Seminaristen und Schüler mit einem Puppentheater von Haus zu Haus; manchmal spielten sie auch selbst Komödie, und dann zeichnete sich immer ein Theologe besonders aus: irgend ein Riese, der nicht viel kleiner war, als der Glockenturm von Kiew. Er spielte die Herodias oder Frau Potiphar, die Gemahlin des ägyptischen Kämmerers. Zur Belohnung erhielten sie ein Stück Leinwand, einen Sack Hirse, die Hälfte einer gebratenen Gans und dergleichen. All diesem gelehrten Volk, der Bursa, wie dem Seminar – die eine ererbte Antipathie gegeneinander hegten – fehlte es meist an den notwendigen Subsistenzmitteln, dabei aber waren sie außerordentlich gefräßig; es wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, die Zahl der Klöße anzugeben, die jeder von ihnen beim Abendbrot herunterschlang; so reichten denn auch die freiwilligen Spenden der wohlhabenden Gutsbesitzer gewöhnlich nicht aus. Daher schickte mitunter der Senat, der nur aus Philosophen und Theologen bestand, die Grammatiker und Rhetoriker unter Führung eines Philosophen, – zuweilen aber schloß er sich auch selbst in corpore an – mit Säcken auf den Schultern in die fremden Gemüsegärten; an solchen Tagen gab’s in der Bursa Kürbisbrei. Die Senatoren schlugen sich den Magen so mit Melonen und Wassermelonen voll, daß die Auditoren am nächsten Tage statt eines Vortrages, deren zwei zu hören bekamen: der eine drang aus dem Munde, der andere aus dem Magen des Senators hervor. Die Zöglinge der Bursa wie auch die des Seminars trugen lange Röcke, welche „bis dahin“ reichten; ein technischer Ausdruck, der soviel besagte als: „bis an die Fersen“.

 

Das feierlichste Ereignis für das Seminar aber war der Anbruch der Ferien, die Zeit vom Monat Juni an, wo die Bursa gewöhnlich nach Hause entlassen wurde. Dann war die Landstraße wie besät von Grammatikern, Rhetoren, Philosophen und Theologen. Wer kein eigenes Heim besaß, zog zu einem seiner Kameraden. Die Philosophen und Theologen gingen in „Kondition“, d. h. sie unterrichteten oder bereiteten die Kinder wohlhabender Leute für die Schule vor. Dafür erhielten sie einmal im Jahr ein Paar neue Stiefel und manchmal auch etwas Geld zu einem neuen Rock. Diese ganze Gesellschaft zog geschlossen aus wie eine Zigeunerbande, kochte sich ihre Grütze und übernachtete im Freien. Jeder trug einen Sack, in dem sich ein Hemd und ein Paar Fußlappen befanden. Die Theologen waren besonders sparsam und peinlich: um ihre Stiefeln zu schonen, zogen sie sie aus, hängten sie auf ihre Stöcke, und trugen sie auf ihren Schultern; das taten sie besonders, wenn es auf der Straße sehr schmutzig war. Sie krempelten ihre Hosen bis zu den Knien auf und patschten furchtlos mit den bloßen Füßen durch die Pfützen. Sowie sie irgendwo ein Gehöft erblickten, schwenkten sie von der Landstraße ab, näherten sich der stattlichsten Hütte, stellten sich vor den Fenstern in Reih und Glied auf und begannen aus voller Kehle einen Kantus anzustimmen. Der Hausherr, der gewöhnlich ein alter, ansäßiger Kosak war, stützte den Kopf auf beide Hände und hörte ihnen lange zu, dann fing er bitterlich an zu weinen und wandte sich an seine Frau: „Frau, was die Scholaren da singen, das muß etwas sehr Gescheites sein. Bring ihnen doch etwas Speck hinaus, und was sonst noch da ist.“ Dann wurde eine ganze Schüssel voller Quarkkuchen in den Sack geschüttet, dazu ein gehöriges Stück Speck; auch einige Laib Brot verschwanden darin und manchmal sogar ein zusammengebundenes Huhn. Nachdem sie sich so einen tüchtigen Vorrat angelegt hatten, zogen die Grammatiker, Rhetoren, Philosophen und Theologen wieder ihres Weges. Je weiter sie jedoch kamen, um so kleiner wurde die Schar. Allmählich zerstreute sich alles und wanderte nach Haus, und es blieben nur die übrig, deren Elternhaus weiter entfernt war, als das der andern.

Einst bogen während einer solchen Reise drei Burschen von der Landstraße ab, um beim ersten besten Gehöft, auf das sie stießen, den schon längst geleerten Sack mit neuen Vorräten zu versorgen. Dies waren der Theologe Haljawa, der Philosoph Choma Brut und der Rhetor Tiberius Gorobetz.

Der Theologe war ein großer, breitschultriger Bursche und hatte die äußerst merkwürdige Gewohnheit, alles zu stehlen, was in seine Nähe kam. Übrigens hatte er einen sehr finsteren Charakter; wenn er betrunken war, versteckte er sich im Gebüsch, und das Seminar hatte viel Mühe, ihn von dort hervorzuholen.

Der Philosoph, Choma Brut, war von heiterer Gemütsart, er liebte es sehr, auf der Bank zu liegen und seine Pfeife zu rauchen; wenn er trank, ließ er sogleich „Musikanten“ kommen und tanzte einen Trepak.3

Er hatte schon oft ein Maß „grober Erbsen“ zu kosten bekommen, aber er ertrug es mit stoischem Gleichmut und sagte nur: niemand entgeht seinem Schicksal.

Der Rhetor, Tiberius Gorobetz, hatte noch nicht das Recht, einen Schnurrbart zu tragen, Schnaps zu trinken und zu rauchen. Er trug nur einen Haarschopf auf dem Scheitel, und sein Charakter war damals noch wenig entwickelt. Aber aus den großen Beulen auf der Stirn, mit denen er oft in die Klasse kam, ließ sich schließen, daß er einmal einen tüchtigen Soldaten abgeben würde. Der Theologe Haljawa und der Philosoph, Choma, zupften ihn oft zum Zeichen ihrer Gönnerschaft am Schopfe und gebrauchten ihn als Boten.

Es war schon Abend, als sie von der Landstraße abbogen; die Sonne war eben untergegangen, und noch spürte man in der Luft die Wärme des Tages. Der Theologe und der Philosoph marschierten schweigsam mit der Pfeife im Munde dahin und der Rhetor, Tiberius Gorobetz, schlug mit seinem Stab den am Wege wachsenden Disteln die Köpfe ab. Der Weg zog sich zwischen Gruppen von Eichen und Nußbäumen dahin, welche die Wiesen beschatteten; dann und wann unterbrachen Hügel und kleine grüne Berge, die so rund waren wie Kuppeln, die Ebene. Verstreute Ackerfelder, mit reifendem Getreide bestellt, ließen erkennen, daß irgendwo ein Dorf in der Nähe sein müsse. Aber es war schon mehr als eine Stunde vergangen, seit sie an dem Ackerfelde vorbeigekommen waren, und noch immer war kein Gehöft zu sehn. Die Dämmerung hatte schon den ganzen Himmel eingehüllt: nur fern im Westen schimmerte noch ein schmaler, blauer Streifen Abendrot.

„Weiß der Teufel,“ sagte der Philosoph Choma Brut, „es sah doch ganz so aus, als müßten wir gleich auf ein Gehöft stoßen!“

Der Theologe schwieg und sah sich nach allen Seiten um, dann steckte er seine Pfeife wieder in den Mund, und alle drei trabten weiter.

„Bei Gott,“ rief der Philosoph und blieb wieder stehen, „es ist rein gar nichts zu sehen. Hol’s der Henker!“

„Vielleicht erreichen wir doch noch ein Gehöft,“ sagte der Theologe, ohne seine Pfeife aus dem Munde zunehmen.

Unterdessen war die Nacht hereingebrochen, eine finstere, dunkele Nacht; die kleinen Wolken am Himmel verstärkten die Finsternis nur noch mehr, und allem Anscheine nach durfte man weder auf Mond noch Sterne rechnen. Die Burschen merkten, daß sie sich verirrt hatten und längst vom richtigen Wege abgekommen waren.

Der Philosoph tastet mit dem Fuß nach allen Seiten und rief endlich kurz aus. „Ja, wo ist denn der Weg?“

Der Theologe schwieg, und murmelte nach einigem Nachdenken: „Ja, die Nacht ist dunkel ..!“

Der Rhetor kniete nieder und versuchte den Weg mit den Händen zu befühlen, aber seine Hände gerieten fortwährend in einen Fuchsbau hinein. Ringsumher lag die öde Steppe: scheinbar war hier noch nie jemand vorbei gefahren.

Die Wanderer machten noch einen Versuch, weiterzugehen: aber überall stießen sie auf die gleiche Wildnis. Der Philosoph fing an zu rufen: jedoch seine Stimme verhallte ohne in der Umgegend das geringste Echo zu wecken. Nach einer Weile hörten sie ein schwaches Stöhnen, das einige Ähnlichkeit mit dem Heulen eines Wolfes hatte.

„Teufel – was ist hier zu machen?“ sagte der Philosoph.

„Was? – wir bleiben hier und übernachten im Feld,“ erwiderte der Theologe und griff in die Tasche, um sein Feuerzeug hervorzuholen und sich von neuem die Pfeife anzuzünden. Aber der Philosoph wollte nicht darauf eingehen: er hatte die Gewohnheit, vor dem Schlafengehn noch einen halben Zentner Brot und vier Pfund Speck zu vertilgen, und fühlte eine unerträgliche Leere im Magen; auch fürchtete er sich trotz seiner heiteren Gemütsart ein wenig vor den Wölfen.

„Nein, Haljawa, das geht nicht,“ sagte er. „Wollen wir uns etwa ohne jede Stärkung hinlegen und einschlafen, wie die Hunde? Versuchen wir’s doch noch einmal, vielleicht stoßen wir noch auf irgend ein Haus, und vielleicht glückt es uns wenigstens, vor dem Schlafengehen noch ein Gläschen Schnaps herunterzugießen.“

Bei dem Worte „Schnaps“ spuckte der Theologe aus und murmelte: „natürlich, wozu sollten wir auch im Freien übernachten?“

Die Burschen gingen weiter und glaubten bald zu ihrer großen Freude in der Ferne etwas wie Hundegebell zu vernehmen. Sie horchten, von welcher Seite das Gebell herkam, und schritten fröhlich vorwärts. Nach einer Weile erblickten sie ein Licht.

„Ein Gehöft, bei Gott, ein Gehöft,“ rief der Philosoph.

Seine Vermutung hatte ihn nicht betrogen. Nach einiger Zeit bemerkten sie eine Ansiedlung, die nur aus zwei Hütten und einem Hof bestand. In den Fenstern schimmerte Licht; ein Dutzend Pflaumenbäume ragte über den Zaun. Als die Burschen durch die Spalten zwischen den Brettern des Tores blickten, gewahrten sie einen Hof, der voller großer Lastwagen stand. Jetzt erglänzten auch einige Sterne am Himmel.

„Hallo Brüder, jetzt heißt es energisch sein! Koste es was es wolle, wir müssen uns ein Nachtlager erobern!“

Die drei Bildungsbeflissenen klopften einmütig an das Tor und riefen: „Macht auf!“

Die Tür der einen Hütte knarrte, und einen Augenblick darauf sahen die Burschen ein altes Weib in einem Pelzrock vor sich.

„Wer ist da,“ rief sie, und hustete dumpf.

„Mütterchen, laß uns hier übernachten; wir haben uns verirrt, im Freien ist es ebenso schlimm wie in einem leeren Magen.“

„Was seid ihr für Volk?“

„Harmlose Leute: der Theologe Haljawa, der Philosoph Brut und der Rhetor Gorobetz.“

„Es geht nicht,“ knurrte die Alte, „mein Hof ist voll, jeder Winkel ist besetzt. Wo soll ich hin mit euch? Mit solchen großen, gesunden Burschen! Meine Hütte wird noch einstürzen, wenn ich solche Riesen in ihr unterbringe. Diese Theologen und Philosophen kenne ich: wenn man sich erst einmal mit solchen Trunkenbolden einläßt, ist man bald ohne Haus und Hof. Macht, daß ihr weiter kommt, hier ist kein Platz für euresgleichen!“

„Erbarme dich Mütterchen! Das geht doch nicht, daß ein Christenmensch so um nichts und wieder nichts umkommen soll. Steck uns, wohin du willst, wenn wir nur das Geringste anstellen – dann mögen uns die Hände verdorren, Gott weiß, was uns da passieren mag … Hörst du?“

Wie es schien, ließ sich die Alte ein wenig erweichen. „Gut,“ sagte sie nach kurzem Bedenken, „ich will euch hereinlassen, aber ich werde jedem von euch einen anderen Ort anweisen; ich habe keine Ruhe, wenn ihr zusammen bleibt.“

„Wie du willst, wir fügen uns in alles,“ antworteten die Burschen. Die Pforte knarrte, und sie traten in den Hof.

„Nun, wie steht’s, Mütterchen,“ sagte der Philosoph, während er der Alten folgte, „wenn du, sozusagen … bei Gott, mir ist’s, als ob mir jemand mit einem Wagen im Magen herumfährt. Seit heute morgen habe ich keinen Bissen im Munde gehabt!“

„Sieh einer an, was der für Gelüste hat,“ sagte die Alte, „nein, ich habe nichts, und der Ofen ist heute auch gar nicht geheizt worden.“

„Wir würden ja morgen alles gehörig bezahlen,“ fuhr der Philosoph fort, „wahrhaftig – bar bezahlen.“ Und er setzte leise hinzu: „Hol dir’s doch vom Teufel.“

„Vorwärts, vorwärts, seid zufrieden mit dem, was man euch gibt. Daß mir der Teufel auch solch feine Herren zuführen mußte!“

Bei diesen Worten wurde es dem Philosophen Choma ganz wehmütig ums Herz, plötzlich aber witterte seine Nase den Geruch von getrockneten Fischen. Er warf einen Blick auf die Hosen des Theologen, der neben ihm ging, und sah, daß ihm ein riesiger Fischschwanz aus der Tasche ragte.

Der Theologe hatte nämlich schon Zeit gefunden, eine ganze Karausche aus der Fuhre wegzustibizen. Da dies aber nicht aus Habgier, sondern mehr aus Gewohnheit geschehen war, hatte er seine Karausche längst vergessen und spähte schon wieder nach allen Seiten, was er nun noch erwischen könnte: selbst ein zerbrochenes Rad war nicht sicher vor ihm. Der Philosoph Choma steckte daher seine Hand in Haljawas Tasche, als sei’s seine eigene, und holte die Karausche hervor.

Die Alte hatte die Burschen bald untergebracht: der Rhetor kam in die Hütte, der Theologe in eine leere Kammer, und den Philosophen führte sie in einen Schafstall.

 

Als der Philosoph allein war, verspeiste er sofort die Karausche, untersuchte die geflochtenen Wände des Stalls, versetzte einem neugierigen Schwein, das den Rüssel aus dem anstoßenden Kober hinein steckte, einen Stoß mit dem Fuß, und legte sich auf die rechte Seite, um sofort einzuschlafen wie ein Toter. Da öffnete sich plötzlich die niedrige Tür, und die Alte trat gebückt in den Stall.

„Ah, Mütterchen! Was willst du?“ sagte der Philosoph.

Aber die Alte ging mit ausgebreiteten Armen gerade auf ihn zu.

„Ach so,“ dachte der Philosoph. „Nein, mein Täubchen, du bist mir zu alt.“

Er rückte etwas ab, aber die Alte kam unbekümmert näher.

„Höre, Mütterchen, jetzt ist’s Fastenzeit, und ich gehöre zu den Menschen, die die Fasten auch für tausend Goldstücke nicht verletzen,“ sagte der Philosoph.

Aber die Alte sprach kein Wort; sie breitete ihre Arme aus und suchte ihn zu fangen.

Dem Philosophen wurde ganz unheimlich zumute, besonders als er merkte, daß ihre Augen in ungewöhnlichem Glanze aufleuchteten. „Mütterchen, was ist mit dir! Geh mit Gott!“ schrie er.

Aber die Alte sagte noch immer nichts und griff mit beiden Händen nach ihm.

Er sprang auf, um fort zu laufen, doch die Alte stellte sich in die Tür, sah ihn mit funkelnden Augen an und ging von neuem auf ihn los.

Der Philosoph wollte sie mit den Händen fortstoßen, aber er fühlte zu seinem Erstaunen, daß er die Arme nicht bewegen konnte. Seine Füße rührten sich nicht vom Fleck, er empfand mit Schrecken, daß ihm selbst die Stimme den Dienst versagte; er wollte etwas sagen, aber seine Lippen bewegten sich nur, ohne einen Laut hervorzubringen. Er hörte nur, wie sein Herz schlug und sah, wie die Alte dicht an ihn herantrat, ihm die Hände zusammen legte, ihm den Kopf hinabbog und mit katzenartiger Geschwindigkeit auf seinen Rücken sprang. Sie gab ihm mit dem Besen einen Schlag auf die Lenden, und er galoppierte wie ein Reitpferd davon und trug sie auf den Schultern fort. Dies alles geschah so schnell, daß der Philosoph gar nicht zur Besinnung kam; er griff mit beiden Händen nach seinen Knien und wollte die Beine festhalten; aber zu seiner größten Bestürzung bewegten sie sich gegen seinen Willen und machten Sprünge, wie der beste Tscherkessen-Renner. Erst als sie aus dem Gehöft heraus waren, und sich die weite Schlucht und der kohlschwarze Wald zu ihrer Rechten ausbreitete, da sagte er zu sich selbst: „Aha, das ist eine Hexe.“

Die ihm zugewandte Mondsichel leuchtete hell am Himmel, der schüchterne, nächtliche Glanz breitete sich gleich einer durchsichtigen Decke über die Erde und wogte wie eine zarte Rauchwolke hin und her; Wald, Wiesen, Himmel und Täler, alles schien mit offenen Augen zu schlafen; es war ganz windstill, nirgends schien sich ein Lüftlein zu regen. Etwas Feuchtes und Laues lag in der mitternächtlichen Kühle; die Schatten der Bäume und Sträucher fielen gleich Kometenschweifen spitz und kantig auf die abschüssige Ebene. In solcher Nacht jagte der Philosoph Choma Brut, mit seinem seltsamen Reiter auf dem Rücken, dahin. Ein wunderbar quälendes, unheimlich süßes Gefühl erfüllte sein Herz. Er senkte den Kopf und sah, daß das Gras, das seine Füße noch kurz zuvor berührt hatten, jetzt tief, tief unter ihm lag, und darüberhin floß ein durchsichtiges Gewässer, krystallhell wie das einer Gebirgsquelle; das Gras schien den Boden eines hellen, durchsichtigen, bis zum Grunde klaren Meeres zu bilden, wenigstens sah er deutlich, daß er sich mit der auf seinem Rücken hockenden Alten darin spiegelte. Er sah dort unten statt des Mondes eine Sonne aufleuchten, er hörte die blauen Glockenblumen mit gesenkten Köpfchen läuten und er bemerkte, wie eine Nixe aus dem Riedgras hervorschwamm – ihr Rücken und ihre vollen prallen Lenden bebten und leuchteten, sie schien ganz aus Licht und Glanz gewebt. Sie wandte sich ihm zu, und er blickte ihr in ihr Antlitz mit den klaren, hellen, strahlenden Augen – sie kam näher, ihrem Munde entströmte ein Gesang, der ihm bis in die Tiefen der Seele drang – jetzt schwamm sie auf der Oberfläche – stimmte ein silberhelles Lachen an und entfernte sich wieder. Doch nun warf sie sich auf den Rücken. Ihre Brüste, die mit dem sanften Glanze des Porzellans, dem der Schmelz fehlt, wie durch eine Wolkenhülle hindurchschimmerten, leuchteten aus ihrer weißen, schwellenden, zarten Umgebung hervor; das Wasser rann wie ein Perlenregen in kleinen Tröpfchen auf sie herab, und sie zittert und bebt und lacht hell aus der Flut hervor. —

Sieht er es oder sieht er es nicht? Träumt er oder ist er wach? Und was soll das bedeuten? Ist das vielleicht der Wind, oder ist es Musik? Es klingt und klingt, steigt auf und kommt näher und dringt ihm in die Seele wie ein unerträglicher jubelnder Triller.

„Was ist das,“ dachte der Philosoph Choma Brut während er hinunter blickte, und raste weiter. Der Schweiß floß ihm in Strömen von der Stirn; er hatte ein dämonisch-süßes Gefühl; eine durchbohrende, quälende, schreckliche Wonne rieselte durch seinen Körper. Manchmal glaubte er, daß er kein Herz mehr habe, und er griff erschrocken mit der Hand danach. Erschöpft und verwirrt begann er alle ihm bekannten Gebete vor sich hin zu murmeln; er wiederholte alle Geisterbeschwörungen und fühlte plötzlich etwas wie eine Erleichterung; er merkte, wie sein Schritt sich verlangsamte, die Hexe klammerte sich weniger fest an seinen Rücken, er berührte das dichte Gras, das für ihn alles Außergewöhnliche verloren hatte, wieder mit den Füßen. Die Mondsichel leuchtete hell am Himmel.

„Vortrefflich,“ dachte der Philosoph Choma und begann seine Beschwörungen fast laut herzusagen. Endlich sprang er mit blitzartiger Schnelligkeit unter der Alten fort, und setzte sich nun seinerseits auf ihren Rücken. Die Alte lief mit kurzen kleinen Schritten vorwärts, aber so schnell, daß dem Reiter fast der Atem ausging. Er konnte die Erde kaum noch erkennen; alles war deutlich sichtbar, obgleich es nicht einmal Vollmond war. Die Täler waren flach, aber die große Schnelligkeit mit der sie vorüberrasten, ließ dem Auge alles unklar und trügerisch erscheinen. Choma ergriff ein am Boden liegendes Holzscheit, und begann die Alte aus Leibeskräften zu prügeln. Sie stöhnte anfangs wütend und drohend auf, dann aber schwächer, angenehmer, immer reiner und leiser, und zuletzt klang es wie Silberglockengeläut, und drang ihm tief in die Seele. Unwillkürlich kam ihm der Gedanke: ist das wirklich noch die Alte? „Ach, ich kann nicht mehr!“ flüsterte sie ganz erschöpft und fiel zu Boden.

Er sprang auf, und sah ihr in die Augen. Die Morgenröte stieg empor, in der Ferne erstrahlten die Kirchen von Kiew. Vor ihm lag ein wunderbar schönes Mädchen, mit einem herrlichen zerzausten Zopf, und schweren, seidenweichen Wimpern, die so lang waren, wie ein Pfeil. Sie breitete gefühllos ihre nackten, weißen Arme aus, richtete die tränenerfüllten Augen nach oben und stöhnte.

Choma zitterte am ganzen Körper wie ein Espenblatt. Etwas wie Mitleid, eine seltsame Aufregung, und eine ihm bis dahin ganz fremde Schüchternheit erfaßten ihn. Er sprang auf und lief so schnell er konnte. Sein Herz klopfte unruhig; er vermochte sich das neue Gefühl, das ihn gepackt hatte, garnicht zu erklären. In das Gehöft zurückzukehren – dazu verspürte er keine Lust; so lief er denn nach Kiew, und dachte den ganzen Weg lang über das unerklärliche Abenteuer nach.

Es war kaum noch ein Seminarist in der Stadt. Alle waren auf den Dörfern „in Kondition,“ oder auch nicht, da man auf den kleinrussischen Gütern Käse, Saure Gurken und Quarkkuchen, die so groß sind wie ein Hut, essen darf, ohne einen Heller dafür zu bezahlen. Die große baufällige Hütte, in der die Bursa einquartiert war, stand ganz leer, und soviel der Philosoph auch in allen Ecken herumsuchen mochte – er ließ selbst die Löcher und Spalten im Dach nicht unbeachtet – nirgends fand er ein Stück Speck, ja nicht einmal eine alte Bretzel, die die Seminaristen an solchen Stellen zu verstecken pflegten.

Übrigens fand der Philosoph bald ein Mittel, um dies Übel abzustellen. Er ging auf den Markt, spazierte hier drei- bis viermal pfeifend auf und ab, winkte einer am anderen Ende sitzenden jungen Witwe mit einem gelben Kopftuch zu, die mit Bändern, Schrot und Rädern handelte, und wurde noch am selben Tage mit Quarkkuchen aus Weizenmehl, Hühnerbraten usw. versorgt – es ist unmöglich, aufzuzählen, was da alles auf dem Tische stand, der in einem kleinen Lehmhäuschen inmitten eines Kirschgartens gedeckt wurde. Am Abend sah man den Philosophen in der Schenke; er lag auf der Bank, rauchte wie gewöhnlich seine Pfeife und warf dem jüdischen Wirt vor allen Leuten ein kleines Goldstück hin. Vor ihm stand ein Krug mit Schnaps, er betrachtete die Kommenden und Gehenden mit gleichgültigen, zufriedenen Blicken und dachte nicht im geringsten mehr an sein seltsames Abenteuer.

2Wij ist eine ins Riesenhafte gehende Schöpfung der Volksphantasie. So heißt nämlich bei den Klein-Russen der Fürst der Gnomen, dessen Augenlider bis an die Erde reichen. Die ganze folgende Erzählung ist eine Volkssage. Ich wollte sie völlig unverändert lassen, und erzähle sie daher fast ebenso schlicht und einfach, wie ich sie gehört habe.
3Ein russischer Nationaltanz.