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Die toten Seelen

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Tschitschikow ging viel spazieren. Für seine Spaziergänge hatte er eine große Auswahl. Bald war sein Ziel die Hochebene über den sich unten breitenden Tälern, auf denen noch überall ganze Seen, Reste der Überschwemmung, lagen und gleich Inseln die noch unbelaubten Wälder dunkelten; oder er ging ins Dickicht, stieg in bewaldete Gräben hinab, wo die von Vogelnestern beschwerten Bäume sich drängten . . . krächzende Raben, die kreuz und quer durch den Himmel flogen und ihn verdunkelten. Auf dem schon trockenen Wege konnte er auch zum Landungsplatz gehen, wo die ersten mit Erbsen, Gerste und Weizen beladenen Barken abgefertigt wurden, während das Wasser sich mit ohrenbetäubendem Dröhnen über die Räder der in Bewegung kommenden Mühle ergoß. Er ging auch hinaus, um den ersten Feldarbeiten beizuwohnen, um zu sehen, wie frisches Ackerland als schwarzer Streifen durch das Grün zog und wie der Sämann, mit der Hand auf das Sieb schlagend, das er auf der Brust hängen hatte, die Saat gleichmäßig ausstreute, ohne auch nur ein Körnchen zuviel auf die eine oder die andere Seite zu werfen.

Tschitschikow kam überall hin. Er führte lange Gespräche mit dem Verwalter, den Bauern und dem Müller. Er erfuhr alles: wie es mit der Wirtschaft gehe, für welchen Betrag Getreide verkauft werde, was man im Frühling und im Herbst am Mahlen von Getreide verdiene, wie jeder Bauer heiße und mit wem er verwandt sei, wo er seine Kuh gekauft habe und womit er sein Schwein füttere; mit einem Wort, er stellte alles fest. Er erkundigte sich auch, wieviel Bauern gestorben waren und erfuhr, daß es nur wenige seien. Als kluger Mensch merkte er sofort, daß die Wirtschaft Andrej Iwanowitschs sich in einem wenig beneidenswerten Zustand befand: vieles war vernachlässigt, es gab genug Schlamperei, Diebstahl und auch Trunksucht! Und er dachte sich: – Was für ein Vieh ist doch dieser Tjentjetnikowl Wie kann man nur so ein Gut so vernachlässigen! Er hätte ja ein Jahreseinkommen von fünfzigtausend Rubeln haben können. –

Mehr als einmal kam ihm bei solchen Spaziergängen der Gedanke, selbst einmal – d.h. natürlich nicht jetzt, sondern später, wenn die Hauptsache erledigt sein und er die nötigen Mittel in Händen haben würde –, selbst einmal ein friedlicher Besitzer eines ähnlichen Gutes zu werden. Natürlich dachte er dabei gleich auch an ein junges, frisches Weibchen mit weißem Gesicht, aus dem Kaufmanns- oder einem anderen reichen Stande, die sogar musikalisch wäre. Er stellte sich auch die junge Generation vor, die das Geschlecht der Tschitschikows verewigen sollte: einen lebhaften Jungen und eine hübsche Tochter oder sogar zwei Jungen und zwei oder sogar drei Töchter, damit alle wissen, daß er wirklich gelebt und existiert hatte und nicht als ein Schatten oder Gespenst über die Erde gezogen war – damit er sich auch vor seinem Vaterlande nicht zu schämen brauchte. Dann fiel ihm noch ein, daß auch eine Erhöhung seines Ranges gar nicht übel wäre: Staatsrat ist zum Beispiel ein von allen geachteter Titel … Was kommt nicht alles einem Menschen beim Spaziergange in den Sinn, was ihn der langweiligen Gegenwart entreißt, seine Phantasie neckt und reizt, und wenn er auch selbst überzeugt ist, daß dies niemals eintreffen kann!

Auch den Leuten Tschitschikows gefiel das Dorf sehr gut. Sie fühlten sich darin gleich ihrem Herrn bald sehr heimisch. Petruschka schloß sich sehr schnell dem Küchenverwalter Grigorij an, obwohl sie beide zuerst sehr wichtig taten und die Nasen rümpften. Petruschka streute Grigorij Sand in die Augen, indem er ihm von seinen weiten Fahrten erzählte; Grigorij brachte ihn aber gleich mit der Erwähnung Petersburgs zum Schweigen, wo Petruschka noch nie gewesen war. Der letztere machte noch den Versuch, ihm mit der Entfernung der Gegenden, die er besucht hatte, zu imponieren; aber Grigorij nannte darauf einen solchen Ort, der auf keiner Karte zu finden war und der ganze dreißigtausend Werst weit liegen sollte, so daß der Diener Pawel Iwanowitschs vor Erstaunen den Mund aufriß und sofort vom ganzen Hausgesinde ausgelacht wurde. Trotzdem führte dieser Verkehr zu der allerengsten Freundschaft. Am Rande des Dorfes hielt Pimen der Kahle, der Onkel sämtlicher Bauern, eine Schenke, die den Namen »Akuljka« trug. In diesem Institut sah man sie zu allen Tageszeiten. Hier waren sie Stammgäste.

Sselifan fand hier andere Versuchungen. Im Dorfe wurden jeden Abend Lieder gesungen und Frühlingsreigen getanzt. Die rassigen schlanken Mädchen, wie man sie heute in den größeren Dörfern noch kaum finden kann, ließen ihn stundenlang mit aufgerissenem Munde dastehen. Es war schwer zu sagen, welche von ihnen die schönste war: sie alle hatten weiße Busen und weiße Hälse, schöne verschleierte Augen, Bewegungen von Pfauen und Zöpfe, die bis an den Gürtel reichten. Wenn er, sie bei ihren weißen Händen haltend, mit ihnen langsam den Reigen tanzte, oder mit den anderen Burschen als Mauer gegen sie vorrückte, wenn die Mädchen lächelnd sangen: »Ihr Herren, zeigt uns den Bräutigam!«; wenn die ganze Umgegend dunkel wurde und der Gesang weit jenseits des Flusses traurig widerhallte – so wußte er selbst nicht, wie ihm war. Im Schlafe und im Wachen, am Morgen und in der Dämmerung glaubte er dann immer in seinen beiden Händen weiße Mädchenhände zu halten und sich im Reigen zu bewegen.

Auch den Pferden Tschitschikows gefiel ihre neue Wohnung. Das Deichselpferd, der »Assessor«, und selbst der Schecke fanden den Aufenthalt bei Tjentjetnikow gar nicht langweilig, den Hafer vorzüglich und die Lage der Stallungen außerordentlich bequem: ein jedes hatte zwar seinen abgezäunten Stand, doch die Verschlage waren so niedrig, daß man über sie leicht die anderen Pferde sehen konnte; wenn es einem von ihnen, selbst einem, das am weitesten stand, einfiel, plötzlich zu wiehern, so konnte man ihm augenblicklich antworten.

Mit einem Worte, alle fühlten sich wie zu Hause. Was aber die Angelegenheit betrifft, in der Pawel Iwanowitsch das ganze weite Rußland bereiste, nämlich die toten Seelen, so war er in dieser Beziehung äußerst vorsichtig und heikel geworden, selbst wenn er es mit ausgesprochenen Dummköpfen zu tun hatte. Tjentjetnikow aber las doch immerhin Bücher, philosophierte und suchte verschiedene Zusammenhänge zu ergründen, warum und weshalb dies und jenes geschah. – Nein, ich fange vielleicht besser vom anderen Ende an, – dachte sich Tschitschikow. Aus seinen häufigen Gesprächen mit dem Hausgesinde erfuhr er, daß der Herr früher recht oft einen General in der Nachbarschaft besucht hatte, daß der General eine Fräulein Tochter habe, daß der Herr dem Fräulein und das Fräulein dem Herrn … aus der Sache sei aber nichts geworden, und sie seien auseinandergegangen. Er sah auch selbst, daß Andrej Iwanowitsch mit Bleistift und Feder fortwährend Köpfchen zeichnete, die alle einander ähnlich sahen.

Eines Tages nach dem Essen, als er wie gewöhnlich seine silberne Schnupftabaksdose um ihre eigene Achse drehte, sagte er: »Eines fehlt Ihnen nur, Andrej Iwanowitsch.«

»Was denn?« fragte jener, indem er eine krause Rauchwolke in die Luft steigen ließ.

»Eine Lebensgefährtin«, sagte Tschitschikow.

Andrej Iwanowitsch entgegnete darauf nichts. Damit war das Gespräch zu Ende.

Tschitschikow gab aber die Sache nicht auf. Er wählte eine andere Zeit vor dem Abendessen und sagte während eines Gesprächs über dies und jenes ganz unvermittelt: »Sie sollten doch wirklich heiraten, Andrej Iwanowitsch.«

Tjentjetnikow reagierte darauf mit keinem Wort, als wäre ihm dieses Thema höchst unangenehm.

Tschitschikow ließ den Mut noch immer nicht sinken. Zum drittenmal wählte er eine Zeit nach dem Abendessen und sagte: »Wie ich Ihre Lebensumstände auch betrachte, so sehe ich, daß Sie heiraten müssen: Sie verfallen in Hypochondrie.«

Klangen die Worte Tschitschikows diesmal besonders überzeugend, oder war Tjentjetnikow diesmal besonders zur Aufrichtigkeit geneigt – kurz, er seufzte auf und sagte, indem er den Rauch aufsteigen ließ: »Für jede Sache muß man als Glückspilz geboren sein, Pawel Iwanowitsch«, und er erzählte ihm die ganze Geschichte seiner Bekanntschaft mit dem General und ihrer Entzweiung.

Als Tschitschikow die Sache mit allen Einzelheiten erfuhr und sah, daß die Geschichte wegen des einen Wortes »du« entstanden war, schien er im ersten Augenblick ganz verdutzt. Eine Minute lang sah er Tjentjetnikow unverwandt in die Augen, als suchte er sich klar zu werden, ob jener ein ausgesprochener Dummkopf oder nur etwas blöde sei, und schließlich …

»Andrej Iwanowitsch! Erlauben Sie!« sagte er, seine beiden Hände ergreifend. »Was ist das für eine Beleidigung? Was ist denn in dem Worte ›du‹ so verletzend?«

»Im Worte selbst steckt natürlich nichts Verletzendes«, sagte Tjentjetnikow. »Die Beleidigung lag aber nicht im Sinne des Wortes, sondern im Ton, mit dem es gesprochen wurde! ›Du!‹ – das bedeutet: ›Merk es dir, daß du eine Null bist; ich verkehre mit dir nur, weil ich keinen besseren habe; wenn aber eine Fürstin Jusjakina gekommen ist, so sollst du wissen, wo dein Platz ist, und bei der Schwelle stehen.‹ Das bedeutet dieses Wort!« Bei diesen Worten sprühten die Augen unseres sanften und milden Andrej Iwanowitschs Funken; seine Stimme zitterte vor beleidigtem Ehrgefühl.

»Und selbst wenn er es in diesem Sinne gebraucht hat, was ist denn dabei?« fragte Tschitschikow.

»Wie? Sie wollen, daß ich mit ihm nach dieser Handlungsweise noch weiter verkehre?«

»Was ist denn das für eine Handlungsweise? Es ist überhaupt keine Handlungsweise«, sagte Tschitschikow kaltblütig.

»Wieso ist das keine Handlungsweise?« fragte Tjentjetnikow erstaunt.

»Es ist nur so eine Angewohnheit eines Generals und keine Handlungsweise: sie sagen zu allen ›du‹. Warum soll man das auch einem so verdienten und geachteten Mann nicht erlauben? … «

»Das ist eine andere Sache«, sagte Tjentjetnikow. »Wäre er ein Greis und arm, weder stolz, noch eitel, noch General, so würde ich ihm erlauben, mir ›du‹ zu sagen und dies sogar mit Respekt aufnehmen.«

 

– Er ist ganz dumm – dachte sich Tschitschikow, – einem Bettler würde er es erlauben, aber einem General nicht! … – »Schön!« sagte er laut. »Nehmen wir sogar an, daß er Sie beleidigt hat, Sie haben es ihm aber schon heimgezahlt: er hat Sie beleidigt, und Sie ihn. Aber sich mit einem Menschen entzweien und dabei eine persönliche Sache aufgeben, das ist, entschuldigen Sie … Wenn man sich schon einmal ein Ziel gesteckt hat, so muß man es energisch verfolgen. Wer wird darauf achten, daß der andere spuckt! Der Mensch ist schon einmal so beschaffen, daß er immer spucken muß. Finden Sie doch in der ganzen Welt einen Menschen, der nicht spuckte!«

– Ein merkwürdiger Kauz ist dieser Tschitschikow! – dachte sich Tjentjetnikow verdutzt und von diesen Worten überrascht.

– Ein merkwürdiger Kauz ist dieser Tjentjetnikow! – dachte sich währenddessen Tschitschikow.

»Andrej Iwanowitsch, ich will mit Ihnen wie ein Bruder sprechen! Sie sind unerfahren, lassen Sie mich diese Sache in Ordnung bringen. Ich will zu Seiner Exzellenz hinfahren und ihm erklären, daß ein Mißverständnis vorliege, daß alles von Ihrer Jugend und mangelnden Menschen- und Weltkenntnis komme.«

»Ich bin nicht geneigt, mich vor ihm irgendwie zu erniedrigen!« sagte Tjentjetnikow verletzt. »Und ich kann auch Sie nicht dazu ermächtigen.«

»Auch ich bin nicht fähig, mich zu erniedrigen«, sagte Tschitschikow verletzt. »Ich kann mir wohl eine andere menschliche Schwäche zuschulden kommen lassen, doch werde ich mich niemals vor jemand erniedrigen … Andrej Iwanowitsch, Sie müssen mir meine gute Absicht entschuldigen, ich hatte nicht erwartet, daß Sie meine Worte in einem beleidigenden Sinne auffassen werden.« Dies alles sagte er mit großer Würde.

»Ich bin schuld, entschuldigen Sie!« sagte Tjentjetnikow gerührt und ergriff ihn hastig bei beiden Händen. »Ich wollte Sie gar nicht beleidigen. Ich schwöre Ihnen, Ihre gütige Teilnahme ist mir sehr wertvoll! Brechen wir aber dieses Gespräch ab und sprechen wir nie wieder darüber!«

»In diesem Falle fahre ich ganz einfach zum General.«

»Wozu denn?« fragte Tjentjetnikow, ihm erstaunt in die Augen blickend.

»Um ihm meine Hochachtung zu bezeugen.«

– Ein merkwürdiger Mensch ist dieser Tschitschikow! – dachte sich Tjentjetnikow.

»Ich will ihn gleich morgen gegen zehn Uhr früh besuchen, Andrej Iwanowitsch. Ich bin der Ansicht, je schneller man einem seine Hochachtung bezeugt, um so besser. Da mein Reisewagen noch nicht im richtigen Zustande ist, so gestatten Sie mir, Ihren Wagen zu benützen. Ich würde schon morgen so gegen zehn Uhr früh zu ihm hinfahren.«

»Aber erlauben Sie, was ist das für eine Bitte? Sie sind hier der Herr, und die Equipage steht zu Ihrer Verfügung.«

Nach dieser Unterhaltung wünschten sie einander gute Nacht und zogen sich ein jeder auf sein Schlafzimmer zurück, nicht ohne über die Eigentümlichkeit des anderen nachzudenken.

Eine seltsame Sache! Als am anderen Morgen die Equipage vorfuhr und Tschitschikow mit einer beinahe militärischen Gewandtheit, in einem neuen Frack, weißer Binde und Weste hineinsprang und davonfuhr, um dem General seine Hochachtung zu bezeugen, geriet Tjentjetnikow in eine solche Aufregung, wie er sie schon lange nicht empfunden hatte. Alle seine eingerosteten und verschlafenen Gedankengänge wurden plötzlich lebhaft und unruhig. Eine nervöse Erregung bemächtigte sich plötzlich aller Gefühle des in sorglosen Müßiggang versunkenen Faulenzers. Bald setzte er sich aufs Sofa, bald trat er ans Fenster, bald nahm er ein Buch vor, bald versuchte er zu denken – ein vergebliches Bemühen: kein Gedanke kam ihm in den Kopf. Bald versuchte er, an nichts zu denken – vergebliche Mühe: Bruchstücke von Gedanken, Enden und Zipfel von Gedanken kamen ihm von allen Seiten in den Sinn. »Ein seltsamer Zustand!« sagte er und setzte sich ans Fenster, um auf die den Eichenwald durchschneidende Landstraße zu schauen, an deren Ende noch der Staub wirbelte. Wir wollen aber Tjentjetnikow verlassen und Tschitschikow folgen.

Kapitel 2

Die guten Pferde legten mit Tschitschikow die zehn Werst lange Strecke in kaum mehr als einer halben Stunde zurück: erst ging der Weg durch einen Eichenwald, dann an Getreidefeldern vorbei, die inmitten frischgepflügten Äckern grünten, dann am Rande der Anhöhe, von der aus sich immer neue Aussichten boten; dann führte er durch eine breite Allee von Linden, deren Knospen eben erst aufgingen, mitten ins Dorf. Hier machte die Allee eine Wendung nach rechts, verwandelte sich in eine Allee von Pappeln, die unten mit Flechtwerk eingefaßt waren, und endete vor einem gußeisernen Gittertor, durch das man die reich verzierte Fassade des Generalshauses mit den acht korinthischen Säulen sehen konnte. Überall roch es nach Ölfarbe, die alles verjüngt und keinem Ding Zeit läßt, alt zu werden. Der Hof war so sauber wie Parkett. Tschitschikow sprang mit Respekt aus dem Wagen, ließ sich beim General anmelden und wurde direkt ins Kabinett geführt. Der General setzte ihn mit seinem majestätischen Äußern in Erstaunen. Er trug einen gesteppten Atlasschlafrock von herrlicher Purpurfarbe. Ein offener Blick, ein männliches Gesicht, graumelierter Schnurr- und Backenbart, kurz geschnittenes Haar im Nacken, ein dicker, dreistöckiger, d. h. drei Falten bildender Hals mit einer Querfalte: mit einem Worte, es war einer von den malerischen Generalen, an denen das Jahr 1812 so reich gewesen war. General Betrischtschew hatte wie die meisten von uns eine Menge von Vorzügen und eine Menge von Mängeln. Die einen wie die anderen waren in ihm, wie es beim Russen so oft der Fall ist, in malerischer Unordnung durcheinandergewürfelt. In entscheidenden Augenblicken zeigte er Großmut, Tapferkeit, grenzenlose Freigebigkeit und Verstand in allen Dingen; daneben war er aber launisch, ehrgeizig, selbstsüchtig und zeigte alle die kleinen Empfindlichkeiten, ohne die kein Russe auskommen kann, wenn er ohne Arbeit dasitzt und keine entscheidenden . . . Er mochte alle, die ihn im Dienste überholt hatten, nicht leiden und äußerte sich über sie bissig in scharfen Epigrammen. Am meisten bekam von ihm einer seiner früheren Kameraden ab, der, nach seiner Ansicht, wie an Klugheit so an Fähigkeiten ihm nachstand, der ihn aber schon überholt hatte und Generalgouverneur zweier Gouvernements war, wie zum Trotz derselben, in denen sich seine Besitzungen befanden, so daß er von ihm gewissermaßen abhing. Um sich an ihm zu rächen, verspottete er ihn bei jeder Gelegenheit, tadelte jede seiner Anordnungen und sah in allen seinen Maßnahmen und Handlungen den Gipfel der Dummheit. Alles war an ihm höchst merkwürdig; so war er ein eifriger Vorkämpfer jeder Aufklärung und liebte es, Dinge zu wissen, die die anderen nicht wußten; diejenigen aber, die etwas wußten, was er nicht wußte, konnte er nicht leiden. Mit einem Worte, er liebte es, mit seinem Verstände zu brillieren. Obwohl er fast ausschließlich von Ausländern erzogen worden war, wollte er die Rolle eines echt russischen Grandseigneurs spielen. Es ist auch nicht zu verwundern, daß er bei diesem ungleichmäßigen Charakter und den auffallenden inneren Widersprüchen auf seiner Laufbahn vielen Unannehmlichkeiten begegnete, so daß er schließlich seinen Abschied nehmen mußte; dies schrieb er aber einer vermeintlichen feindlichen Partei zu und hatte nicht den Mut, auch nur einen Teil der Schuld auf sich selbst zu nehmen. Auch außer Dienst behielt er die gleiche malerische und majestätische Haltung. Ganz gleich, ob er einen Rock, einen Frack oder einen Schlafrock anhatte, er war immer derselbe. Von der Stimme bis zur kleinsten Gebärde war an ihm alles gebieterisch und befehlend und weckte in den ihm Untergebenen wenn nicht Achtung, so doch jedenfalls Furcht.

Tschitschikow empfand das eine wie das andere: Achtung und Furcht. Den Kopf ehrerbietig zur Seite geneigt, die Hände gespreizt, wie wenn er ein Tablett mit Tassen heben wollte, verbeugte er sich wunderbar elegant mit dem ganzen Rumpfe und sagte: »Ich hielt es für meine Pflicht, mich Eurer Exzellenz vorzustellen. Da ich hohe Achtung vor den Tugenden der Männer habe, die das Vaterland auf dem Schlachtfelde erretteten, hielt ich es für meine Pflicht, mich Eurer Exzellenz persönlich vorzustellen.«

Dem General schien diese Einleitung nicht zu mißfallen. Er nickte höchst gnädig mit dem Kopfe und sagte: »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Wollen Sie doch Platz nehmen. Wo haben Sie gedient?«

»Meine dienstliche Laufbahn«, begann Tschitschikow, sich setzend, doch nicht etwa in die Mitte des Sessels, sondern etwas schief und mit der Hand die Armlehne ergreifend, »begann im Rentamte, Exzellenz. Ihren weiteren Verlauf nahm dieselbe in verschiedenen Ressorts: ich war am Hofgericht, an einer Baukommission und am Zollamte angestellt. Mein Leben ließe sich mit einem Schiffe inmitten Meereswellen vergleichen, Exzellenz. Ich bin sozusagen mit Geduld großgezogen worden und bin, man kann wohl sagen, die personifizierte Geduld … Was ich aber von meinen Feinden auszustehen hatte, die mir selbst nach dem Leben trachteten, das vermag weder ein Wort, noch eine Farbe, noch sozusagen ein Pinsel wiederzugeben, und so suche ich an meinem Lebensabend einen Winkel, um den Rest meiner Tage zu verbringen. Vorläufig wohne ich beim nächsten Nachbar Eurer Exzellenz … «

»Bei wem denn?«

»Bei Tjentjetnikow, Exzellenz.«

Der General verzog das Gesicht.

»Exzellenz, er bereut es sehr, daß er Ihnen nicht den schuldigen Respekt erwiesen hat.«

»Respekt, wovor?«

»Vor den Verdiensten Eurer Exzellenz. Er findet keine Worte … Er sagt: ›Wenn ich nur könnte, auf irgendeine Weise … denn ich weiß‹, sagt er, ›die Männer wohl zu schätzen, die das Vaterland verteidigt haben.‹ So sagt er.«

»Aber erlauben Sie, was hat er denn? Ich bin ihm doch gar nicht böse«, sagte der General, viel milder werdend. »Ich habe in meinem Herzen eine aufrichtige Zuneigung zu ihm gefaßt und bin überzeugt, daß aus ihm mit der Zeit ein höchst nützlicher Mensch werden wird.«

»Euer Exzellenz haben just das richtige Wort gebraucht: in der Tat, ein höchst nützlicher Mensch; er versteht es, mit Worten zu kämpfen und kann auch gut schreiben.«

»Ich meine, er wird wohl irgendeinen Unsinn schreiben – macht er nicht Verse?«

»Nein, Eure Exzellenz, es ist kein Unsinn … Es ist etwas sehr Vernünftiges … Er schreibt … eine Geschichte, Eure Exzellenz.«

»Eine Geschichte? Was für eine?«

»Eine Geschichte … « Tschitschikow machte hier eine Pause, entweder weil vor ihm ein General saß, oder um einfach der Sache einen größeren Nachdruck zu verleihen. Er fuhr fort: »Eine Geschichte der Generale, Exzellenz.«

»Wieso, der Generale? Welcher Generale?«

»Der Generale im allgemeinen, Exzellenz. Das heißt eigentlich der vaterländischen Generale.«

Tschitschikow kam plötzlich ganz aus dem Konzept; er war nahe daran, auszuspucken und sagte zu sich selbst: – Mein Gott, was schwatze ich da zusammen? –

»Entschuldigen Sie, ich verstehe es nicht ganz … Was soll es denn werden: die Geschichte einer bestimmten Epoche oder eine Reihe einzelner Biographien? Gedenkt er alle Generale aufzunehmen oder nur die, die an den Ereignissen des Jahres 1812 beteiligt waren?«

»Gewiß, Euer Exzellenz, nur solche, die im Jahre 1812 beteiligt waren!« Nachdem er dies gesagt, dachte er sich: – Man schlage mich tot, ich verstehe nichts! –

»Warum kommt er dann nicht mal zu mir? Ich könnte ihm recht viel interessantes Material liefern.«

»Er getraut sich nicht, Exzellenz.«

»Unsinn! Wegen eines dummen Wortes, das ich so ganz zwischen uns fallen gelassen habe … Ich bin ja nicht so ein Mensch. Ich bin sogar bereit, selbst zu ihm hinzufahren.«

»Das wird er nicht zulassen, er wird selbst herkommen«, sagte Tschitschikow. Nun hatte er seine Selbstbeherrschung wieder und dachte sich: – Dieses Glück! Wie gut habe ich es mit den Generalen getroffen! Die sind mir aber ganz zufällig eingefallen. –

Im Kabinett raschelte es. Die Nußholztür eines geschnitzten Schrankes ging ganz von selbst auf, und auf ihrer Rückseite zeigte sich, die Hand an der Messingklinke, ein reizendes lebendes Bild. Wäre plötzlich in einem dunklen Zimmer ein von starken Lampen durchleuchtetes Transparentbild erschienen, so hätte es durch die Plötzlichkeit seines Erscheinens keinen so mächtigen Eindruck machen können, wie diese kleine Gestalt. Offenbar war sie ins Zimmer getreten, um etwas zu sagen, als sie aber einen Unbekannten sah . . . mit ihr zugleich war gleichsam ein Sonnenstrahl eingedrungen, und das ganze düstere Kabinett des Generals schien zu lächeln. Tschitschikow konnte sich im ersten Augenblick keine Rechenschaft darüber ablegen, was eigentlich vor ihm stand. Es war schwer zu sagen, aus welchem Lande sie stammte. Ein so reines, edles Gesichtsoval könnte man wohl nirgends finden, höchstens auf antiken Kameen. Schlank und leicht wie ein Pfeil, schien sie alles zu überragen. Es war aber nur eine Täuschung. Sie war gar nicht groß gewachsen. Die Täuschung beruhte auf dem ungewöhnlich harmonischen Verhältnis ihrer Glieder zueinander. Ihr Kleid saß so, als hätten sich die besten Schneiderinnen zusammengetan, um sich zu beraten, wie sie am besten zu kleiden wäre. Aber auch das war eine Täuschung. Ihr Kleid war ganz von selbst entstanden: die Nadel hatte ein nicht mal zugeschnittenes Stück einfarbigen Stoffes aufs Geratewohl an zwei oder drei Stellen zusammengerafft, und schon hatte er sich selbst in so wunderbaren Falten um sie geschmiegt, daß, wenn man sie auf einem Bilde darstellen wollte, alle nach der Mode gekleideten jungen Mädchen im Vergleich zu ihr wie bunte Puppen vom Trödelmarkte ausgesehen hätten. Hätte man sie aber mit allen Falten des sie umschmiegenden Gewandes in Marmor nachgebildet, so würde man das Werk einem genialen Künstler zuschreiben. Nur eines war nicht gut: sie war gar zu schlank und hager.

 

»Ich will Ihnen meinen Liebling vorstellen!« sagte der General, sich an Tschitschikow wendend. »Ihren Familiennamen, auch Ihren Vor- und Vaternamen weiß ich übrigens noch immer nicht.«

»Soll man denn den Vor- und Vaternamen eines Menschen kennen, der sich durch keinerlei Tugenden ausgezeichnet hat?« sagte Tschitschikow bescheiden, den Kopf auf die Seite neigend.

»Man muß doch immerhin wissen … «

»Pawel Iwanowitsch, Exzellenz!« sagte Tschitschikow, indem er sich mit einer beinahe militärischen Gewandtheit verbeugte und mit der Leichtigkeit eines Gummiballs zurückprallte.

»Ulinjka!« wandte sich der General an die Tochter: »Pawel Iwanowitsch hat soeben eine höchst interessante Neuigkeit mitgeteilt. Unser Nachbar Tjentjetnikow ist doch nicht so dumm, wie wir es geglaubt haben. Er befaßt sich mit einer recht wichtigen Arbeit: er schreibt die Geschichte der Generale des Jahres 1812.«

»Wer hat denn geglaubt, daß er dumm sei?« entgegnete sie schnell. »Höchstens Wischnepokromow, dem du so vertraust, der aber ein hohler und gemeiner Mensch ist!«

»Warum denn gemein? Etwas hohl ist er allerdings«, sagte der General.

»Er ist auch etwas gemein und niederträchtig und nicht nur etwas hohl. Wer seine Brüder so schlecht behandelt und seine leibliche Schwester aus dem Hause gejagt hat, der ist ein gemeiner Mensch.«

»Das erzählt man sich nur.«

»Solche Dinge wird man nicht ohne Grund erzählen. Ich verstehe es wirklich nicht, Vater, wie du es mit deinem guten und edlen Herzen fertigbringst, mit einem Menschen zu verkehren, der von dir so verschieden ist wie die Erde vom Himmel, und von dem du selbst weißt, daß er schlecht ist.«

»Nun sehen Sie«, sagte der General lächelnd zu Tschitschikow: »So streiten wir uns immer herum.« Darauf wandte er sich an seine Opponentin und fuhr fort:

»Herzchen, ich kann ihn doch nicht hinausjagen!«

»Warum denn hinausjagen? Aber warum erweist du ihm soviel Aufmerksamkeit, warum liebst du ihn?«

Hier hielt es Tschitschikow für nötig, ins Gespräch einzugreifen.

»Alle Menschen verlangen nach Liebe, gnädiges Fräulein«, sagte Tschitschikow. »Was soll man machen? Auch das Haustier liebt es, daß man es streichelt; es steckt seine Schnauze aus dem Stalle heraus: bitte, streichle mich!«

Der General fing an zu lachen. »Ja, es steckt wirklich seine Schnauze heraus: bitte, streichle mich! … Ha, ha, ha! Auch so ein Kerl hat nicht nur die Schnauze, sondern den ganzen Körper voll Dreck, und doch verlangt er Anerkennung … Ha, ha, ha, ha!« Und der ganze Körper des Generals erbebte vor Lachen. Seine Schultern, die einst mit üppigen Epaulettes geschmückt waren, zitterten so, als ob sie auch jetzt noch die üppigen Epaulettes trügen.

Auch Tschitschikow gab eine Interjektion des Lachens von sich, doch aus Respekt vor dem General wandte er hierbei den Vokal »e« an: »He, he, he, he!« Auch sein Körper erzitterte vor Lachen, aber die Schultern zitterten nicht, da sie niemals üppige Epaulettes getragen hatten.

»So einer bestiehlt den Staat, und dann verlangt er noch eine Belohnung, diese Kanaille! Ich muß, sagt er, meine Anerkennung haben, denn ich habe mich so abgemüht … Ha, ha, ha, ha!«

Das edle, liebreizende Gesicht des jungen Mädchens zeigte einen schmerzlichen Ausdruck. »Ach, Papa! Ich verstehe nicht, wie du bloß lachen kannst! Mich stimmen solche ehrlose Handlungen nur traurig. Wenn ich sehe, daß ein Betrug ganz öffentlich verübt wird und der Schuldige nicht von allgemeiner Verachtung bestraft wird, so weiß ich gar nicht, wie mir ist, ich werde dann zornig und sogar schlecht: ich denke, ich denke … « Und sie brach beinahe in Tränen aus.

»Bitte, sei uns nur nicht böse«, sagte der General. »Wir können nichts dafür. Nicht wahr?« wandte er sich an Tschitschikow. »Gib mir einen Kuß und geh. Ich werde mich gleich zum Mittagessen umkleiden. Ich hoffe,« sagte er, Tschitschikow gerade in die Augen blickend, »daß du bei mir zu Mittag ißt?«

»Wenn es nur Eurer Exzellenz… «

»Bitte, ohne Rangordnung! Ich bin noch, Gott sei Dank, in der Lage, einen Gast zu bewirten. Eine Kohlsuppe wird es immer geben.«

Tschitschikow spreizte beide Arme und neigte den Kopf dankbar und ehrfurchtsvoll, so daß alle Gegenstände im Zimmer für eine Weile seinen Blicken entschwanden und er nur noch die Spitzen seiner Halbschuhe sehen konnte. Nachdem er eine Zeitlang in dieser ehrerbietigen Stellung verharrt hatte, hob er den Kopf wieder, sah aber Ulinjka nicht mehr. Sie war verschwunden. An ihrer Stelle stand ein riesenhafter Kammerdiener mit mächtigem Schnurr- und Backenbart, mit einer silbernen Schüssel und einem Waschbecken in der Hand.

»Du erlaubst doch, daß ich mich in deiner Gegenwart anziehe?«

»Sie dürfen sich in meiner Gegenwart nicht nur anziehen, sondern auch alles andere verrichten, was Euer Exzellenz beliebt.«

Der General zog den einen Arm aus dem Schlafrock heraus, krempelte die Hemdärmel auf den starken Armen auf und begann sich zu waschen, wobei er wie eine Ente um sich spritzte und prustete. Das Seifenwasser flog nach allen Seiten.

»Ja, sie lieben wirklich Anerkennung,« sagte er, während er sich seinen Hals rings herum abtrocknete … »Ein jeder will gestreichelt sein! Ohne die Anerkennung wird er wohl gar nicht stehlen wollen! Ha, ha, ha!«

Tschitschikow war in einer unbeschreiblich guten Laune. Plötzlich kam über ihn Begeisterung. – Der General ist ein lustiger und gutmütiger Kerl, warum sollte ich es nicht versuchen?! – dachte er sich. Als er sah, daß der Kammerdiener mit der Schüssel hinausgegangen war, rief er aus: »Euer Exzellenz! Da Sie schon so gütig und aufmerksam gegen alle sind, wende ich mich an Sie mit einer großen Bitte.«

»Was ist's für eine Bitte?« – Tschitschikow sah sich um.

»Ich habe, Exzellenz, einen alten Onkel, er besitzt dreihundert Seelen und zweitausend … außer mir gibt es keine Erben. Infolge seines Alters kann er sein Gut nicht selbst verwalten, will es aber auch nicht mir anvertrauen. Und zwar mit einer sehr merkwürdigen Begründung! Er sagt: ›Ich kenne meinen Neffen nicht! Vielleicht ist er ein Verschwender. Er soll mir zuerst zeigen, daß er zuverlässig ist. Soll er sich erst dreihundert Seelen erwerben, dann werde ich ihm auch meine dreihundert überlassen.‹«

»Er ist also ganz dumm?« fragte der General.

»Daß er dumm ist, wäre noch nicht das schlimmste. Aber versetzen Sie sich in meine Lage, Exzellenz! Der Alte hat sich eine Haushälterin zugelegt, und die Haushälterin hat Kinder. Es kann leicht passieren, daß die alles erben.«