Die Angst der Schweigenden

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

9

Die Luft war grau, und dicke Flocken fielen schwer vom Himmel. Ihren Schlitten durch den frischen Tiefschnee zu ziehen, war mühsam. Hier und da fand Marga Spuren von Hasen und Rehen, aber nirgendwo Hinweise auf ein abgestürztes Rentier.

Gisela streckte neugierig ihren Kopf aus der Hütte.

»Ich habe jetzt keine Zeit für dich«, keuchte Marga.

Im Sommer schon. Im Sommer hatte sie Zeit. Da gab es keinen Weihnachtsmann, der verletzt im Schnee saß und gerettet werden musste. Da gab es nur die Sonne und Blumen und Gras und Insekten und ihren Hof und Wasser zum Spritzen und Mama, die Melonen rausbrachte und ihr über den Kopf streichelte, wenn sie mit ihrem Meerschweinchen dicht an Giselas Zaun saß und sich Geschichten ausdachte. Anton hatte dabei mal einen schrecklichen Sonnenbrand bekommen. Seine weißen Ohren waren knallrot geworden und hatten sich wenige Tage später gepellt. Seitdem cremte Marga sie sorgfältig mit Sonnenlotion ein.

Sie hörte neben sich das Knacken eines abbrechenden Astes. Gewaltige Schneemassen fielen mit ihm herab, ein Eichhörnchen sprang zurück zum Stamm und lief hektisch die Baumkronen entlang, dabei löste sich immer mehr Schnee, der auf Marga herabfiel, sodass ihr Kragen bald durchnässt war und ihre Wangen vor Kälte brannten.

Sie lief weiter, hatte die Kordel fest um ihre Hand gewickelt. Eigentlich gab es den Weihnachtsmann nicht, genauso wenig, wie es das Christkind gab oder Gott oder die Zahnfee oder den Osterhasen oder den Nikolaus. Und wenn doch? Wenn es ihn doch gab und nur keiner Lust hatte, an ihn zu glauben?

Marga seufzte, stapfte weiter durch den tiefen Schnee. Der Weihnachtsmann lag da und schlief, hatte seine Arme und Beine weit von sich gestreckt.

Marga beugte sich über ihn. »Du musst wach werden.«

Erschrocken öffnete er seine Augen. »Wie lange liege ich hier?«

»Das habe ich mich auch schon gefragt.« Sie runzelte ihre Stirn. »Als ich gefrühstückt habe, warst du noch nicht vollgeschneit, so wie jetzt.« Sie zeigte auf seinen roten Samtanzug. »Kannst du dich eigentlich an nichts erinnern?« Marga legte ihren Kopf in den Nacken. Mit ihrer ausgestreckten Zunge fing sie Schneeflocken auf. »Ich darf keinen Schnee essen«, bedauerte sie. »Mama hat es mir verboten. Sie meint, dass ich vom Schneeessen Durchfall bekomme.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe Anton mal mit Schnee gefüttert. Kein Durchfall. Mama erlaubt es mir trotzdem nicht.« Sie schielte auf die Flocken, die auf ihrer Nase zu schmelzen begannen. »Übrigens hätte ich auch lieber keinen Bart, wenn ich der Weihnachtsmann wäre.« Marga zog besorgt ihre Augenbrauen zusammen. »Du hast eine Gehirnerschütterung.«

»Hör mal, Mädchen, du …«

»Marga, und du brauchst keine Angst zu haben. Ich hatte auch mal eine, das ist gar nicht schlimm. Man ruht ein paar Tage und jemand leuchtet einem in die Augen.« Sie räusperte sich. »Ich habe sogar gekotzt.«

»Und was ist passiert?«, stöhnte der Mann ungeduldig.

»Nichts. Mama hat mir meine Haare zurückgehalten und meinen Rücken gestreichelt.« Sie winkte ab. »Ich bin geritten. Letzten Sommer.«

»Scheißpferde.«

»Nein. Gisela ist ein Schwein. Ein Bentheimer Landschwein. Sie ist vom Aussterben bedroht.«

»Du bist auf einem Schwein geritten?«

»Auf Gisela, ja. Sie hat ganz viele schwarze Flecken.«

»Mit einem Sattel und Zaumzeug?«

»Und einem Einhorn.«

»Vom Schwein gefallen.« Der Weihnachtsmann tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

»Gisela wiegt 187 Kilo.« Marga lächelte stolz. »Ich habe sie mal gewaschen und eingeschäumt.« Sie brachte den Schlitten in Position. »Und wie soll das jetzt gehen? Du bist so dick.«

»Wie soll denn ein dünner Weihnachtsmann den riesigen Sack mit den Geschenken schleppen und die Rentiere versorgen und die Wichtel beaufsichtigen?«

»Wichtel?«, hauchte Marga.

Der Weihnachtsmann stemmte sich krächzend auf alle viere. Er verharrte mit schmerzverzerrtem Gesicht.

»Bekommst du ein Baby?« Marga wich zurück.

Mama hatte damals geblutet und geschrien und einen roten Kopf bekommen, und als Robert aus ihrer Scheide geflutscht war, hatte Mama noch mehr geblutet und noch mehr geschrien. Marga hatte ein Handtuch besorgen und Robert darin einwickeln wollen, aber Papa war zur Haustür hereingestürmt und hatte Marga unsanft zur Seite geschubst. »Lass mich durch«, hatte er gebrüllt und sich auf Robert gestürzt, der nun nicht mehr rosig war, sondern lila. Marga hatte sich mit Anton in die Scheune verkrochen. Sie war in den Unimog geklettert und erst wieder herausgekommen, als sie am Abend Papas Stimme gehört hatte. Papa hatte ihr erklärt, dass es Robert und Mama gut ginge. Ständig war eine Frau im Haus umhergeschlichen, die nach Mama und Robert geschaut hatte. Marga hatte Bilder malen dürfen und mit der Frau über alles sprechen können, wozu Marga Lust hatte. Mama hatte immerzu auf der Couch gelegen und geweint, obwohl Robert ganz weich und warm war, gar nicht mehr lila. Marga hatte seine Milch probieren dürfen, die wässrig und süß geschmeckt und im Hals gebrannt hatte. Papa war ihr kaum von der Seite gewichen. Ständig hatte er sie besorgt angesehen und ihr über den Kopf gestreichelt, und Mama hatte in besonderem Maße fürsorglich gewirkt, weil sie ständig gefragt hatte, ob ihr warm genug sei, ob sie Hunger habe oder kuscheln wolle. Mama hatte Geschichten von neuen Babys und Familien vorgelesen, und ihr wurde ein besonderes Nachtlämpchen ans Bett gestellt.

»Mädchen?«

Marga zuckte zusammen.

»Was ist jetzt?«

Eifrig positionierte sie den Schlitten unter seine Körpermitte. Der Weihnachtsmann ließ sich herabsinken. Er stöhnte und sog geräuschvoll die Luft ein.

»Geschafft!«, rief Marga und hüpfte von einem Fuß auf den anderen. »Ich bringe dich in die Scheune«, erklärte sie wichtig. »Da kannst du trocknen.« Sie straffte das Seil, zog, aber der Schlitten ließ sich nicht bewegen. Nicht einen Zentimeter.

Marga ließ sich in den Schnee sinken, trotzig griff sie hinein, steckte sich eine Handvoll davon in den Mund. Dann fiel ihr Gisela ein. »Natürlich!«, rief Marga laut und sprang auf. »Warte hier«, befahl sie und rannte los. Sie hörte sich keuchen, ihr Herz klopfte wild.

Jetzt würde doch alles gut werden, dachte sie, auch wenn sie den Weihnachtsmann lieber nicht retten wollte.

10

Alles schwarz.

Der Abend war schwarz. Der Sturm war schwarz.

Sie hörte ihn, er schleuderte Unmengen Schnee an die Scheiben.

Inna lehnte sich an die Anrichte. Ihr war schwindelig.

»Ist Ihnen nicht gut?«

Sie winkte ab, holte einen Topf heraus.

»Ich kann Ihnen helfen«, bot er an. Er machte eine ausladende Geste in die Halle. »Ihre Berufung?«

»Eine Berufung hat für mich etwas Wohltätiges und Gemeinnütziges. Das Verspüren eines inneren Rufes zu einer bestimmten Lebensaufgabe«, antwortete Inna.

Igor nickte. »Zahlen, Tragfähigkeitsannahmen und Berechnungsmodelle.«

»Nein.«

»Dann eben nicht«, bemerkte er eingeschnappt. »Für mich ist es Holz. Mein Beruf als Schreiner. Deswegen will ich umbauen und größer werden.«

»Woher kennen Sie Grunewald?«

»Ich habe ihm eine Haustür gebaut.« Igor lächelte. »Aus einer Geschäftsbeziehung wurde Freundschaft. Wir kennen uns schon viele Jahre.«

Das Wasser im Topf begann zu sieden. Inna holte eine Packung Spaghetti aus dem Schrank. Igor war ein guter Lügner, dachte sie. Sie musste ihn bei Laune halten. Ein paar Stunden. Bis sich der Sturm gelegt hatte und sie verschwinden konnte. »Haben Sie Hobbys?«, fragte sie.

Igor lehnte sich an die Anrichte und verschränkte seine Arme. »Ich spiele Eishockey. Mit fünf Jahren habe ich angefangen.« Er zeigte seine Schneidezähne. »Den hier habe ich mal verloren«, sagte er. »Ist ersetzt worden.«

Inna wartete.

»Und ich liebe Eisstockschießen, falls Sie danach fragen wollten.« Igor überlegte. »Eigentlich mag ich alle Wintersportarten.«

Das kochende Wasser bildete große Blasen. Inna ließ den Inhalt der gesamten Packung in den Topf gleiten, rührte um.

Sie würde nichts essen können. Sie würde Igor gegenübersitzen und ihm nervös beim Kauen zusehen. Sie würde sich rechtfertigen müssen, das würde ihr schwerfallen. Am Ende würde sie sich zum Essen zwingen.

In ihrem Bauch flatterte der Sturm.

Sie schüttete das heiße Nudelwasser mitsamt den Spaghetti in ein Sieb. Der heiße Dampf stieg auf.

Wie heute Morgen.

»Soll ich übernehmen?«, fragte Igor.

Inna schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie stellte zwei Teller und Gläser bereit, holte Besteck aus der Schublade, reichte Igor das Pesto.

»Dann wollen wir mal«, sagte er fröhlich.

Dann wollen wir mal.

Sie tischten auf und setzten sich, Igor kaute erwartungsvoll.

Fragen. Sie musste ihn ablenken. »Wie war Ihr Wochenende?«, fragte sie.

»Mein Wochenende?« Igor schüttelte verständnislos den Kopf. »Wieso denn …«

»Oder Ihre Kindheit? Wir können uns auch über Ihre Kindheit unterhalten.«

Er hob seine Augenbrauen. »Sie stellen komische Fragen.« Igor schob sich eine Gabel Spaghetti in den Mund und kaute. »Ich habe zwei Brüder«, erklärte er mit vollem Mund. »Aber das wissen Sie ja schon.«

»Ja. David ist gestorben. Letztes Jahr. Victor baut Kohl an.«

»Wollen Sie denn gar nicht wissen, woran mein Bruder gestorben ist?«

»Nein.«

»Er hatte einen Unfall. Er hat sich mit einer Kreissäge die Hauptschlagader am Oberschenkel …« Igor räusperte sich. »Er ist verblutet.«

»Okay.«

 

»Okay? Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?«

»Ja.«

»Ja«, wiederholte Igor, zeigte auf ihren Teller. »Essen Sie denn nichts?«

Inna schluckte trocken. »Ich habe keinen Hunger.«

»Weil Sie Angst haben.«

Inna presste ihre Lippen aufeinander. »Schon den ganzen Tag«, nickte Inna.

»Vor mir?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte schon Angst, da war ich noch zu Hause. Ich bin aufgestanden und habe es rascheln hören.«

Igors Blick drückte vollkommenes Unverständnis aus. »Es hat geraschelt?«

»Eine Intuition. Irgendetwas hat mir am Morgen schon gesagt, dass heute etwas Unheilvolles passiert.«

»Sind Sie spirituell?«

»Nein.«

»Und das Rascheln? Was soll das gewesen sein? Irgendein Wink des Universums?« Er machte eine abwertende Geste. »Das passt überhaupt nicht zu Ihnen.«

»Unheilvoll.« Inna machte eine Pause. »Etwas Unheilvolles hat sich angekündigt.«

»Der Schneesturm.«

»Nein.« Inna hob ihren Kopf. »Sie.«

Igor legte sein Besteck ab. »Grunewald hat es mir schon gesagt.«

»Was gesagt?«

»Dass Sie nicht ganz dicht sind.« Er verschränkte seine Arme.

Da sah sie ihn wieder, den blauen Schatten um seine Handgelenke. Inna schloss ihre Augen.

»Was, wenn wir uns einfach weiter unterhalten?«, schlug Igor vor. »Vielleicht legt sich Ihre Angst.« Er zuckte mit den Schultern. »Sie müssen ja nicht über das sprechen, was vorgestern passiert ist.«

»Und über was dann?«, fragte sie.

Igor überlegte. »Erzählen Sie mir von Ihrer Kindheit. Sie sind Geschwister. Sie und Jenke. Und Ihr Vater heißt Henri. Sie sind in einer Burg aufgewachsen. Was ist mit Ihrer Mutter? Lebt Sie noch?«

»Ich darf nicht über meine Mutter sprechen.«

Igor rollte mit den Augen. »Dann erzählen Sie mir eben etwas über Ihre Kindheit, ohne dass Sie Ihre Mutter dabei erwähnen.«

Inna nickte ernst. »Sich in einer Höhle verstecken. Ist das Kindheit?«

*

Sie sah das dicke Edchen. Edchen, die ihre Hände an der Schürze abwischte und sorgenvoll eine Dose Kekse aus dem Schrank zog. »Möchtet ihr noch heißen Kakao?«

»Wir nehmen alles«, sagte Inna. »Alles. Oder, Jenke?«

Jenke schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Können wir jetzt los?«

»Aber nur bis zu den Steinriesen«, warnte Edchen. »Ich komme sonst um vor Sorge.«

»Wissen wir.« Jenke schnappte sich die Tasche mit dem Kakao und den Keksen.

»Und es ist kalt. Und nass.« Edchen zeigte aus dem Fenster. »Seht ihr?«

»Sind wir aus Zucker?«

Edchen seufzte. »Nicht zum Felsenmeer!«

»Hat Henri aber erlaubt«, erwiderte Jenke. Er griff nach Innas Hand und stürmte los. Aus der großen Küche über den langen dunklen Korridor.

»Euer Vater wird trotzdem mit mir schimpfen, wenn ihr nass und verfroren zurückkehrt!«, rief Edchen hinterher.

Sie rannten. Durch die nasse Kälte, durch den schweren Nebel. Jenke vorweg. Inna hatte Bauchschmerzen, aber das hatte sie immer. Vor Angst. Vor Angst, dass ihre Mutter wieder tagelang weg sein würde. Sie kannte keine einzige andere Mutter auf der Welt, die ganze Nächte lang fort war, ohne ein Wort darüber zu verlieren.

»Ich kann nicht mehr!«, rief Inna und schnappte nach Luft.

»Henri hat mir etwas gezeigt, weit hinten im Felsenmeer.« Jenkes Augen blitzten. »Eine Höhle. Komm!«, forderte Jenke sie auf, mit verengten Augen, um sie vor dem Nieselregen zu schützen.

Sie erreichten den Wald, waren die Einzigen weit und breit. In den Pfützen schimmerten Millionen kleine Diamanten wie glänzende Perlen auf der Wasseroberfläche. Sie balancierten über bemooste Schienen. Rostige Venen, die in der Erde verschwanden und wieder auftauchten.

»Hier entlang!«, rief Jenke.

»Weiter will ich nicht.« Inna blieb stehen. »Komm zurück!«

»Angsthase.« Er zog sie hinter sich her, vorbei an den Steinleichen, den drei Riesen. Die Felsenköpfe lauerten still. Bereit, wenn sie nur einen Schritt zu nahe kamen.

Sie liefen, bis das Moos von der nassen Erde verschluckt wurde. Sie kletterten einen Abhang hinunter, stiegen über entwurzelte Bäume, immer tiefer in den Wald hinein. Inna war noch nie so weit von zu Hause fort gewesen. Sie schaute sich um. Keine Steinriesen mehr, keine Schienen. Stattdessen der graue Himmel, Regen, der die Sicht auf die Burg durch seine milchigen Vorhänge verschleierte. Kleine Steine wurden zu größeren, bis sie als riesige Felsen das ganze Tal auskleideten. Inna zog sich Schürfwunden zu, hangelte sich mit klammen Fingern die Felsen hinauf. Kekse, Kakao. Sie verschlangen ihren Proviant gierig. Schon nach wenigen Minuten sprang Jenke ungeduldig auf. »Wir müssen uns beeilen, es darf nicht dunkel werden.«

Irgendwann gelangten sie zu einer schmalen Spalte, umschlossen von bemoosten Felsen, die weit über das Tal ragten.

»Hier durch«, verkündete Jenke. »Siehst du?« Er zeigte auf ein kleines Steinmanderl. »Damit wir uns nicht verlaufen.«

Sie zwängten sich durch die schmale Kluft, Inna brannte der Rücken. Vor Kälte und Anspannung. Und weil die Felswand ihre Haut wund gescheuert hatte.

»Weiter!«, forderte er sie auf.

Weiter. Es wurde noch enger, noch kälter. Dunkler.

»Hier kommen wir nie wieder raus«, hauchte Inna. »Wenn wir weitergehen, bleiben wir stecken.«

»Hosenschisserin!«

»Selber!« Sie streckte Jenke die Zunge raus, schob sich weiter durch die Felsspalte. Sie kletterten auf einen Vorsprung, tief unter ihnen eine mit Farn ausgekleidete Schlucht.

Er deutete auf die gegenüberliegende Seite. »Siehst du?«

Inna verstand nicht sofort, was Jenke ihr zeigen wollte.

»Da!« Er drehte ihren Kopf mit der Hand in die richtige Richtung, und dann entdeckte Inna ihn. Den Eingang zu einer Höhle. Ein dunkler Einstieg, verdeckt und getarnt durch Brennnesseln und Efeu, die sich kränklich durch die sonst so raue Schlucht rankten.

»Henri hat sie mir gezeigt.« Jenke schnappte aufgeregt nach Luft. »Er hat gesagt, dass uns hier niemand finden kann.«

Eine ganze Weile standen sie da. Starrten auf den engen Einstieg der Höhle.

»Und jetzt?«, fragte Inna vorsichtig.

»Jetzt gehen wir da rein.«

Inna schluckte. »Ich will da nicht rein.«

»Und warum nicht?«, stöhnte Jenke. »Wenn du nicht mitkommst, gehört alles, was ich darin finde, mir allein. Auch das Gold.«

Inna zögerte. »Du zuerst.«

»Das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Was, wenn ich nicht mehr rauskomme?«, flüsterte Jenke. »Du kennst nicht einmal den Weg zurück. Du müsstest sterben. Verhungern und erfrieren und sterben!«

»Hör auf damit!«

Jenke verschränkte seine Arme und presste entschlossen seine Lippen zusammen. »Alles Gold gehört mir!«

»Vielleicht sind dort Skorpione und Spinnen.« Inna knabberte an ihrer Unterlippe. »Lass uns wieder nach Hause gehen.«

Jenke schaute sie feindselig an.

Sie roch Steine, Erde, Moos. Es begann, stärker zu nieseln. Kalter Regen, der sich wie nasser Staub auf ihre Haare legte. »Ich laufe zurück.« Inna zitterte. »Es wird dunkel.«

»Morgen. Morgen klettern wir runter.« Jenke stemmte seine Hände in die Hüften. »Und holen uns das Gold. Versprochen?«

Inna nickte zaghaft.

»Und kein Wort zu niemandem«, befahl er.

Jenke lief vor, orientierte sich an den Steinmanderln. Einmal rutschte er ab und schürfte sich seinen Knöchel auf.

»Siehst du?«, schimpfte Inna. »Nur, weil du in die Höhle willst. In der Höhle ist kein Gold! In der Höhle sind Spinnen und Kröten und Skorpione.«

»Sind Sie am nächsten Tag zurückgekehrt?«

Inna schaute auf. »Ja.«

»Und?«

»Und? Könnten Sie bitte in ganzen …«

»Bitte!« Igor presste Luft durch seine geschlossenen Lippen. »Bitte erzählen Sie weiter.«

Inna blinzelte.

*

Jenke konnte beim Frühstück kaum stillsitzen. Er ließ nervös seine Beine baumeln, stieß mit seinem Fuß ständig gegen das Stuhlbein.

»Hör auf damit!« Henri sah von seiner Zeitung auf. »Was ist mit dir, Junge?«

»Inna und ich …« Er blickte Inna eindringlich an. »Wir wollen los.«

Inna nickte unbeholfen. »Spielen.«

»Bei dem Regen?« Henri faltete seine Zeitung zusammen. »Wo wollt ihr hin?«, fragte er prüfend.

»Wissen wir noch nicht.« Jenke zuckte teilnahmslos mit den Schultern.

»Inna?« Er legte seine Finger unter Innas Kinn und hob ihren Kopf an. »Wohin?«

»Wissen wir noch nicht«, flüsterte sie.

Henri köpfte sein Frühstücksei. Mit einer einzigen schnellen Bewegung. Er ließ Jenke nicht aus den Augen, als er mit bloßen Händen in das Salztöpfchen griff und ein paar Körner auf sein Ei rieseln ließ. »So?«, fragte er. »Hast du Inna die Höhle gezeigt?«

Jenke schüttelte den Kopf.

»Das ist kein Ort zum Spielen.«

»Wissen wir.«

»Warum wart ihr dann dort?«

»Waren wir nicht«, flüsterte er.

»Wo ist Mama?«, fragte Inna.

»Das wüsste ich auch gern.« Henri leerte seinen Orangensaft in einem Zug. Seine lauten Schlucke hallten durch den Speisesaal. »Ich habe dir die Höhle gezeigt, um dich zu warnen. Das Felsenmeer ist gefährlich.«

»Weiß ich doch. Dürfen wir jetzt los? Wir gehen nur bis zum Rostbahnhof.« Jenke schob seinen Stuhl zurück. »Bitte!«, flehte er.

Henri zeigte mit dem Löffel auf Inna. »Pass auf deinen Bruder auf.« Er biss in sein Brötchen.

»Okay«, piepste Inna.

»Zum Rostbahnhof.« Er schüttelte den Kopf, schob einen Löffel mit Ei in seinen vollen Mund. »Soso.«

»Ich will zu Mama.« Inna hielt die Luft an und starrte auf ihren Teller. Tränen sammelten sich, tropften auf das Geschirr. »Kann ich zu ihr?«, fragte Inna kaum hörbar.

»Wenn sie wieder da ist.« Henri strich sich über seinen Bart, einzelne Krümel rieselten auf den Tisch. »Wenn sie wieder da ist. Und wenn sie sich auf ihre Mutterrolle besinnt. Und wenn sie nicht betrunken ist.«

Jenke sprang auf. »Können wir jetzt gehen?«

»Setz dich wieder«, befahl Henri. »Ihr geht nirgendwohin, solange das Frühstück nicht beendet ist.«

Sie saßen weitere Minuten still und mit gesenkten Köpfen am Tisch, während Henris laute Kaugeräusche den Knoten in Innas Magen weiter zuzogen.

Plötzlich öffnete sich die Tür und Mama spazierte herein. Sie trug einen Minirock und ein bauchfreies Oberteil. »Guten Morgen!«, zwitscherte sie fröhlich. Sie warf ihre Schuhe auf den Boden und tapste zu ihrem Stuhl. »Kaffee?« Sie schaute sich um. »Wo ist Edchen? Warum habe ich keinen Kaffee? Und warum sehen alle so betroffen aus?«

Inna beobachtete Henris angespannte Kaumuskeln und wagte nicht zu antworten.

»Ist irgendetwas passiert?«, fragte Mama. »Ihr seht ja aus wie bei einer Beerdigung.«

»Hattest du eine schöne Nacht?«, fragte Henri kalt.

»Was soll ich sonst gehabt haben?« Mama nahm sich ein Croissant. »Ich habe mit meiner Agentin gesprochen. Sie hat ein neues Angebot für mich.«

»So?«

»Willst du nicht wissen, welches?«

»Nein.« Henri räumte sein Geschirr zusammen.

»Wo ist Beeke?«

»Mit Ede auf dem Markt«, antwortete er. »Eine gute Mutter sollte das wissen.«

Mama lachte spöttisch. »Und ihr? Was werdet ihr heute machen? Bei dem scheußlichen Wetter? Ich …«

»Geh!«, unterbrach Henri sie. »Los, verschwinde!«

»Ich darf doch …«

Henri schlug mit der Faust auf den Tisch. »Darfst du nicht! Du führst mich vor, alle wissen es. Ich will, dass du verschwindest, ich will, dass du …«

»Aufhören!« Jenke packte Innas Arm. »Komm!«, forderte er Inna auf und zog sie vom Stuhl.

Sie rannten bis zu den Steinleichen. Kalt, grau, nass. Der Herbst zerrte an ihren Lungen. Inna stützte sich ab, schnappte nach Luft.

»Mama, Mama, Mama«, winselte Jenke. Er holte sich einen Stock und schlug damit in tiefhängende Äste. »Du bist doch kein Baby mehr.«

Inna schaute ihn feindselig an.

»Ist doch so.« Er warf den Stock ins Gebüsch. »Komm jetzt. Wir haben keine Zeit mehr.«

Sie liefen. Entlang der Steinriesen, an ihnen vorbei, sprangen über die Schienen und durchkletterten das Felsenmeer. Innas Hände waren rot vor Kälte, tausend Nadeln stachen in ihre Haut. Jenke war getrieben, wütend, sie konnte kaum mithalten. Irgendwann gelangten sie zu der engen Felsspalte, zwängten sich hindurch, auf den Felsvorsprung, mit Blick in die Schlucht, in die tiefe Schlucht.

 

»Jemand war hier«, flüsterte Jenke.

Inna folgte seinem Blick. Jenke starrte vor sich auf den Boden.

Regungslos, ungläubig, enttäuscht.

Unter ihnen verteilt lagen ausgedrückte Zigarettenstummel. Einige von ihnen so zerrieben, dass der Tabak in schwarzen Bröseln wie der Schweif einer Sternschnuppe auf dem Stein klebte.

»Lass uns verschwinden«, bettelte Inna. »Ich will nicht hier sein. Was, wenn …«

»Nein!« Jenke baute sich vor ihr auf. »Die Höhle gehört uns. Das Gold darin gehört uns! Wir müssen sie verteidigen. Gegen …« Er zeigte auf die Zigarettenstummel. »Gegen die hier.«

Und dann hörten sie Stimmen. Dunkle Männerstimmen und ein Geräusch, das Inna nicht zuordnen konnte.

»Bitte«, flüsterte Inna. »Jenke, ich …«

»Okay, verschwinden wir!«, lenkte Jenke ein.

Sie schoben sich durch die enge Felsspalte zurück, kletterten behände durch das Felsenmeer, Inna hörte Jenke keuchen. Die Felsen waren rutschig. Sie kamen durchnässt zurück. Graupel hatte ihnen die Sicht erschwert, sie hatten lange gebraucht. Sehr lange.

»Wo wart ihr?«, fragte Henri.

»Spielen.«

»Wo, Junge?« Henri schaute ihn eindringlich an.

»Wir waren am alten Rostbahnhof. Wie immer.«

»Nicht weiter?«

Beide schüttelten sie mit dem Kopf. »Zug gespielt. Und Restaurant.«

»So?« Henri hob seine Augenbrauen. »Und das bei dem Wetter. Ihr müsst verrückt sein.«

Edchen strich ihre Schürze glatt. »Kommt, Kinder«, sagte sie und nickte Richtung Tür. »Ihr holt euch noch eine Lungenentzündung.« Sie ließ ein Bad ein. In dem heißen Wasser ertränkte Inna ihre Angst.

»Und dann?«, fragte Igor.

»Und dann?« Inna schloss ihre Augen. »Und dann kam wenige Tage später der Nebel.«

Igor räumte die Teller zusammen. Er stellte sie unsanft übereinander. »Der Nebel.«

Inna nickte.

»Und das heißt?«, fragte er ungeduldig.

»Gar nichts.«

»Gar nichts?«

»Nein.«

»Und die Höhle?«

»Und die Höhle? Was ist das für eine Frage?«

»Haben Sie sich hineingetraut? Waren Sie jemals wieder dort?«

Inna schüttelte den Kopf. »Bis zu jenem Tag.«

*

Sie rannten, orientierungslos. Nebel drückte sich in ihre Lungen. Kalter, schwerer Nebel. Nebel, der alles verschluckte. Nur Mamas Gesichtsausdruck nicht. Den hatte nicht einmal der Sturm davongetragen.

»Jenke!«, rief Inna. Sie versuchte, ihm zu folgen. Er war schnell, zu schnell. Sie hatte plötzlich Angst, dass er verschwinden würde. »Warte auf mich!«, schrie sie.

Jenke nahm ihre Hand und zog sie. Zerrte sie über das vereiste Moos und die gefrorenen Gräser, über harte Zweige und große Steine. Inna stolperte. »Weiter«, keuchte er. »Wir müssen weiter.«

Schier endlos rannten sie durch die graue Landschaft Richtung Felsenmeer. Weiter, wir müssen weiter. Und dann rief jemand. »Kinder?« Eine Männerstimme. Inna hielt Ausschau. Zwei Männer in Wanderschuhen und ein Junge, mit Mützen und Schals und schweren Rucksäcken. Sie hielten lange Geräte in der Hand, der Junge hatte seine Augen weit aufgerissen.

»Lauf!«, brüllte Jenke.

»Bleibt stehen!« Der Bärtige der Männer setzte sich in Bewegung. »Du blutest ja.« Er zeigte auf Inna.

Inna senkte ihren Kopf, starrte auf ihre Hände. Rot. Ihre Hände waren über und über mit Blut bedeckt. Jacke und Hose getränkt. Der Stoff klebte nass an ihren Beinen. Inna wurde schwindelig, aber Jenke packte sie. »Weiter!«, schrie er. Weiter. Innas Beine gehorchten. Jenke. Sie durfte Jenke nicht verlieren. Die erschrockenen Männer hatten die Verfolgung aufgegeben, vielleicht, weil die Rucksäcke zu schwer waren oder weil sie fanden, dass Inna doch keine Hilfe brauchte. Oder weil sie Kinder nicht mochten. Oder weil sie Probleme mit Kindern nicht mochten. Oder generell Probleme. Inna folgte Jenke, obwohl sie ahnte, wohin er wollte. Zur Höhle. Um sich dort zu verstecken. Vor dem Blut. Vor der Kälte. Vor der Angst. Sie tauchten in das schützende Felsenmeer, sprangen, rannten, kletterten. Zwängten sich durch die enge Spalte. Inna japste nach Luft, der kalte Nebel nahm ihr das Denkvermögen. Der Vorsprung, unter ihnen die felsige Schlucht durchmischt mit Farn, Moos, Efeu. Jenke zögerte nicht, kletterte flink hinunter. Hinunter in die Tiefe. Hinunter in die Schlucht, die sie eisig und kalt empfing. Inna war zu langsam, rutschte ab, fing sich wieder, hatte sich die Beine aufgeschürft. Irgendwann verlor sie den Überblick, rollte über Totholz und spitze Steine, riss sich die Hände auf beim Versuch, sich an den Efeuranken festzuhalten. Den Eingang der Höhle ließ sie nicht aus den Augen. Sie musste Jenke aufhalten, ihm sagen, dass die Höhle eine Falle war. Dass sie leicht hinein-, aber nie wieder hinausgelangen würden. Eine unterirdische Höhle, Spuren des ältesten Tiefbaus auf Eisenstein, versteckt in einer bizarren Felslandschaft, umklammert von Buchen und Farn, Totholz, kühlen und feuchten Felsspalten, Klüften, leicht abgedeckt mit losem Zweigwerk und nassem Laub, Schnee, Eis. Lebensgefährlich, deswegen durften sie nicht hier sein, deswegen durften sie nur bis zu den Steinleichen, nicht weiter, niemals. Es würde kein Entkommen mehr geben. Die Höhle war gefährlich, das Felsenmeer unberechenbar, erst recht im Winter, in der Eiseskälte. Hier war niemand unterwegs. Niemand. Sie waren allein. »Wir müssen nach Hause!«, schrie Inna. »Das ist zu gefährlich, wir dürfen nicht weiter, wir dürfen nicht in die Höhle, Jenke, komm zurück!« Niemand würde sie hören, wenn sie um Hilfe riefen. Niemand würde sich hierher verirren. »Wir müssen nach Hause, Jenke!« Sie mussten nach Hause. Nur nach Hause. Zu Edchen und in die Badewanne. Ihre Angst in heißem Wasser ertränken. Das Blut in heißem Wasser ertränken. Das viele Blut.

Jenke half ihr auf, zog sie zum Eingang der Höhle. »Da rein, schnell.«

»Ich habe Angst, Jenke. Ich will nicht da rein. Was, wenn …«

»Wir haben keine Zeit!«, brüllte er panisch.

Inna schob sich bäuchlings mit den Füßen voran in das schwarze Loch, in den winzigen Eingang, spürte keinen Boden mehr unter ihren Beinen, krallte sich mit den Händen ans Efeu, an gefrorene Erde, es roch kalt und modrig. »Jenke!«, schrie sie. »Jenke!« Immer tiefer rutschte sie, versuchte, sich festzuhalten, flehte mit weit aufgerissenen Augen ihren Bruder an.

Sie schaute auf.

Igor stand ihr gegenüber, mit offenem Mund, die Teller noch immer in der Hand. Er starrte sie entgeistert an.

»Wir haben Verstecken gespielt. Einen ganzen Winter lang.« Inna lachte. Das Lachen schleuderte gegen die Fenster. Schnee rutschte hinab. Hinab in die Tiefe.

Wie Inna, wenn sie an die Höhle dachte.