Mann meiner Träume

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

„Möglicherweise doch“, überlegte Anna. „Vielleicht möchte dein Unterbewusstsein verarbeiten?“

„Indem ich eine merkwürdige Traumbeziehung eingehe?“

„Indem du überhaupt wieder eine Beziehung eingehst. Wie du selbst gesagt hast, kennst du Napoléon. Oder besser: Du kennst das Bild, das du dir von ihm gemacht hast.“

„Er entspricht diesem Bild aber nicht“, unterbrach Marie.

„Inwiefern?“ Anna legte die Stirn in Falten.

„Welches Bild kommt dir in den Kopf, wenn du an Napoléon denkst?“

„Klein, dick, rundliches Gesicht.“

„Das ist der Napoléon, den man von Bildern kennt. Der Kaiser. Warte einen Moment.“ Marie sprang auf, lief zu einer der Napoléonkisten und wühlte darin herum.

„Ha, hier ist es!“ Triumphierend hielt sie einen Bildband in die Luft.

„Siehst du?“ Sie schlug das Buch auf und zeigte Anna das Portrait eines jungen, schmalen Soldaten mit langen Haaren. „Das ist der Mann, den ich in meinem Traum treffe. Das ist Napoleone.“

„Das ist genau das, was ich meine. Du kennst dich aus und weißt, wie er als junger Mann aussah, was er als junger Mann dachte. Da du in deinen Träumen den jungen Napoléon triffst, sieht er so aus und handelt so.“

„Napoleone. Das ist nicht Napoléon I., Kaiser der Franzosen, Herrscher über Europa. Das ist einfach ein Mann, der versucht, in den Wirren der Revolution zu überleben.“

Anna zuckte mit den Schultern. Sie hatte genug über Napoléon gehört – oder Napoleone. Wo auch immer da der Unterschied lag.

„Und wer ist dieser andere Mann?“

„Tristan Berière?“

„Genau der.“

„Ich weiß nicht, wer das ist.“ Marie runzelte die Stirn. „Um ehrlich zu sein, habe ich den Namen nie gehört oder gelesen.“

„Was macht er in deinen Träumen?“

„Mich zu Napoleone bringen? Ich glaube nicht, dass er wichtig ist.“

Anna runzelte die Stirn, ließ es aber auf sich beruhen. Es würde sich sicher zeigen, ob dieser Mann wichtig war oder nicht.

„Du hast ja sowieso nur Augen für Napoleone“, neckte sie ihre Cousine.

„Und warum auch nicht? Er hat mich vor dem Pöbel beschützt!“

„Der dir wahrscheinlich nichts getan hätte!“

„Das kannst du gar nicht wissen! Napoleone ist ein guter Mensch.“

„Na, ich weiß ja nicht.“ Anna hüstelte. „Nach allem, was ich von dir über Napoléon weiß, bin ich mir nicht sicher, ob er ein guter Mensch war.“

„Der Mann in meinen Träumen ist es!“ Seufzend rieb sich Marie die Schläfe. „Das klingt alles wirr, oder?“

„Och, weißt du, so lange du Stefan los bist, ist mir alles recht.“

Marie lächelte und trug Teller und Tasse in die Küche. „Ich werde heute mein Zimmer fertig einräumen“, rief sie ins Wohnzimmer.

„Soll ich dir helfen?“

„Nein, brauchst du nicht. Es fehlen nur noch die Napoléonsachen.“ Ihr Blick wich verlegen zu Boden und sie errötete leicht. „Das möchte ich alleine machen.“

Anna lächelte in sich hinein. „Da will ich auch nicht helfen.“ Sie stellte das Geschirr neben die Spüle und und ließ Wasser einlaufen. „Verschwinde! Ich mach das schon!“

In Windeseile stellte Marie ihre Sachen ab. „Danke!“. Sie umarmte Anna kurz und rannte aus der Küche.

8. November (Frühjahr 1790)

Anna erwachte durch ein leises Klopfen an der Tür. „Ja?“, murmelte sie verschlafen.

Sie hörte die Tür knarzen und Maries Stimme: „Darf ich reinkommen? Du musst das lesen!“

Sofort war Anna hellwach. „Ist etwas passiert?“

„Nein. Ja. Ich weiß nicht. Lies es. Ich möchte deine Meinung hören.“

Veränderung

Meer. Salzige Luft füllte meine Lungen und ich sog gierig den Duft ein. Kreischende Möwen übertönten ab und an das sanfte Rauschen der Brandung. Ich öffnete die Augen und da lag es vor mir. Ruhig glitzerte es in der Sonne. Sie stand noch nicht sonderlich hoch, versprach aber einen heißen Tag.

Rechts von mir erstreckte sich der Strand scheinbar endlos. Links ragte eine massive Festungsanlage empor. Dahinter lag eine Stadt.

In diesem Moment läuteten die Kirchenglocken und ich wusste, wo ich war: Korsika. Genauer: Ajaccio, Napoleones Geburtsstadt.

Meine Füße versanken im Sand und ich streifte die Schuhe ab. Strümpfe trug ich keine, aber ein langes Kleid, das mit einem breiten, über den Brüsten gekreuzten Tuch auf Taille gebracht war. Schnürbrust oder Mieder fehlten. Mein Haar bedeckte ein im Nacken verknotetes Kopftuch. Ich öffnete den Knoten, schloss für einen Moment die Augen und genoss den warmen Sand zwischen den Zehen und den kühlen Wind im Haar.

„Marie? Marie Seurant?“

Das Blut rauschte laut durch meine Adern und wisperte seinen Namen: Napoleone.

Freudestrahlend drehte ich mich um und breitete die Arme aus. Ein Lächeln erhellte sein Gesicht und er beschleunigte seine Schritte. Die nackten Füße versanken leicht im Sand, das weite Hemd und offene Haar flatterten im Wind.

Sobald er vor mir stand, nahm er meine Hand und hauchte einen Kuss darauf. „Du bist es wirklich!“

„Ja.“

„Ich wusste, dass ich dich wieder sehe!“ Seine geflüsterten Worte ließen mein Herz flattern und ich begann zu lachen. Aus Verlegenheit, aus Freude, vor Glück!

„Es ist schön, hier zu sein!“ Ich entzog ihm meine Hand und drehte mich ein paar Mal im Kreis.

Er stimmte in mein Lachen ein und wenige Sekunden später lag ich in seinen Armen. Keine Ahnung, wie es dazu gekommen war. Unsere Gesichter berührten sich fast, sein Blick verfing sich in meinem und ich hörte auf zu denken. Sein heißer Atem streifte meine Wange, doch er küsste mich nicht.

Er sah mich nur an, als wolle er in meine Seele blicken. Ich wagte nicht, zu atmen, aus Angst, er könnte das Zittern bemerken, dass mich erfasst hatte. Mit geschlossenen Augen erwartete ich seinen Kuss – der nicht kam.

Stattdessen ließ er mich los und fasste meine Hand. „Ich werde dich meiner Familie vorstellen“, sagte er in einem Tonfall, als gäbe es nichts Wünschenswerteres auf der Welt.

Der Familie? Dieser Horde undankbarer Hyänen, von denen er sich sein ganzes Leben lang nicht lösen würde?

„Du siehst nicht begeistert aus.“

Da hatte er völlig recht. Ich war nicht begeistert. „Na ja, ich bin nicht auf einen Besuch bei deiner Familie vorbereitet.“

„Was gibt es da vorzubereiten? Ich habe ihnen alles über dich erzählt.“

Er schien das für etwas Gutes zu halten.

„Mama brennt darauf, dich kennenzulernen!“

Aber wollte ich sie kennenlernen? Nach allem, was ich über Letitia Buonaparte wusste, war ich mir da nicht sicher. „Sie wird dich mögen! Wenn wir uns beeilen, sind wir vor ihnen wieder im Haus.“

„Wo sind sie?“

„In der Messe.“ Er lächelte verlegen. „Ich dachte, ich könnte die Zeit sinnvoller nutzen.“

„Indem du am Strand spazieren gehst?“ Ich zwinkerte ihm zu.

„Nun, ich ...“ Er lächelte verlegen. „Ehrlich gesagt, ja.“

„Ich langweile mich auch immer ganz entsetzlich im Gottesdienst.“

Jetzt zwinkerte er mir zu. „Lass das unser Geheimnis bleiben. Für meine Familie habe ich wichtige Erledigungen zu machen, die unsere Besitztümer betreffen.“ Er reichte mir seinen Arm und grinste übers ganze Gesicht. „Ich zeige dir das Haus Buonaparte!“

Nach wenigen Metern erreichten wir die Uferstraße. Ich schlüpfte in meine Schuhe, doch Napoleone ging einfach weiter, als hätten wir den Strand nicht verlassen.

„Bist du so zum Strand gelaufen?“ Mich wunderte, dass er weder Jacke, noch Schuhe trug.

„Ich dachte nicht, dass mich jemand sieht.“ Er hielt an und nahm mir das Kopftuch aus der Hand. „Das solltest du tragen.“ Geschickt wand er den Stoff und knotete ihn im Nacken. Seine Fingerspitzen berührten wie zufällig meine Schulter und ein warmes Kribbeln durchlief mich. „Jetzt kannst du dich in der Stadt sehen lassen.“

Das Haus lag nicht weit vom Strand entfernt und keine Menschenseele befand sich auf den Straßen. Dieser Teil der Stadt sah völlig anders aus als Auxonne. Die Häuser waren größer, in gutem Zustand und zwischen ihnen standen stämmige Palmen. Einige hatten kleine, liebevoll angelegte Vorgärten.

Als hätte er meine Gedanken gelesen sagte er: „Etwas ganz anderes als Frankreich, nicht wahr?“

Ich nickte. „Ich staune über den Platz, den ihr hier habt.“

„Oh, da gibt es auch andere Gegenden. Aber du hast recht. Hier im Viertel kann man es sich leisten.“

Seine Betonung des Wortes 'man' ließ mich aufhorchen. Seit dem Tod seines Vaters litt die Familie unter Geldproblemen.

„Und hier ist es! Das Haus Buonaparte.“

Ich musste einen kleinen Aufschrei unterdrücken, den im Wesentlichen sah das Haus genauso aus, wie heute. Fast quadratisch erhoben sich die drei Stockwerke mit dem flachen Dach. An einigen Stellen bröckelte der gelbe Putz von den Wänden, was ihm einen gewissen Charme verlieh. Im Gegensatz zu heute gab es keine direkten Nachbarn und so sah es aus, als läge das Haus in einem kleinen Park. „Es ist wunderschön!“

 

„Meinst du?“, fragte er skeptisch. „Es müssten einige Renovierungsarbeiten durchgeführt werden, für die uns das Geld fehlt. Aber es bietet ein Dach über dem Kopf.“

Wir traten in den weiträumigen Flur. Rote, achteckige Fliesen auf dem Boden, gelb getünchte Wände und weiße Türrahmen: Genau so hatte ich es mir vorgestellt.

Er führte mich in einen eleganten Wohnraum. Vergoldete Möbel, ein Kristallleuchter und ein Marmorkamin zeugten von dem ehemaligen Reichtum der Familie. Bücherregale bedeckten jedes Fitzelchen freie Wand.

„Sieh dich um. Ich werde mich schnell umziehen und dann warten wir auf meine Familie.“ Seine Hand strich sanft über meinen Arm. Die Berührung hinterließ eine leichte Gänsehaut. Mit einem Lächeln registrierte er meine Reaktion und verließ das Zimmer.

Die Bücherregale zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Ablenkung war gut! Hier fanden sich alle großen Denker der letzten 2000 Jahre: Homer, Platon, Machiavelli, Voltaire und viele mehr. Das musste die Sammlung seines Vaters sein. Carlo Buaonaparte hatte großen Wert auf Bildung gelegt und dieses Wissen an seine Kinder weitergeben wollen.

Ich griff nach einem Band der Ilias und stellte gerade enttäuscht fest, dass nur der Einband in lateinischer Schrift war, als ich draußen Schritte hörte. Viele Schritte und das muntere Geplapper von Kindern.

Nervös blickte ich zur Tür. Wo blieb Napoleone? Hoffentlich kam er, bevor man mich hier entdeckte.

Zu spät. Die Tür ging auf und ich sah mich einem etwa zehnjährigen Mädchen gegenüber.

Ihr Blick wanderte von mir zu dem Buch in meiner Hand und dann im Zimmer umher. Sie sagte etwas, doch ich verstand die Sprache nicht. Sie wiederholte es, und als ich wieder nicht antwortete, lehnte sie sich in den Flur hinaus und schrie: „Mama!“

Oh, oh, nicht gut! Wo blieb Napoleone? Was sollte ich seiner Mutter sagen, wenn sie gleich in der Tür auftauchte?

Das kleine Mädchen musterte mich mit offensichtlichem Interesse und kam vorsichtig näher.

Wieder sagte sie etwas in der fremdem Sprache.

„Ich kann dich nicht verstehen“, versuchte ich zu erklären.

Ihre Brauen hoben sich und sie antwortete in gebrochenen Französisch: „Sie sind keine Korsin?“

Ich blieb eine Antwort schuldig, denn Letitia Buonaparte erschien in der Tür. An ihrer Identität bestand nicht der geringste Zweifel. Napoleone war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Von ihr hatte er den schmalen, feingliedrigen Körperbau und die Form seiner Lippen. Auch die Fähigkeit, Gefühle hauptsächlich über die Augen auszudrücken, kamen von dieser Frau.

Ich erstarrte unter ihrem Blick. 'Lass dich nicht unterkriegen, Marie', meldete sich mein Kampfgeist. Du hast nichts getan. Napoleone hat dich in dieses Haus eingeladen. Trotzig straffte ich die Schultern und versuchte, sie auf die gleiche Weise herausfordernd anzustarren.

Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen und sie zischte etwas in meine Richtung. Da ich sie nicht verstand, antwortete ich nicht. Jetzt wäre es langsam an der Zeit, dass Napoleone auftauchen könnte.

„Das, liebe Mama, ist Marie Seurant“, hörte ich endlich seine Stimme.

Ihr Kopf ruckte herum und sie sagte etwas zu ihm. Es klang nicht freundlich.

„Ich habe sie eingeladen!“ Seine ruhige Stimme nahm mir ein wenig Anspannung. Mit drei großen Schritten stand er neben mir.

„Marie, darf ich dir meine Mutter vorstellen? Und das ist meine Schwester ...“ Suchend blickte er sich um, doch sie war verschwunden. „Du wirst sie später mit den anderen kennenlernen.“

Meine Lust, Signora Buonaparte kennenzulernen, hielt sich in Grenzen. Ihre zusammengekniffenen Lippen und die verschränkten Arme machten es auch nicht besser. Sollte ich sie begrüßen? Konnte sie mich verstehen? Sprach sie überhaupt Französisch?

Napoleone nahm mir die Entscheidung ab. „Warte einen Moment“, flüsterte er und trat wieder zu seiner Mutter.

In schnellem korsisch (dafür hielt ich die Sprache), redete er auf sie ein. Sie starrte stur in eine andere Richtung und schnaubte hin und wieder. Einmal sagte sie etwas, was Napoleone kurz erstarren ließ.

Bei seinem letzten Satz kniff sie die Lippen zusammen. Energisch öffnete sie die Arme und stellte eine Frage. Die Kälte in ihrer Stimme ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen.

Napoleone setzte ein bezauberndes Lächeln auf und antwortete: „Si!“

Mit einem neuerlichen Schnauben wandte sie sich ab und ließ uns alleine. Breit grinsend wandte er sich an mich.

„Mama heißt dich in diesem Haus willkommen!“

Aha? Hatte er die letzten Minuten in einem Paralleluniversum verbracht? Für mich hatte das anders ausgesehen.

Sein Blick ruhte auf mir und er begann zu glucksen. „Sie hat dich nicht hinausgeworfen, oder?“

„Weil du es ihr verboten hast, nehme ich an.“

„Nein! Ich habe ihr lediglich die Sachlage erklärt.“

„Und die wäre?“

„Das ist sie?“ Die freche Stimme kam von der Tür. Es war das Mädchen von vorhin. Freudestrahlend hob Napoleone sie hoch und drückte sie kurz an sich. „Ja, das ist sie!“

Sobald das Mädchen wieder stand, musterte sie mich neugierig. Sie sagte etwas auf korsisch und grinste Napoleone an.

Er verzog tadelnd den Mund. „Du wirst in ihrer Gegenwart Französisch reden!“

Das Mädchen beachtete ihn nicht, sondern befreite sich aus seiner Umarmung und umrundete mich langsam. „Du hast gelogen. Sie ist nicht hübscher als ich!“

Napoleones Gesicht lief rosa an. „Paoletta! Du entschuldigst dich bei Marie!“

Es kostete mich große Mühe, ernst zu bleiben. Paoletta fing meinen Blick auf und grinste. „Ich denke, sie ist in Ordnung! Meine Erlaubnis hast du!“

„Ich denke, du gehst jetzt Mama helfen“, fiel Napoleone ihr mit hochrotem Kopf ins Wort.

„Ich glaube zwar nicht, dass sie Hilfe braucht, aber wenn du meinst.“ Vor sich hin singend, hüpfte sie aus dem Zimmer.

Napoleone räusperte sich mit hochroten Wangen. „Entschuldige. Sie ist ein richtiger Wildfang und spricht immer aus, was sie denkt. Wir hätten strenger mit ihr sein müssen.“

„Ich fand sie erfrischend.“ Netter als die Mutter allemal.

„Nun ja.“ Er hob vorsichtig den Kopf und als er mein Lächeln sah, gingen seine Mundwinkel nach oben. „Was möchtest du machen?“

„Überrasche mich!“ Mal gespannt, was ihm einfiel.

Er legte die Hand vor den Mund und tippte sich mit dem Finger an die Nase. „Komm mit!“

Wir verließen das Zimmer und ich folgte ihm neugierig in eine große Küche mit gemauerter Feuerstelle. Töpfe und Pfannen hingen neben Kräutern, Zwiebeln und Knoblauch an den Wänden.

Am großen Tisch in der Mitte des Raumes stand eine Frau unbestimmten Alters und schnitt Gemüse.

Ihre Miene erhellte sich, sobald sie Napoleone sah. Er öffnete die Arme und sagte etwas in einschmeichelndem Tonfall. Die Frau antwortete mit einem Lächeln und ein paar Worten.

Es machte definitiv keinen Spaß, nicht zu verstehen, was vor sich ging. Ich sollte in Erwägung ziehen korsisch zu lernen!

Die Frau hatte eine Platte mit Essen gerichtet: Käse, Brot und Oliven, eine Karaffe mit verdünntem Wein und zwei Steinbecher. Napoleone dankte ihr (so viel verstand sogar ich), zwinkerte ihr zu und wir verließen das Haus.

Er steuerte direkt auf eine kleine Bank zu, die wenige Meter vom Haus entfernt im Schutz einiger Bäume stand. Mein Eindruck am Morgen hatte nicht getäuscht. Die Sonne brannte unbarmherzig. Das hohe Blätterdach spendeten glücklicherweise genug Schatten, um die Temperatur angenehm zu halten. Neugierig blickte ich mich auf dem Platz um. Zwischen den ausgedörrten Büschen und wenigen andern Bäumen (waren das Zypressen?), spielten mehrere Kinder auf dem festgetretenen Boden. Ich erkannte Paoletta, die gerade im Staub kniete und konzentriert eine Murmel anstieß.

Napoleone deutete mir an, mich zu setzen, und platzierte die Platte zwischen uns.

„Lass uns ein wenig hier sitzen und unterhalten.“

Enttäuscht folgte ich seiner Einladung. Das war also seine Vorstellung eines romantischen Treffens? Am helllichten Tag auf der Bank vorm Haus sitzen und plaudern? Fehlte eigentlich nur noch die Anstandsdame. Mein Blick fiel auf die Kinder. Nein, auch die war da.

„Was treibt dich nach Korsika? Wolltest du nicht am Rhein sein?“

„Da war ich.“ Verdammt, was sollte ich ihm sagen? Die Wahrheit. „Ich wollte dich sehen.“ Meine Augen suchten seinen Blick. Bitte, lass ihn das glauben!

„Und da machst du so eine weite Reise? Woher wusstest du, dass ich hier bin und nicht mehr auf dem Festland?“

Ich seufzte. Musste er immer so viele Fragen stellen? Vielleicht sollte ich seinem Misstrauen mit Humor begegnen. „Ich kenne deine Zukunft, schon vergessen?“

Nachdenklich schüttelte er den Kopf. „Nein. Du scheinst wirklich einiges zu wissen.“ Er griff im selben Moment nach den Oliven wie ich. Ein wohliger Schauer durchfuhr mich. Er redete weiter, als hätte er nichts bemerkt. Lag ich mit meiner Einschätzung so sehr daneben? Ging es ihm nicht wie mir?

„Dann fühle ich mich vorerst geschmeichelt, dass du für mich die weite Reise auf dich genommen hast. Was hältst du von Korsika?“

Ich hatte Mühe, meine Gedanken auf seine Frage zu fokussieren. „Ich habe ja nicht viel gesehen. Ich liebe das Meer. Die Luft ist hier anders als zu Hause.“

„Ich weiß, was du meinst. Reiner, klarer als in der Stadt. Selbst Küstenstädte können da nicht mithalten.“ Er ließ seinen Blick über den Platz wandern. „Das ist einer der Gründe, warum ich meine Zukunft hier sehe. Ich habe vor dafür zu sorgen, dass Giuseppe in der korsischen Regierung eine Führungsposition erhält.“

„Warum er? DU würdest dich hervorragend für den Posten eignen.“

„Ich? Ich habe kein Interesse an Politik und Macht. Ich bin Soldat.“

Schlicht und einfach. Ich glaube, in diesen frühen Jahren hat er sich tatsächlich als nichts anderes gesehen. Später würde aus dem Soldaten ein Feldherr werden und letztlich ein Politiker und Staatsmann. Aber im Grunde seines Herzens würde er immer Soldat bleiben. Und momentan ein sehr patriotischer. Er hatte begonnen, von Paoli zu erzählen. Glaubte man Napoleone, war der ein Heiliger. Und wenn er endlich nach Korsika zurückkäme, gäbe es dort das Paradies auf Erden. Na ja, vielleicht übertreibe ich ein wenig, aber Napoleones Verehrung für diesen Mann war sonderbar.

„Wir haben auch ohne ihn einiges erreicht. Korsika ist jetzt ein eigenständiges Departement mit allen Rechten. Aber das ist nicht genug. Frankreich ist immer noch unser Herr, das kann ich nicht dulden.“

„Warum hasst du die Franzosen, Napoleone?“

Er sah mich erstaunt an. „Das weiß du nicht?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Meine Jahre in der Schule.“ Er spie die Worte aus. „Diese reichen, adligen Gecken machten sich über mich, mein Land, meine Sprache und meine Familie lustig. Und später beim Regiment war es noch schlimmer.“ Abfällig schüttelte er den Kopf. „Ein Soldat sollte nicht so leben! Weibergeschichten, zechen und spielen, mehr haben die nicht im Kopf.“ Er blickte mich mit angeekeltem Gesicht an. „Sie verkörpern Frankreich - und jetzt soll ich Franzose sein?“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Departement, ha! Deshalb brauchen wir Paoli. Er kann die Menschen aus den Bergregionen mobilisieren. Ihn kennen sie, auf ihn hören sie. Von seiner Rückkehr hängt alles ab.“

Was sollte ich darauf erwidern? Seine Träume würde Paoli in wenigen Monaten selbst zerstören.

„Übrigens hasse ich nicht alle Franzosen!“ Das schien ihm wichtig zu sein. „Tristan Berière ist mein Freund!“

Tristan Berière. Ich sollte mich wirklich mal darum kümmern, wer dieser Mann war.

„Du erinnerst dich an Berière?“

„Der Mann, der mich in Auxonne zu dir gebracht hat?“

„Ja. Er ist anders. Er ist eher wie ich und hat nichts übrig für den Lebensstil der anderen Offiziere. Und das, obwohl ihn ständig eine Horde schöner Frauen umgibt. Überall, wo er auftaucht, sammeln sie sich um ihn.“

„Er mag keine Frauen?“, fragte ich unüberlegt.

„Doch!“, wehrte Napoleone empört ab. „Er hält sich nur meistens von ihnen fern, da er weiß, wie sie sind.“

„Wie sind Frauen denn?“

„Nicht Frauen. Nur die, die sich ihm an den Hals werfen.“ Seine Hand schnellte vor und ergriff kurz die meine. „Ich weiß, dass du nicht so bist. Du lässt dich nicht von seinem Äußeren blenden.“ Er zog die Hand zurück. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn er sie dort gelassen hätte.

 

„Wobei er gar nicht blendet. Er ist ein sehr interessanter Mensch.“ Mit einem schiefen Lächeln griff er nach den Oliven. „Ich wollte nicht mit dir über Berière reden.“ Sein Blick schweifte über den Platz und hielt bei einem weinenden Jungen inne. Sobald der Napoleones Aufmerksamkeit bemerkte, kam er auf ihn zugerannt. Napoleone stand auf, kniete sich hin und nahm den Jungen in den Arm. Wieder verstand ich nicht, was gesagt wurde. Einmal loderte Napoleones Blick kurz zornerfüllt zu einer Gruppe Kinder auf der anderen Seite des Platzes. Der Junge in seinen Armen hatte sich beruhigt und ich sah, dass seine Lippe anschwoll. Er hatte sich offensichtlich geprügelt. Auch Paoletta war inzwischen zu uns herangetreten und stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen neben ihrem Bruder.

Napoleone erhob sich, klopfte den Staub von den Hosen und streifte dem Jungen durchs Haar. Der zog geräuschvoll die Nase hoch und rannte ins Haus.

„Was ist passiert?“

Napoleone setzte sich wieder. „Ein Streit unter Kindern.“ Sein Blick huschte zu der Gruppe auf der anderen Seite.

„Das war nicht einfach ein Streit!“, ließ sich Paoletta vernehmen. „Giralomo hat Eure Ehre verteidigt, Madame!“

Überrascht blickte ich zu Napolone. Der seufzte und verdrehte die Augen. „Paoletta“, setzte er an, doch sie unterbrach ihn.

„Die haben gesagt, dass Ihr eine ... ein gefallenes Mädchen seid! Weil Ihr heute Morgen mit Napoleone am Strand wart und er nur Hemd und Hose trug. Nicht einmal Schuhe hatte er an!“

„Paoletta!“ Napoleone sagte etwas in seiner Muttersprache. Es klang nicht sehr freundlich. Seine Schwester ließ sich nicht beirren.

„Du hast gesagt, ich soll vor ihr Französisch reden. Und du sagst immer, dass man nicht lügen darf! Ich sage nur die Wahrheit!“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und rannte ebenfalls ins Haus.

Napoleone begrub sein Gesicht in den Händen und murmelte: „Ich wollte nicht, dass du das erfährst.“

Er hob den Kopf und seine Augen funkelten dunkel. „Mama hatte erwähnt, dass man uns gesehen hat. Deshalb war sie so aufgebracht. Ich habe versucht, sie zu beruhigen, aber es scheint schlimmer zu sein, als ich annahm. Ich dachte, wenn wir hier in der Öffentlichkeit sitzen, verschwinden diese Gerüchte.“

Ich stöhnte innerlich. Natürlich, wie hatte ich das vergessen können? Wir waren 1790 auf Korsika. Nicht unbedingt der Ort und die Zeit, in der man öffentlich seine Gefühle zeigte.

„Es tut mir leid Napoleone, ich wollte nicht ...“

„Du musst dich für gar nichts entschuldigen! Hätte ich nicht in diesen unmöglichen Aufzug die Kirche geschwänzt oder würden die Leute ihre Nasen nicht in Angelegenheiten stecken, die sie nichts angehen, wäre alles in Ordnung!“ Er rieb sich die Augen und lächelte mich kopfschüttelnd an. „Ich wollte es anders machen.“ Er stand auf, kniete sich vor mir in den Staub und ergriff meine Hand.

Mein Herz drohte aus meiner Brust zu springen. Sollte er ...?

„Marie! Würdest du mir die Ehre erweisen, dein Leben mit mir zu teilen, und meine Frau werden?“

Unwillkürlich fuhr meine freie Hand zum Hals und ich schluckte. Napoléon Bonaparte machte mir einen Heiratsantrag! Wie reagierte man auf so etwas? Was sollte ich sagen? Unter halb geschlossenen Lidern sah ich ihn an. Er kniete nach wie vor, sein Gesicht wie gemeißelt und angespannt, sein Blick voller Hoffnung.

Marie, du solltest jetzt irgendetwas Intelligentes sagen!, fuhr es mir durch den Kopf. Stattdessen krächzte ich: „Was?“

„Nicht ganz die Antwort, die ich erwartet habe.“ Er lächelte gequält. „Ich habe dich gefragt, ob du bereit bist, meine Frau zu werden.“

Ja, natürlich, genau.

„Ich ... Ja!“ Oh Gott, Marie! „Ich meine ... Nein, ich kann nicht. Du ... Das ist nicht mein Leben. Du musst eine andere heiraten, andere Frauen lieben - oder auch nicht. Ich ... ich kann dich nicht heiraten.“

Abweisend zog er seine Hand zurück und stand auf. „Vergiss doch einfach mal alles, was du zu wissen glaubst! Würdest du mich heiraten, wenn du keine Ahnung von meiner Zukunft hättest?“

Würde ich? Zu meiner Überraschung kam eine Antwort über meine Lippen: „Jederzeit!“ Ich hatte nicht einen Moment gezögert. Ich wollte tatsächlich Napoléon heiraten! Naja, nicht unbedingt Napoléon. Ich wollte Napoleone heiraten, den Mann, den ich die letzten Tage kennengelernt hatte. Er hatte nicht viel gemein mit dem rücksichtslosen, kriegstreiberischen Kaiser der Franzosen. Er war einfühlsam, rücksichtsvoll, ein liebender Bruder und ihm schien viel an mir zu liegen. Und mir an ihm.

„Dann handle danach, verdammt!“ Seine rechte Faust schlug in die linke Hand. „Jeder ist für sein Leben verantwortlich. Ich glaube nicht daran, dass die Zukunft unveränderlich ist. Du und ich - wir können uns unsere eigene Zukunft schaffen.“ Seine Finger schlossen sich wieder um meine und er hauchte einen Kuss auf die Innenseite meines Handgelenkes. Kleine Schauer jagten durch meinen Körper.

„Das geht nicht!“ Musste er mich quälen? „Du kennst mich kaum. Ich könnte nicht öfter als bisher kommen. Oder gar nicht mehr, oder ...“ Ich verstummte, da ein Blick in seine Augen mein Herz überlaufen ließ.

Lächelnd strich er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und legte einen Finger auf meine Lippen. „Psst, Marie. Ich brauch dich nicht näher zu kennen, um zu wissen, dass du die Richtige bist. Das weiß ich seit Jahren. Es macht nichts, wenn ich dich nicht immer bei mir haben kann. Deine Abwesenheit hat mich nur sicherer werden lassen. Wer weiß, vielleicht ist es sogar gut. Das tötet die Liebe nicht, sondern lässt sie stark werden.“ Er senkte die Hand. „Verstehst du nicht? Du bist die Frau, nach der ich gesucht habe. Eine Gefährtin an meiner Seite, die mich versteht und vorbehaltlos unterstützt.“

Hatte er recht? Sollte ich mir nicht endlich eingestehen, dass ich seit Jahren für ihn schwärmte und mir gewünscht hatte, ihn tatsächlich zu treffen und ein Leben an seiner Seite zu führen? Wollten meine Träume mir das zeigen? Ein Eingeständnis, dass ich in Napoléon Bonaparte verliebt war? Mir schwirrte der Kopf.

„Was ist, wenn du die anderen triffst? Désirée Clary zum Beispiel. Du musst dich mit ihr verloben! Nicht auszudenken, was passiert, wenn sie Bernadotte nicht kennenlernt und niemals Königin von Schweden wird.“

„Das wird ja immer schöner. Ich verlobe mich mit der Königin von Schweden?“

„Natürlich nicht!“, antwortete ich geistesabwesend. „Wenn du sie kennenlernst, ist sie eine einfache Seidenhändlertochter.“ Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht. „Vergiss das einfach. Wichtig ist die Verlobung mit ihr und später die Hochzeit mit Joséphine de ... Mit Rose de Beauhernaise. Joséphine wird sie erst durch dich.“

„Was immer du sagst.“ Er lächelte ein so glückliches Lächeln, dass mir ganz warm wurde. „Marie, ich weiß, dass du fest überzeugt bist, die Zukunft zu kennen. Und ich gebe zu, dass du einige Dinge korrekt vorausgesagt hast – aber über mein Leben bestimme ich, und ich bin nicht bereit, mein Glück irgendwelchen Prophezeiungen zu unterwerfen.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er ernst sagte: „Ich mache dir einen Vorschlag! Du bleibst einige Tage hier bei mir auf Korsika. Wir lernen uns besser kennen und ich frage dich dann noch einmal. Ist das annehmbar?“

Ich schloss kurz die Augen und überlegte. Warum eigentlich nicht? Ich blieb nie mehr als ein paar Stunden in dieser Traumwelt. Das hieß, ich würde bald aufwachen. Warum sollte ich die Stunden hier nicht damit verbringen, ihn besser kennenzulernen? Das würde mit Klarheit über meine Gefühle bringen.

„Das ist annehmbar.“

„Gut!“ Er klatschte in die Hände. „Was willst du wissen?“

Da saß ich und hatte die einmalige Gelegenheit, Napoléon I. eine Frage zu stellen – und mein Kopf war leer. Es gab so viel, was ich nicht wusste oder nicht verstand. Aber er war noch jung und würde die meisten meiner Fragen nicht beantworten können.

„Die Artillerie“, fiel mir schließlich ein. „Du scheinst eine Schwäche dafür zu haben. Warum?“

Ein Lächeln zog über sein Gesicht. „Die Artillerie. Das ist“, er suchte nach den richtigen Worten. „Das ist Logik in ihrer höchsten Form, reine Mathematik. Wenn man weiß, wo man die Kanonen aufstellen muss, kann man jede Schlacht gewinnen. Es ist alles eine Frage der richtigen Position, verstehst du?“ Ich nickte, obwohl ich davon keinen blassen Schimmer hatte.