Das materialgestützte Schreiben aus literaturdidaktischer Perspektive

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I.3.3.1 Zur Kritik am HPU

Die Kritik am HPU1 bewegt sich im Wesentlichen auf zwei Ebenen: Die eine berührt den Textbegriff und den damit verbundenen Autonomiegedanken, die andere den Verstehensprozess und damit die Vermittlungsdimension. Im Zentrum der Kritik Küglers, die in ihrer Folge von zahlreichen Didaktikern moduliert wurde, steht die „Bevormundung“2 der Leser:innen durch die Verfahren des HPU. Kügler wirft der Didaktik im Allgemeinen vor, dass sie sich in der „hermeneutischen Rolle des Dolmetschers“3 befinde, die durch ihre Eingriffe ein Verstehen zu ermöglichen versucht, das die Schüler:innen alleine nicht mehr leisten können. Jedes Handeln, und hier hebt Kügler besonders auf die Auseinandersetzung mit dem Unbestimmtheitsstellen ab, führe dazu, dass das Verstehen in Einzelprozesse zergliedert werde. Hier geht es demnach zum einen um den Autonomieanspruch des Textes, zum anderen aber auch um eine „Veräußerlichung der mentalen Leseprozesse im handlungsorientierten Literaturunterricht“4. Zentral ist die Frage, ob durch das produktive Handeln der Schüler:innen mit literarischen Texten die Literarizität noch erhalten bleibe oder ob das Tun nicht vielmehr einen unterhaltsamen methodischen Selbstzweck verfolgt, der die Autonomie und damit den ästhetischen Gehalt des Textes in den Hintergrund drängt. Damit verbunden ist die Frage, in welchem Verhältnis die grundsätzliche Offenheit der Deutung der Rezeptionsästhetik zu den Möglichkeiten des Textverstehens, welches auch die Schriftsteller:innen und den Kontext berücksichtigt, steht.

Die Befürworter des HPU heben in diesem Zusammenhang darauf ab, dass produktive Verfahren keinen Ausschließlichkeitscharakter beanspruchen, sondern ein Nebeneinander mit analytischen Verfahren anstreben. Dieser Anspruch artikuliert sich bereits in Spinners terminologischer Abgrenzung, wenn er in seinem Aufsatz Von der Notwendigkeit produktiver Verfahren im Literaturunterricht postuliert: „Dass ich in meinem Aufsatz von produktiven Verfahren und nicht von produktionsorientiertem Literaturunterricht spreche, liegt darin begründet, dass ich die Produktionsorientierung nicht verabsolutiert sehen möchte als alleinige Methode und Zielsetzung des Literaturunterrichts.“5 Zum Verhältnis von diskursiven und Verstehensprozessen und handlungs- und produktionsorientierten Zugangsweisen formulieren Fritzsche et al.:

Leitend war dabei die Annahme, dass es im Literaturunterricht nicht genügt, nur Vorstellungen zu bilden und Phantasie anzuregen, sondern dass der Unterricht auf das kognitiv-diskursive Verstehen der Texte zielt und dass das gewonnene Verständnis deshalb auch diskursiv (durch Fragen zum Text) ermittelt werden kann. Die Pointe allerdings ist: Der Weg, auf dem das Verständnis gewonnen wird, muss nicht ein diskursiv-analytisches Unterrichtsgespräch (…) sein, in welchem Urteile und Aussagen getroffen werden, sondern es kann auch ein intuitiv-gestalterischer Umgang mit Texten sein (…), wobei die Texte implizit verstanden werden.6

Auf das schwierige und bis heute nicht vollständig ausbalancierte Verhältnis von produktiven und kognitiven Texterschließungsverfahrungen,7 auf die Möglichkeiten, die Ergebnisse eigener produktiver Erfahrungen mit denen einer Analyse abzugleichen, wurde vielfach hingewiesen. Eng mit dieser Problematik ist der Vorwurf verbunden, dass durch die dominante Rolle der Leser:innen, die diese im Rahmen der Rezeptionsästhetik und des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts einnehmen, der Text und die Autor:innen selbst in den Hintergrund treten.8

Begreift man Verstehen – auch im Sinne von Waldmanns Phasenmodell – als Annäherung, dann stellen sowohl analytische als auch handlungs- und produktionsorientierte Verfahren Möglichkeiten dar, sich dem Text zu nähern. Dabei geht es weder um Ausschließlichkeit der Verfahren noch um eine festzulegende Aufeinanderfolge. Küglers Kritik an einer Bevormundung der Didaktik im Kontext des Verstehens impliziert jedoch, dass auch ein – analytisches – Gespräch bzw. ein schriftlich-interpretierender Austausch über Literatur ähnliche Effekte erzeugen. Konsequent zu Ende gedacht bedeutet dies, dass Verstehen im Sinne von etwas, das im Unterricht stattfindet, nicht gelehrt werden und damit kein Unterrichtsgegenstand sein kann. Hier scheint demnach ein allgemeines Unbehagen an didaktischen Zugriffen im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Literatur vorzuliegen, das sich allerdings im Rahmen von HPU potenziert. Wenn Kügler die Verfahren des HPU als „Prothesen für ausbleibendes Textverstehen“9 bezeichnet, impliziert dies, dass ein produktives Handeln am Text ein Verstehen voraussetzt.10 Die Vertreter des HPU hingegen gehen davon aus, dass die Verfahren der Handlungs- und Produktionsorientierung in der Lage sind, das Verstehen anzubahnen. Kügler übersieht in diesem Zusammenhang zwei Aspekte: Zum einen können die produktionsorientierten Verfahren auch zum Einsatz kommen können, wenn ein Verständnis bereits vorliegt, jedoch vertieft werden soll, indem beispielsweise ein Aktualitätsbezug hergestellt wird oder besondere sprachliche Mittel analysiert werden. Gleichzeitig setzt der HPU genau an jenen Textstellen an, die sich den Schüler:innen nicht automatisch erschließen. Die Gründe für ein Nichtverstehen können zu einen in der Unfähigkeit liegen, sich nicht mehr auf den Text einlassen zu können. Gleichzeitig kann auch die mangelnde Erfahrung der Leser:innen mit den jeweiligen textuellen Erscheinungen, Gattungen, Textformen oder Schriftsteller:innen Ursache eines sich nicht einstellenden Textverständnisses sein.

Ein zentraler Kritikpunkt am HPU betrifft die unterrichtliche Umsetzung: Dass der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht häufig weniger als Zugriff für ein Verstehen literarischer Texte, denn als Erweiterung eines Methodenrepertoires verstanden wurde, zeigt sich nicht nur in der Zusammenstellung unterschiedlicher Methoden im Rahmen des Basisartikels in Praxis Deutsch11 oder in Waldmanns Auflistung von Verfahren.12 Nicht vollständig unberechtigt bezeichnet Kügler diese Zusammenstellungen als „Gruselkabinett“13. In der unterrichtlichen Praxis wurden und werden handlungs- und produktionsorientierte Verfahren häufig unreflektiert eingesetzt, ohne dass ein Anschluss an die Textrezeption sowie analytische Verfahren hergestellt wird.14 Gegner des HPU kritisierten weiterhin, dass die von Schülerinnen und Schülern im Rahmen des HPU erstellten Texte sich nur unzuverlässig valide bewerten lassen. Dieser nicht unwichtige Aspekt dürfte u.a. dazu beigetragen haben, dass gestalterische Aufgaben seit 2012 nicht mehr Teil der schriftlichen Abiturprüfung sind. Wie sich in diesem Zusammenhang allerdings die neu eingeführten materialgestützten Schreibaufgaben bewerten lassen, bleibt noch zu klären.

I.3.3.2 HPU und materialgestütztes Schreiben

Versucht man den Einfluss des HPU auf den Deutschunterricht zu bewerten, dann demonstriert die Präsenz zahlreicher inzwischen im Unterrichtsalltag etablierter Verfahren das Bestreben aller an Unterrichtsplanung Beteiligten, die Schüler:innen aktiv mit Texten umgehen zu lassen, Schreiben im Unterricht zu verorten und eine Kommunikation über die Schreibprodukte stattfinden zu lassen. Durch handlungs- und produktionsorientierte Verfahren hat das Schreiben wieder einen festen Platz im Unterricht eingenommen. Im Kontext der Entwicklung von Lernaufgaben zum materialgestützten Schreiben lässt sich eine ähnliche Tendenz ausmachen: Die Komplexität des Aufgabenformats erfordert unabhängig von dem jeweiligen domänenspezifischen Inhalt der Schreibaufgabe, den Schreibprozess in den Blick zu nehmen, anzuleiten und im Unterricht stattfinden zu lassen.1

Auch die dem HPU entgegengebrachten Vorwürfe ähneln zum Teil jenen, die neu eingeführten Aufgabenformaten – unabhängig von ihrer Ausrichtung – entgegengebracht werden und die die aktuelle Diskussion um die Einführung des materialgestützten Schreibens dominieren: Das betrifft neben den bereits angesprochenen Fragen der Bewertung die zeitliche Umsetzung. Dieser Vorwurf wird vor allem immer dann relevant, wenn eine curriculare Verortung noch aussteht und wenn Unterrichtsmodelle zwar einen innovativen Charakter haben, aber von den curricularen Unterrichtsinhalten und -methoden differieren. Ein übergeordnetes Problem betrifft zudem den Vorwurf eines nicht geschlossenen theoretischen Überbaus2 und die Tatsache, dass sich der Ansatz aus an der Praxis orientierten Phänomen entwickelt hat. Auch dieser Vorwurf weist Parallelen zur Einführung des Formats des materialgestützten Schreibens auf.

Ein weiterer Aspekt betrifft das Verhältnis von literarischem Ausgangstext zum entstehenden Text: Kügler bezieht den Vorwurf der Bevormundung im Rahmen des Literaturunterrichts auch auf die Beobachtung, dass die Auseinandersetzung mit dem Primärtext zunehmend durch eine mit den jeweiligen Sekundärtexten abgelöst werde. Untersucht man in diesem Zusammenhang die Einführung des Aufgabenformats des materialgestützten Schreibens, so zeigen sich Parallelen gleichermaßen wie Chancen: Zum einen thematisiert der Begriff materialgestützt, dass die zur Verfügung gestellten Texte eine Stütze für den eigenen Schreibprozess darstellen, der im Mittelpunkt steht. Der literarische Text, der als Material präsentiert wird, nimmt demnach vor allem bei argumentierenden Schreibaufgaben eine untergeordnete Rolle ein. Ziel ist es, die Argumentation, die Kern des Zieltextes darstellt, zu unterstützen. Dies stellt einen entscheidenden Unterschied zum HPU dar. Auch wenn die entstehenden Texte – beispielsweise ein Kommentar – eine große Ähnlichkeit zu Zieltexten des materialgestützten Schreibens aufweisen können oder sogar identisch sind, ist doch die Intention des Schreibens eine andere. Während es beim HPU um eine Annäherung an den literarischen Text und damit letztendlich um ein Verstehen geht und der Kommentar demnach eine Brückenfunktion einnimmt, ist dieser beim materialgestützten Schreiben als Zieltext Endprodukt der Lese- und Schreibprozesse. Vor diesem Hintergrund erfährt der Begriff der Bevormundung eine neue Bedeutung: Durch das Um- oder Weiterschreiben eines Textes, die Visualisierung oder das Verfassen eines Rollenprofils im Rahmen des HPU kann die ästhetische Dimension des Textes zerstört werden oder zumindest in den Hintergrund geraten. Damit besteht die Möglichkeit, dass das Handeln am literarischen Text zu einer Ersatzhandlung und zu einer Bevormundung wird. Ein Kommentar, der im Rahmen einer materialgestützten Schreibaufgabe verfasst wird, ist hingegen weniger Ersatz, denn reales sprachliches Handeln, das u.a. auf literarische Texte zurückgreift. Trotz der unterrichtlichen Verortung ist damit das Vorgehen vor allem aufgrund des Adressatenbezugs, der Situierung der Aufgabe sowie des Erfordernisses, die eigene Argumentation im Sinne eines wissenschaftspropädeutischen Vorgehens zu stützen, weniger künstlich als beim HPU.

 

I.3.4 Kreatives Schreiben

Stellen die Interpretation und die Erörterung die beiden Aufgabenarten dar, die neben dem materialgestützten Schreiben im Abitur abgeprüft werden, so können die Handlungs- und Produktionsorientierung sowie das Kreative Schreiben als Textformen verstanden werden, die auf das gestaltende Schreiben abheben. Die Ausführungen zum gestaltenden Schreiben in den Bildungsstandards zeigen nicht nur die Nähe zu Zieltexten, die im Rahmen materialgestützter Schreibaufgaben verfasst werden, sondern auch die Verzahnung von analytischen und interpretierenden Texterschließungsverfahren, die bei der Rezeption der Materialien eine Rolle spielen. Angebahnt wird hier auch die für das argumentierende materialgestützte Schreiben wichtige Positionieren und Transformieren in einen eigenen Text.

Gestaltend schreiben

Die Schülerinnen und Schüler halten eigene Ideen, Fragestellungen, Ergebnisse von Textanalysen und -interpretationen in kreativ gestalteten Texten fest.

Die Schülerinnen und Schüler können

 nach literarischen oder nicht-literarischen Vorlagen Texte neu, um- oder weiterschreiben, die Korrespondenz von Vorlage und eigenem Text beachten und dabei ein ästhetisches Ausdrucksvermögen entfalten

 ästhetische, epistemische, reflexive Textformen wie Essay, Tagebuch, Gedicht, Brief zur Selbstreflexion, Wissensbildung und Entfaltung des ästhetischen Ausdrucksvermögens in literarischen oder pragmatischen Zusammenhängen verwenden

 Texte für unterschiedliche Medien gestaltend schreiben1

Wenn an mehreren Stellen der Bildungsstandards auf die kreativen Leistungen beim Lesen und Schreiben abgehoben wird,2 obwohl die gestaltenden Aufgaben keine Prüfungsaufgaben mehr darstellen, so zeigt sich damit das Bemühen der Kommissionsmitglieder:innen, eine Opposition zu einem rein kognitiv-analytischen Vorgehen im Deutschunterricht aufzuheben und einen integrierten Lese- und Schreibunterricht anzubahnen. Das Erfordernis, das kreative Schreiben genauer in den Blick zu nehmen, basiert auch auf der Tatsache, dass in Kapitel II.4 auf einen angloamerikanischen Ansatz zur Schreibdidaktik rekurriert wird. Dieser bildet die Grundlage der dritten empirischen Untersuchung und steht in der Tradition des creative writings.

Versucht man eine Typologie des Schreibens vorzunehmen, dann kann man – Aristoteles folgend – das Schreiben in zwei verschiedene Handlungen einteilen: Das Schreiben, das das Ziel verfolgt, ein konkretes Werk hervorzubringen (Poiesis), und jenes, das sein Ziel im Tun selbst sieht. Antos plädiert in diesem Zusammenhang dafür, das poietische Schreiben stärker in den Blick zu nehmen, auch wenn dieses sich den Vorwurf gefallen lassen müsse, zweckrational zu sein. Dabei ist ihm wichtig, dass Schreiben als etwas verstanden wird, das man vermitteln kann und das die Fähigkeiten des Planens, der Antizipation, der Bereitstellung und Strukturierung von Wissen ebenso wie der Revision und der Identitätsbildung erfordert. Wird Schreiben in dieser Form verstanden,3 dann handelt es sich um ein komplexes Handeln, das curricular unterschätzt werde.4 Antos postuliert, dass zu früh in der Schule der Fokus auf den Inhalt und nicht den Schreibprozess selber gelegt wird.

Betrachtet man weiterhin die Anwendungsbereiche des Schreibens jenseits des schulischen und universitären Kontextes, dann verweist Glindemann auf die Bandbreite der Einsatzbereiche: „wirtschaftsbezogenes und wissenschaftliches Schreiben, Feature Writing, journalistisches Schreiben, Literatur- und Kulturkritik, Autobiographie, Biographie, expositorisches und literarisches Schreiben.“5 Diese unterschiedlichen Anwendungsbereiche aber erfordern nicht nur unterschiedliche Methoden, sondern auch ein Überschreiten der traditionellen Aufgabenformate: Das materialgestützte Schreiben stellt dabei eine wichtige Annäherung an die außerhalb der Schule existierenden Einsatzbereiche des Schreibens dar.

Geht es um die Vermittlung von Schreibkompetenzen in der Sekundarstufe I und II, dann ist der Deutsch- und vor allem der Literaturunterricht allerdings von der weit verbreiteten Ansicht geprägt, dass Schreiben nur bedingt lehrbar sei und im Wesentlichen mit dem Ende der Unterstufe abgeschlossen ist. Dabei ist der Zweifel an der Lehrbarkeit des Schreibens ein überwiegend kontinentaleuropäisches Phänomen, das dazu führt, dass sowohl an den Schulen als auch an den Universitäten die Vermittlung von Schreibkompetenz nur zögerlich in den Blick genommen wurde und wird. Die Tatsache, dass sich in den USA die „Idee, der Sprache, als grundlegender Ausdrucksform von Gelehrsamkeit, ein produktives Labor zur Verfügung zu stellen, viel früher durchsetzen“6 konnte, ist ein entscheidender Grund dafür, warum bei der Erprobung von Unterrichtseinheiten auf amerikanische Modelle zurückgegriffen wird, auch wenn in den USA das Format des materialgestützten Schreibens nicht existiert.7 Eng verbunden mit der Skepsis gegenüber der Vermittelbarkeit des Schreibens ist die „schamlose ignoranz“ der Literaten und Literaturwissenschaftler „gegenüber handwerk und geschichte“.8 Der Autor und Dozent für Kreatives Schreiben Gerhard Rühm beklagt, dass das Lehren von Sprache als nicht angemessen angesehen wird. Literarisches Schreiben ist somit ein Gegenstand, der in der Regel in der Grundschule verortet wird. In den weiterführenden Schulen müssen sich die Schreibenden und ihre Schreiblehrer:innen den Vorwurf des Dilettantismus ihrer Schreibbemühungen gefallen lassen. Die Tatsache, dass im Abitur in den neunen KMK- Beschlüssen das gestaltende Schreiben durch das materialgestützte Schreiben ersetzt wurde, bildet die Skepsis gegenüber dieser Textform ab. Dass diese Skepsis nicht auf eine schulische Umsetzung beschränkt bleibt, sondern sich auch auf eine universitäre Ausbildung des Kreativen Schreibens bezieht, wie sie beispielsweise in Hildesheim oder Leipzig betrieben wird, betont der Schriftsteller und Dozent Michael Lentz: „In Deutschland scheint eine universitäre Autorenausbildung etwas Anrüchiges zu sein, im Sine von >da musste nachgeholfen werden<“.9

Das Kreative Schreiben soll an dieser Stelle zunächst als Oberbegriff für jene Schreibformen verwendet werden, die nicht primär auf die Analyse, Interpretation oder Erörterung von Texten abzielen, sondern die sich an einem freieren Schreibprozess orientieren. Dazu soll neben dem Kreativen Schreiben auch das literarische Schreiben in den Blick genommen und vom handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht unterschieden werden. Eine trennscharfe Abgrenzung fällt jedoch nicht immer leicht, da gerade im unterrichtlichen Kontext die Begriffe häufig synonym für Schreibprozesse verwendet werden, die analytisch orientierten Verfahren gegenüberstehen. Im Zentrum der Darstellung der Formate stehen neben einem kurzen theoretischen Abriss die jeweiligen Beziehungen zum literarischen Ausgangstext sowie die mit dem Schreiben verfolgten Intentionen.

Die Geschichte des Kreativen Schreibens ist eng mit der des Creative Writings verbunden; ausführliche Darstellungen finden sich unter anderem bei Ruf und Glindemann.10 Vergleicht man das schulische und universitäre Schreiben in Deutschland mit dem in den USA, dann fällt in den USA die Dominanz von Ansätzen auf, in denen freiere, essayistische Schreibformen überwiegen. Das Schreiben – und hier ist explizit nicht das Interpretieren oder Erörtern gemeint – wird systematisch in den Blick genommen und an Schulen und Universitäten gelehrt.11 Damit ist die Geschichte des Kreativen Schreibens eng mit der des Creative Writing in den USA verbunden. Ausgangspunkt war Ende des 19. Jahrhunderts in den USA das Bemühen, die Schreibkompetenz der Studierenden zu erhöhen, indem die Verbindung zwischen Literaturtheorie und literarischer Praxis gestärkt und die Theorielastigkeit verringert wurde. Der praxisbezogene Teil der Ausbildung sollte den Studierenden einen Einblick über Kreativitätsprozesse verschaffen. Konkrete, regelmäßige Schreibübungen verfolgten demnach das Ziel, die „Wert- und Qualitätsmaßstäbe von Literatur“12 durch persönliches Schreiben zu erfahren und zu reflektieren. Erst im nächsten Schritt ging es um die Analyse der Literatur. Durch ein derartiges Verständnis vom Schreiben rückten die persönlichen Kompetenzen ins Zentrum: Die „Schulung von Persönlichkeitsentwicklung, Selbstverwirklichung und eigenem künstlerischen Ausdrucksvermögen mittels Schreiben“13. Auch wenn in der Regel nicht das Ausbilden professioneller Schriftsteller:innen intendiert war und ist, wurde und wird an unterschiedlichen amerikanischen Schreibschulen der Schreibprozess durch Schriftsteller:innen gelehrt.14 Durch das Ermöglichen eigener Erfahrungen während des Schreibens sollten die Studierenden nicht nur einen Zugang zur Literatur erhalten, sondern auch hermeneutisch geschult werden. Das Kreative Schreiben verbindet damit Lese- und Schreibprozesse und verharrt nicht auf dem eigenen Schreibprodukt, sondern öffnet sich für einen Umgang mit bereits verfasster Literatur. Damit aber handelt es sich bei diesem Verständnis des Schreibens um einen zutiefst kompetenzorientierten Ansatz.

Je stärker das Kreative Schreiben Einzug in die Universitäten hielt, desto deutlicher kristallisierten sich drei unterschiedliche Ansätze heraus: der therapeutische, der pädagogische und der künstlerische. Gleichzeitig fand durch die Tatsache, dass sowohl rhetorische Ansätze wieder an Bedeutung gewonnen und Textsensibilität sowie literarische Bewertung eine Rolle spielten, eine Annäherung an die Literaturwissenschaft statt. Daher verfolgen Studien zum Kreativen Schreiben und deren Umsetzung nach Ruf vor allem die Intention, „die neusprachliche Literaturwissenschaft durch den verlorengegangenen Praxisbezug wieder zu beleben.“15 So ist beispielsweise auch in Großbritannien die Verortung des Kreativen Schreibens eng von der Dichotomie einer Einordnung zwischen Genieästhetik und Beliebigkeit, jeder könne schreiben lernen, geprägt. Den verschiedenen angloamerikanischen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie sowohl Schulen als auch Universitäten den Bildungsauftrag zuordnen, die Lernenden zum Schreiben zu befähigen, d.h. Schreibprozesse anzuleiten, Schüler:innen zu ermutigen, Texte zu verfassen, zu diskutieren und zu lektorieren. Damit bewegt sich das Schreiben im Spannungsfeld zwischen kreativer und analytischer Tätigkeit. Schreiben ist immer subjektiv und reflexiv zugleich. Gibt es demnach im englischsprachigen Raum seit dem 19. Jahrhundert eine universitäre Verankerung und damit verbunden auch eine wissenschaftliche Akzeptanz, so zeigt sich, dass in Deutschland eine Skepsis gegenüber dem kreativen Schreiben vorliegt, die die Vermittlung des Schreibens an Schulen und Universitäten maßgeblich beeinflusst hat. Trotz dieser ablehnenden Grundhaltung haben u.a. nachahmende Verfahren, wie sie beim Kreativen Schreiben eine entscheidende Rolle spielen, auch an deutschen Universitäten eine lange Tradition, die bis in 19. Jahrhundert Einfluss auf die Vermittlung des Schreibens hatte:16

Bis ins 19. Jahrhundert hinein lernte man bei den Professoren für Poetik und Rhetorik nicht nur das Analysieren, sondern auch das Verfassen von Texten nach Mustern. Unter dem Einfluss der Genieästhetik ist jedoch seit dem Ende des 18. Jahrhunderts das Schreiben literarischer Texte zunehmend vom wissenschaftlichen Umgang mit ihnen abgekoppelt und damit die Unterweisung im Dichten aus den Hochschulen (zumindest Europas – in den USA sind die Verhältnisse bekanntlich anders) hinausgedrängt worden.17

 

Betrachtet man die Forschungsperspektiven zum Kreativen Schreiben, so betreffen diese nach Ruf vier unterschiedliche Ebenen: Die Anleitungen zum Schreiben, also die konkrete Schreibpraxis, die Reflexionen über den Produktionsprozess, die Analyse des Buchmarkts sowie die pädagogische Vermittlung des Kreativen Schreibens und damit die „poetologische Selbstreflexionsdidaktik“ – sie „eröffnen Forschungsperspektiven für die angewandte germanistische Literaturwissenschaft.“18. Bei den Anleitungen zum Kreativen Schreiben steht neben dem kreativen Akt des Schreibens immer auch die Frage nach dem Gemachtsein des Textes im Zentrum: Soll ein Schreibstil nachgeahmt werden, so ist es erforderlich zu wissen, wie die jeweiligen Autor:innen schreiben. Demnach stehen das eigene und fremde Schreiben in einem ebenso engen Zusammenhang wie das Lesen und Schreiben. Das Schreiben über oder ausgehend von Literatur ermöglicht demnach den Schreibenden Einsichten über das Wesen der Literatur selbst.19

Ausgehend von diesem kurzen Abriss der historischen Entwicklung des Kreativen Schreibens fällt das Fehlen eines einheitlichen Theoriehorizontes auf, der zu den bereits angesprochenen Abgrenzungsschwierigkeiten zum handlungs- und produktionsorientierten Schreiben führt. Die weitgehende Abwesenheit poetologischer Ansätze in den Darstellungen über das Kreative Schreiben nennt Ortheil als einen Grund, warum die Literaturwissenschaft eine bisher überwiegend distanzierte Haltung gegenüber dem Kreativen Schreiben einnimmt. Wolle das Kreative Schreiben ernst genommen werden, so müsse es als „eine Spiel- und vor allem Lesart von Poetik“20 verstanden werden. Wenn Ortheil nach der Herkunft und den Ahnherren des Kreativen Schreibens fragt, dann kommt er auf Aristoteles und Horaz zu sprechen. Sein Ansatz ist, die griechischen Poetiken als Abhandlungen über und Anleitungen zum Schreiben zu verstehen. Damit begreift Ortheil Dichtung als etwas, das man in Teile zerlegen kann. Diese Einzelteile lassen sich nicht nur benennen, sondern auch in ihrer Wirkung beschreiben.

Beachte, wie diese Teile beschaffen sind und sich aufeinander beziehen! Prüfe, ob die Beschaffenheit und der Bezug der Teile so geartet sind, dass sie eine bestimmte Wirkung tun. (…) Tu alles dafür, den Illusionszusammenhang des Werks zu erhalten, um die von dir beabsichtigte Wirkung steuern zu können.21

Entscheidend sei, dass die Wirkung von der Art der Zusammensetzung dieser Einzelteile abhänge. Dieser Zusammenhang ist für Ortheil eine entscheidende Grundlage für das Lehren und Lernen des Kreativen Schreibens.22 Befragt man dieses Verständnis nach den Chancen für das Kreative Schreiben, dann wird deutlich: Wenn Bauprinzipien eines Werkes bekannt sind und wahrgenommen werden, dann kann die Wirkung des Werkes analysiert und für das eigene Schreiben nutzbar gemacht werden.23 Es geht nicht darum, dem Schreibenden zur Nachahmung oder zur starren Befolgung von Regeln anzuleiten. Vielmehr ist entscheidend, eine Reflexion über die innere Form des Schreibens anzuleiten.

Rufs Ausführungen zu einer Theorie des Kreativen Schreibens zeichnet aus, dass es sich eher um poetologische Gedanken, denn um eine stringente Theorie handelt. So führt er in seinen Abhandlungen unterschiedliche Autoren und Dozenten für Kreatives Schreiben an, die verschiedene Ansätze in Bezug auf die Vermittlung und Intention des Kreativen Schreibens vertreten. Betrachtet man beispielsweise in diesem Zusammenhang Michael Lentz’ Ausführungen zum Schreiben, dann zeigen diese die Bandbreite des Kreativen Schreibens auf, sind aber insgesamt wenig trennscharf für eine Abgrenzung beispielsweise zum handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht:

Die praktische Arbeit an literarischen Texten bedarf eines Oszillierens zwischen so genannten »werkimmanenten« Strategien der Interpretation, motivationsästhetischen Aspekten, die auch kritisch Autorenintentionalität hinterfragen, und einem weiter gesteckten Referenzrahmen, der auch textexterne Daten wie zum Beispiel kulturelle Voraussetzungen (Wissen, das der Text einbringt bzw. stillschweigend voraussetzt) einholt.24

Hier wird eine Verbindung der drei Textformen, die in den Bildungsstandards angeführt werden, gefordert.

Dass Ruf, wenn er auf die Praxis des Kreativen Schreibens zu sprechen kommt, auf die Schreibprozessmodelle von Hayes und Bereiter zurückgereift,25 verdeutlicht, dass zwischen dem Verfassen eines Essays oder eines literarischen Textes ein geringerer Unterschied zu sein scheint als angenommen.26 Dies ist insofern erstaunlich, da dem kognitionspsychologischen Schreibmodell von Hayes der Vorwurf gemacht wird, Schreiben weniger als einen ästhetischen Akt, denn als ein Problemlösen, als ein „ill defined problem“27, aufzufassen. Das Schreiben eines Sachtextes, einer Interpretation, eines Essays oder eines literarischen Textes scheint demnach mehr Gemeinsamkeiten aufzuweisen, als die Auseinandersetzung der Vertreter:innen der Sprach- und Literaturwissenschaft sowie ihrer jeweiligen Didaktiken vermuten lässt.

Wenn allerdings auf die Gemachtheit des Textes fokussiert wird, dann ist entscheidend, dass Literatur immer bereits erschienene Werke beinhaltet. Kein Text entsteht nur aus sich heraus, vielmehr stellt er eine Reaktion auf bereits Gewesenes dar. Beim Schreiben gilt es demnach, nicht nur die eigenen Gedanken und Stimmen mit einzubeziehen, sondern auch die anderer Autorinnen und Autoren. Um diesen Einfluss zu erfassen, ist es erforderlich, auch Verfahren der Textanalyse beim Schreiben zu berücksichtigen: „Es geht darum, die Partie nachzuspielen, indem die dem Text zugrundeliegende Ordnung rekonstruiert wird.“28 Produktion und Rezeption und damit Schreiben und Lesen sind zusammengehörig. Wahrnehmung und Rekonstruktion der Konstruktionsprinzipien stellen demnach die Voraussetzungen des Schreibens dar. Für Porombka nimmt in diesem Zusammenhang das Kreative Schreiben eine Mittlerrolle zwischen den verschiedenen Schreibformen ein: Es geht darum, „aus der Perspektive des Kreativen Schreibens wissenschaftliche Interpretationsmodelle zu entwickeln, die im Horizont einer praxisfernen Literaturwissenschaft gar nicht entwickelt werden konnten.“29 Diese Mittlerrolle wird auch in dem Begriff des Kreativen Schreibens selbst deutlich: So verweist die Autorin Fiona Sampson darauf, dass der Begriff des Creative stets eine didaktische Komponente enthalte. „Außerhalb des Lehrbetriebs, also in unserer Welt als Romancier oder Lyriker, verstehen wir uns als Autoren und es versteht sich per definitionem von selbst, dass wir kreativ sind.“30 Aus Sicht der Deutschdidaktik ist das zentrale Anliegen beim Kreativen Schreiben die Wahrnehmungsfähigkeit der Schüler:innen durch regelgeleitetes und spontanes Schreiben, durch „Bindung und Freiheit“31 anzuleiten und zu fördern.

Wenn Didaktiker oder Dozenten für Kreatives Schreiben ihre jeweiligen Konzepte und Übungen vorlegen, dann wird an mehreren Stellen die Nähe zum handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht deutlich. Das Verfassen von Erlebnisgeschichten, das Schreiben nach literarischen Vorbildern, Nachahmungen, Collagen, Um- und Fortschreiben sowie das Verfassen innerer Monologe und gestaltende Interpretationen lassen sich sowohl beim Kreativen Schreiben als auch im handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht verorten. Führt Ruf in diesem Zusammenhang „Umkehrungen, Verdoppelungen, Fragmentarisierung, Übertreibung, Untertreibung“ an,32 dann sind dies Methoden, die traditionell im handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht verwendet werden. Damit ermöglichen weder die Verfahren noch die Intention des Schreibens eine trennscharfe Abgrenzung. Rufs Feststellung, dass das Schreiben das Ziel verfolgt, „dem Verstehen zu dienen“33, ist wenig zielführend. Waldmann hingegen unterscheidet in diesem Zusammenhang die unterschiedlichen Schreibinteressen: