Das materialgestützte Schreiben aus literaturdidaktischer Perspektive

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Gilt es nun, im Rahmen des materialgestützten Schreibens literarische Texte als Material für die Schreibaufgabe auszuwerten, so können die Schüler:innen auf die im Rahmen des Literaturunterrichts und des Interpretierens erworbenen Kompetenzen des literarischen Verstehens zurückgreifen. Im Gegensatz zum Interpretieren aber geht es nicht mehr um das Textganze und dessen Bedeutung. Vielmehr können Teilaspekte, einzelne Gedanken, Haltungen von Figuren oder Stimmungen als Ausgangspunkt der eigenen Argumentation verwendet werden. Nur wenn bei den Schülerinnen und Schülern ein gedanklicher Zugang zur Schreibaufgabe und der in ihr implizierten Sprachhandlungen vorliegt und davon ausgehend ein erstes gedankliches Konzept, das auf dem eigenen Vorwissen basiert, können die Materialien in Bezug auf die Aufgabe befragt werden. Dies aber setzt ein selektives, aufgaben- und adressatenbezogenes Lesen voraus. Das bedeutet, dass sich die Schüler:innen vom Konzept der Gesamtbedeutung lossagen, sich zunächst vom Text und den in ihm enthaltenen Gedanken ergreifen lassen müssen, um sich anschließend – im Sinne Gadamers – in konzentrischen Kreisen nicht dem Textganzen, sondern dem in Bezug auf die Schreibaufgabe entwickelten eigenem Präkonzept zu nähern. Diese Herausforderung, den literarischen Text im Hinblick auf den eigenen, zu verfassenden Text zu befragen, selektiv zu lesen und Teilaspekte aufzunehmen, die nicht im Widerspruch zum Textganzen stehen dürfen, hebt das neue Format des materialgestützten Schreibens vom Interpretieren ab und diese Schwierigkeit gilt es, bei der methodisch-didaktischen Umsetzung besonders in den Blick zu nehmen.26

Die Darstellung der Interpretation und des Interpretationsaufsatzes aber verdeutlicht noch einen anderen, für das materialgestützte Schreiben relevanten Aspekt. So bewegt sich die Interpretation zwischen Normierung und Individualisierung. Auf der einen Seite sind Instruktionen zum Verfassen eines Interpretationsaufsatzes erforderlich, die eine standardisierte Bewertung ermöglichen. Auf der anderen Seite muss der Komplexität und Unabschließbarkeit des literarischen Textes Rechnung getragen werden. Ein ähnliches Spannungsverhältnis liegt beim materialgestützten Schreiben vor, wenn es darum geht, die Verwendung der Materialien und die Anzahl der angeführten Argumente der Originalität und Überzeugungskraft eines Zieltextes gegenüberzustellen. Dies betrifft Fragen der Instruktion gleichermaßen wie der Bewertung.

I.3.2 Die Erörterung

Das Erörtern ist neben dem Interpretieren literarischer und der Analyse pragmatischer Texte die dritte verbindliche Aufgabenart des textgebundenen Schreibens, die in den Bildungsstandards Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife (BS AHR Deutsch) für die schriftliche Abiturprüfung angeführt wird.1 Dabei wird zwischen der Erörterung literarischer Texte und der pragmatischer Texte unterschieden. Im Folgenden soll besonders auf den argumentativen Kern sowie auf den dialogischen Charakter des Erörterns eingegangen werden, um zu klären, inwieweit die beim Erörtern zugrundeliegenden Textmuster und Sprachhandlungen im Rahmen des materialgestützten Schreibens aufgegriffen und für die Entwicklung didaktischer Konzepte nutzbar gemacht werden können. Ähnlich wie beim Interpretieren handelt es sich beim Erörtern sowohl um einen Operator als auch um eine Aufgabenart und eine Aufsatzform. Diese Hybridität, auf die im Folgenden näher eingegangen wird, verweist auf das Problem einer Abgrenzung, die das Textmuster ebenso wie die Sprachhandlungen betrifft.

Die von der KMK herausgegebene Zusammenstellung der Operatoren für das Fach Deutsch2 führt für das Erörtern folgende Definition an:

Erfassen des Problems; ggf. Definition wichtiger verwendeter Begriffe; Entwicklung einer aufgabenbezogenen Gliederung; erläuternde bzw. deutende Wiedergabe der Textvorlage hinsichtlich des in ihr vorliegenden Problems; Methodenkenntnis sowohl des dialektischen wie auch des linearen Verfahrens der Erörterung; argumentative Berücksichtigung möglicher Gegenpositionen; Einbringen von aufgabenbezogenem Fachwissen; Herstellen von aufgabenbezogenen Kontexten; Einsetzen geeigneter Argumentationsstrategien, Entfaltung einer eigenständigen Argumentation; Formulierung eines aus der Argumentation logisch abgeleiteten Urteils; in den Argumentationsverlauf passendes Einbringen des eigenen Standpunktes; Darstellung der Arbeitsergebnisse als zusammenhängender Text (Gliederung, angemessener Ausdruck, Fachsprache, Zitiertechnik).3

Feilke und Rezat betonen in diesem Zusammenhang, dass Operatoren nicht „einfach die in Aufgabenformulierungen gebrauchten Verbalausdrücke [sind]. Vielmehr beziehen sich diese Verbalausdrücke auf eine didaktisch sinnvolle Ordnung begrifflich zu unterscheidender Sprachhandlungstypen.“4 Beim Erörtern handelt es sich dabei um den hierarchiehöchsten Operator, der ebenso wie das Interpretieren den Anforderungsbereich der Reflexion zugeordnet werden kann.5

Die Operatorendefinition der KMK zeigt zum einen, dass es sich beim Erörtern um einen Makrooperator handelt, zum anderen verweist sie gleichermaßen auf Schwerpunkte wie auf Probleme der Aufgabenart, die sich in folgende Bereiche zusammenfassen lassen. Nach einer Begriffsbestimmung und Abgrenzung zu anderen Operatoren und Aufsatzformen werden die Textmuster und Sprachhandlungen des Argumentierens erläutert, bevor das Verhältnis zwischen dem Thema der Erörterung, der Textgrundlage, dem Weltwissen und dem Lebensweltbezug dargestellt wird.

Folgt man Brinker mit seiner Definition der Textsorten als „konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen, die sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben lassen“6, so sollen zunächst die dem Erörtern zugrundeliegenden Handlungen ausgeführt werden, bevor die strukturellen Merkmale erläutert werden. Vergleicht man die in den BS AHR Deutsch angeführten Erläuterungen zur Erörterung literarischer und pragmatischer Texte, so wird in diesen einleitend für die beiden Aufgabenarten auf das Ziel der Erörterung abgehoben, das „im Kern die argumentative Auseinandersetzung“7 beinhaltet. Während im Umgang mit pragmatischen Texten explizit darauf abgehoben wird, „dass die Textvorlage etwas Strittiges behandelt“, wird von den Schülerinnen und Schülern im Rahmen einer literarischen Erörterung gefordert, dass nicht nur auf Ergebnisse des Unterrichts zurückgegriffen wird, sondern der Ausgangstext auch analysiert und interpretiert wird. Dass ein Aufgabenfeld explizit Teilhandlungen und damit verbunden auch Textmuster einer anderen Aufgabenart enthält, dürfte nicht nur für Schüler:innen in diesem Zusammenhang verwirrend sein. Beide Typen der Erörterung enthalten zudem „informierende“ und „erklärende Anteile“.

Deutlich an dieser Gegenüberstellung wird, dass es sich bei der Erörterung um eine „Mischform“8, eine hybride Textform, handelt. Weiterhin gestaltet sich schwierig, dass der literarischen Erörterung keine strittige Frage zugrunde liegen muss; als Beispiele für Themen werden die Auseinandersetzung mit Fragen der Rezeption und der Wertung angeführt. In diesen Beispielen ist eine argumentative Auseinandersetzung nicht automatisch Teil eines Diskurses. Die Problematik einer genauen Begriffsbestimmung des Erörterns zeigt sich, wenn Merz-Grötsch die folgende Formen des schriftlichen Erörterns einander gegenüberstellt: Das textgebundene Erörtern als Auseinandersetzung mit Texten, „in denen die Autoren Stellung zu einem Sachverhalt beziehen und diesen darstellen“9, das literarische Erörtern, in dem sich „auf die zu bearbeitenden Themen auf Fragen aus dem Bereich der Literatur“10 bezogen wird, und das freie Erörtern, bei dem „Meinungen und Positionen zu einem Thema eigenhändig recherchiert und ausgewertet werden“11. Diese Definition entspricht nur zum Teil der der BS AHR.

Um die Bedeutung der Erörterung in der aktuellen didaktischen Diskussion bewerten zu können, sollen die von Neumann und Steinhoff in ihrem Beitrag zum Schreiben im Rahmen der Erläuterung zu den aktuellen Bildungsstandards angeführten Beispielsaufgaben näher betrachtet werden. Während die erste eine Interpretationsaufgabe darstellt und damit die Gewichtung des Interpretierens von Literatur in der gymnasialen Oberstufe abbildet, fokussiert die zweite Aufgabe auf das Argumentieren. Dies verwirrt, da das Argumentieren keine Aufgabenart der BS AHR darstellt, sondern nur einen Operator. Wollen die Autorinnen und Autoren bewusst auf die „Spezifika der durch die BS AHR initiierten Reform des Schreibunterrichts“12 aufmerksam machen, so wird die Erörterung ex negativo definiert. Die Verfasser:innen heben darauf ab, dass die argumentative Auseinandersetzung mit der „Spitzer-Debatte“, einer Streitschrift des Neurowissenschaftlers zum Thema „Digitale Demenz“13, diskursorientiert, prozessorientiert und wissenschaftsorientiert sei; sie „grenzt sich bewusst von der traditionellen Erörterung ab.“14 Das bedeutet, dass beim materialgestützten Schreiben durch die Materialauswahl und die Situierung in Form der Adressierung und der Zieltextsorte eine wissenschaftspropädeutische Dimension entstehe.15 Inwiefern sich eine Prozess- und Diskursorientierung aber im Schreibprodukt abbildet, bliebe zu diskutieren.

Um eine Systematisierung vorzunehmen, soll zunächst von einer Kategorisierung der Textmuster ausgegangen werden. Während Kühtz das Erörtern als „Formulierungsmuster“ der Wissenschaftssprache anführt,16 nennt Fix in diesem Zusammenhang das Erzählen, Berichten, Beschreiben und das Argumentieren.17 Die Argumentation bildet den Kern der Erörterung, die jedoch „eine Mischform“ darstelle, „die neben argumentierenden auch berichtende und beschreibende Anteile enthalten kann“.18 Auch Fritzsche subsumiert das Erörtern dem klärenden Schreiben und als Unterkategorie dem Argumentieren und definiert das Erörtern als „schriftliches Nachdenken über Probleme“19; Ziel der Erörterung sei die Prüfung der eigenen Annahmen. Dabei unterteilt er das Erörtern im Wesentlichen in die zwei Bereiche der Sacherörterung, die einen Sachverhalt von verschiedenen Seiten beleuchtet, und der Problemerörterung, die eine Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Auffassungen darstellt. Der Besinnungsaufsatz – oder die freie Erörterung – als Sonderform hat einen hohen subjektiven Anteil und im Gegensatz zur dialektischen Erörterung keine feste Form, der die Schreibenden zu folgen haben. Dass sich der Besinnungsaufsatz trotz seiner langen Tradition nicht durchgesetzt hat, liegt an dem Fehlen einer inhaltlichen Tiefe aufgrund mangelnden Fachwissens. Außerdem hat die Nähe von der reflexiven Besinnung zur beeinflussbaren Gesinnung in unterschiedlichen geschichtlichen Epochen zu einer Instrumentalisierung und zu einem Missbrauch beispielsweise zu völkisch-nationalen Zielen geführt. Problematisch am Besinnungsaufsatz aber bewertet Fritzsche vor allem, dass die Schüler:innen im Rahmen der vorzunehmenden Positionierung in der Regel die sanktioniert geglaubte Meinung der bewertenden Lehrerkraft mitdenken. Soll sich beispielsweise im Rahmen einer Erörterung entschieden werden, ob Drogen oder Waffen legalisiert werden sollen, so denken die Schreibenden in der Regel die Erwartungshaltung der Lesenden mit; dadurch erziehe die freie Erörterung zur „Heuchelei“20. An dieser Stelle deutet sich an, wie wichtig die Materialauswahl im Rahmen von Erörterungen und materialgestützten Schreibaufgaben ist: Die Materialien müssen unterschiedliche Positionierungen erlauben und auch glaubhaft erscheinen lassen. Dass die freie Erörterung jedoch im Gegensatz zu ihrer textgebundenen Variante ein größeres Maß an formaler Varianz aufweist und damit den Schreibenden mehr Freiraum gelassen wird, wiegt die angeführten Kritikpunkte nicht auf.

 

Wenn Baurmann und Ludwig die Erörterung als die älteste Aufsatzform bezeichnen und sie in einer rhetorischen Tradition sehen,21 dann wird implizit von der freien Erörterung ausgegangen. Die Autoren verweisen auf die Parallelität im Aufbau, die mit einer „Monopolisierung einer bestimmten Form“22 verbunden ist, der Abfolge von thesis – confutatio – refutatio – conclusio. Um die verschiedenen Formen der Erörterung, die didaktischen Prinzipien einer unterrichtlichen Umsetzung sowie die curricularen Fragen einer Implementierung einschätzen zu können, soll kurz erläutert werden, wie die Erörterung in der Mittelstufe eingeführt wird. In den Bildungsstandards Deutsch für den Mittleren Bildungsabschluss von 2004 (BS MSA) werden folgende, in der Sekundarstufe I einzuführende Schreibformen genannt: „erzählen, informieren, berichten, beschreiben, schildern, appellieren, argumentieren, analysieren/interpretieren“23. Das Erörtern wird in diesem Zusammenhang nicht explizit angeführt, taucht jedoch im Rahmen der Bearbeitung der Aufgabenarten24 sowie im Zusammenhang der Konkretisierung der Aufgabenarten der Abschlussprüfung auf. So sollen Schüler:innen „von einer Textgrundlage ausgehend, informieren, argumentieren, erörtern“ sowie eine „Problemstellung erörtern“.25 Beim Mittleren Schulabschluss kommt demnach neben der textgebundenen Erörterung auch die freie, von einem Ausgangstext unabhängige Erörterung vor. Vergleicht man die Schreibaufgaben der beiden Bildungsabschlüsse, so ist neben einer Zunahme an Komplexität vor allem ein Schwerpunkt auf dem lektüregestützten Schreiben zu beobachten. Diese Progression von der freien zur textgebundenen Erörterung wird auch im Rahmen einer Beispielsaufgabe für den Mittleren Schulabschluss deutlich, die sich auf einen pragmatischen Text bezieht. Nach der Textwiedergabe wird als Alternative zu einer gestalterischen Teilaufgabe das Verfassen einer Erörterung eines Teilaspektes des Themas gefordert.26

Eine Konzentration dieses Kapitels auf die textgebundene Erörterung bietet sich aus verschiedenen Gründen an: Zum einen beschränken sich die Ausführungen auf die Oberstufe, in der die freie Erörterung keine wesentliche Rolle spielt. Um eine Gegenüberstellung der Erörterung und des materialgestützten Schreibens zu ermöglichen, soll eine Fokussierung auf den Umgang mit Materialien stattfinden. Des Weiteren finden auch in der Mittelstufe in der Regel materialgestützte Erörterungen statt: So wird in dem kompetenzorientierten Lehrwerk deutsch.kompetent 8 die Erörterung am Thema Schutz durch Kontrolle eingeführt. Im Rahmen einer Kompetenzübersicht wird davon ausgegangen, dass die Schüler:innen bereits folgende Kompetenzen besitzen: „aus Texten den Standpunkt des Verfassers erschließen“, „verschiedene Textarten nutzen, um Adressaten zu überzeugen“, „zu einem strittigen Thema sprachlich angemessen und überzeugend argumentieren“27. Der Kompetenzzuwachs innerhalb der Unterrichtseinheit besteht in der Verschriftlichung („Probleme und Sachverhalte schriftlich erörtern“) und der expliziten Nutzbarmachung der Materialien beim Argumentieren. So erhalten die Schüler:innen unterschiedliche Sachtexte sowie Beispieltexte, um mit „Unterstützung von Materialien Adressaten zu überzeugen“28. Im Kontext der Einführung des materialgestützten Schreibens und einer möglichen curricularen Verortung ist die eindeutige Nennung von Adressat:innen sowie die Formulierung „materialgestützt einen eigenen Standpunkt erarbeiten“29 von besonderem Interesse. Deutschbuch 8 hingegen führt nicht explizit die Erörterung ein, leitet jedoch im Rahmen der Thematik „Ich esse was ich will“30 das Argumentieren und Stellungnehmen auf Sachtextbasis an. Das Lehrwerk deutschideen8 nimmt anhand des Themas „Schöne neue Medienwelt“ eine Progression vom mündlichen zum schriftlichen Argumentieren vor und definiert: „Eine schriftliche Argumentation nennt man auch Erörterung.“31 Die Materialgrundlage beschränkt sich jedoch auf die Zurverfügungstellung einer Rezension. Es deutet sich demnach auch in den Lehrwerken für die Mittelstufe an, dass das materialgestützte Schreiben im Kontext der Erörterung eingeführt wird. Dies erscheint nicht nur im Hinblick auf den argumentierenden Schwerpunkt sinnvoll und plausibel.

Im Zusammenhang der Materialauswahl ist die Stoffgrundlage näher zu beleuchten; sie kann nach Mückel textgebunden, literarisch oder frei sein.32 Auch an dieser Stelle deuten sich Schwierigkeiten an, wenn nicht wie in den Bildungsstandards zwischen literarischen und pragmatischen Texten unterschieden wird, sondern zwischen Text und Literatur. Aber auch die Bildungsstandards bleiben hier indifferent: Wird im Rahmen der Erörterung literarischer Texte auf die „argumentative Auseinandersetzung mit dem literarischen Text“ verwiesen, so wird im Zusammenhang einer Erörterung pragmatischer Texte auf die „argumentative Auseinandersetzung mit Problemgehalten pragmatischer Texte“ [Hervorhebungen durch die Verfasserin] abgehoben. Der Plural deutet darauf hin, dass nicht nur mehr Texte bzw. Textausschnitte zur Verfügung gestellt werden, sondern dass eine weniger intensive, hermeneutisch orientierte Textrezeption erfolgen müsse.

Betrachtet man die Themenentfaltung der zu verfassenden Texte, so unterscheidet Brinker die deskriptive von der narrativen, der explikativen und der argumentativen Themenentfaltung.33 Darauf aufbauend unterscheiden Baurmann und Ludwig verschiedene Stufen einer argumentativen Auseinandersetzung und Entfaltung der zu erörternden Themen: Die deskriptiv-aufzeigende, die narrativ-exemplifizierende und die argumentativ-ableitende Erörterung.34 In ihren Überlegungen zu einer curricularen Verortung des Erörterns führen sie für die Orientierungsstufe das erzählende Erörtern an.35 „Mit „argumentativ-ableitenden Erörterungen“ können wir erst gegen Ende der Sekundarstufe I rechnen.“36 Dass diese Abfolge und der sich daraus entwickelte Lehrgang „vom ‚Subjektiven‘ zum ‚Objektiven‘ – was immer man darunter versteht –, von der erzählend-schildernden Nähe zur beschreibend-besprechenden Distanz, vom fantasiebetonten Fabulieren zum erörternden Diskurs“37 durchaus kritisch bewertet werden kann und keine entwicklungspsychologische Notwendigkeit darstellt, betont in diesem Kontext Abraham.

Während Fritzsche das Erörtern dem Argumentieren unterordnet – dieser Position folgt auch Mückel38 – scheinen Baurmann und Ludwig den argumentierenden Anteil des Erörterns als eine Weiterentwicklung zu betrachten. Eine Akzentuierung nimmt in diesem Zusammenhang Friedrich vor, wenn er das Argumentieren dem Problemerörtern gegenüberstellt. Für Friedrich hat das Argumentieren eine vorrangig kommunikative Funktion, da es die Intentionen verfolgt, zu aktivieren und zu überzeugen.39 Die Problemerörterung hingegen hebe drauf ab zu klären und ist deshalb vorrangig kognitiv. „Da Argumentationen auf Partner bezogen, folglich von ihnen in ihrer Wirksamkeit abhängig sind, spielt die Berücksichtigung der Partnerperspektive eine ebenso wichtige Rolle wie die deutliche Formulierung des eigenen Standpunktes und dessen Begründung.“40 Wie terminologisch uneinheitlich eine Abgrenzung zwischen dem Argumentieren und Erörtern ist, zeigt die Definition von Merz-Grötsch: „Haben wir es beim Argumentieren in der bisher dargestellten Weise mit der Grundform des Begründens und des Belegens einer These zu tun, so kommen wir in dem Moment, wo wenigstens zwei Personen in einer Auseinandersetzung ihre Argumentationen gegeneinander vortragen, zu einer Erörterung.“41

Abgesehen von der Themenentfaltung spielt beim Erörtern die Gestaltung und damit der Aufbau eine entscheidende Rolle: So kann letzterer linear entfaltend oder dialektisch sein. Jesch führt weitere Formen der Argumentationsgestaltung an. So könne eine Argumentation einfach oder komplex, einsträngig oder mehrsträngig, konvergent oder kontrovers sein.42 In der schulischen Praxis aber hat sich im Wesentlichen die dialektische Erörterung durchgesetzt, die – angelehnt an die rhetorische Tradition – auf das Anführen von Argumenten und antizipierten Gegenargumenten fokussiert. Dies stellt für Baurmann und Ludwig eine Reduktion dar, die sowohl die Form als auch die zu erörternden Themen betrifft. Diese Problematik zeigt sich, wenn man das Verfassen eines Kommentars als Zieltext betrachtet. Dieser fordert im Kern von den Schreibenden eine argumentative Auseinandersetzung, gleichzeitig aber eine journalistisch-essayistische Umsetzung, die eine höhere Sprachvariabilität und eine größeres Musterwissen43 nötig macht als das Verfassen einer Erörterung.

Ähnliche Abgrenzungsschwierigkeiten treten bei der Zieltextsorte des Essays auf. Auch hier lässt sich eine Nähe zwischen dem Erörtern und dem materialgestützten Schreiben beobachten: Sowohl Fritzsche44 als auch Baurmann und Ludwig subsumieren den Essay dem Erörtern: „Der literarische Essay ist eine weitere Form, eine Sache zu erörtern.“45 Im Rahmen der BS AHR wird der Essay sowohl dem gestalterischen Schreiben zugeordnet46 als auch als Textsorte verstanden, die im Rahmen der Abiturprüfung verfasst werden kann: „z.B. Erörterung, Interpretation, Rezension, Lexikonartikel, Essay“47. Aufgrund der unmittelbar zuvor angeführten Aufgabenarten der Interpretation, Analyse, Erörterung und des materialgestützten Schreibens liegt es nahe, dass der Essay in den Bildungsstandards als Textsorte des materialgestützten Schreibens verstanden werden kann.