Im Schatten der Schwarzen Sonne

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

The Order, wir erwähnten es, bezog unmittelbare Anregung für das eigene Handeln aus den Turner Diaries. Mathews selbst erklärte jedem neu Rekrutierten, dass sein Verbund der gleichnamigen inneren Elite der Turner’schen »Organisation« nachgestaltet sei, und empfahl allen Mitgliedern dringlich die Lektüre des Buches. Neben dem bereits Genannten übernahm Mathews’ Truppe aus dem Roman: Decknamen werden benutzt; »Abschusslisten« werden angelegt; Verräter werden hingerichtet; jedes neue Mitglied muss einen rituellen Eid leisten. Die »realen« Order-Leute schworen, »im Namen unserer Väter, die der grüne Rasen deckt, und im Namen der Kinder, die im Schoße unserer Frauen warten«, rückhaltlos zu kämpfen, »bis unser Volk vom Juden befreit und der Endsieg der arischen Rasse errungen ist«. Mathews selbst war von seiner religiösen Neigung her Odinist (d.h. Verehrer des germanischen Gottes Odin), also Neuheide; er hatte jedoch enge Verbindungen zu Gruppen der Christian Identity, besonders zu den Aryan Nations. Ein Viertel des Mathews’schen Gefolges gehörte sowohl dem Order als auch einer der Christian-Identity-Gemeinschaften an, etwa den Aryan Nations oder der Church of Jesus Christ Christian. David Lane, der bei dem Attentat auf Alan Berg den Fluchtwagen fuhr, war Mitglied einer Identity-Kirche. 1995 gründete er den Verlag Fourteen Word Press, so genannt nach dem von ihm selbst geprägten, genau vierzehn Worte zählenden Motto, das die Programmatik der Kämpfer für die weiße Identität bündig zusammenfasst und daher eine Art Mantra der Neuvölkischen weltweit wurde: »We must secure the existence of our people and a future for white children« (»Wir müssen Sorge tragen, dass unser Volk lebe – damit weiße Kinder eine Zukunft haben«).44

Umgekehrt hat Pierces Roman auch die Christian-Identity-Bewegung beeinflusst. In der zweiten Hälfte der 80er-Jahre diskutierten einzelne Gruppen immer wieder Pläne, auf amerikanischem Territorium einen souveränen arischen Musterstaat zu etablieren - eine deutlich den Turner Diaries nachgebildete Idee, in denen die Revolution ja mit der Errichtung eines weißen Kalifornien ihren eigentlichen Anfang nimmt.45 Pierce hat ferner die Vorstellung, die Washingtoner Führung sei ein jüdisch kontrolliertes Marionettenregime, erheblich popularisiert; inzwischen gehört diese Sichtweise zur ideologischen Grundausstattung des rechtsextrem-rassistischen Diskurses; oft genügt schon die Nennung des Akronyms ZOG, um sich rasch darüber zu verständigen, wer wieder einmal an einer unerwünschten Entwicklung Schuld hat. Die Potenz des Buches, Rechtsradikale zu terroristischem Handeln zu motivieren, ist ungebrochen. Erinnern wir uns an eine der schlimmsten Terrorattacken, die Amerika hat erdulden müssen. Am 19. April 1995 explodierte in Oklahoma City (Mittelsüden der USA) vor einem achtstöckigen Hochhaus, Sitz mehrerer Regierungsbehörden, ein sprengstoffbeladener Lkw. Die schaurige Bilanz: 168 Tote, über 800 Verletzte. Haupturheber: der 27jährige Timothy McVeigh, Golfkriegsveteran und Waffenfreak, ein politischer Wirrkopf, dessen ideologisches Weltbild zwischen Faschismus und Anarchismus oszillierte. Fest steht immerhin: er hatte zeitweise Kontakt zu Christian-Identity-Kreisen. Und fest steht: Er hatte Pierces Roman gelesen, mehrfach sogar. Eine folgenreiche Lektüre: Das 6. Kapitel beschreibt minutiös, wie Turner und die Seinen das Washingtoner FBI-Hauptquartier mithilfe eines sprengstoffbeladenen Gefährts in die Luft jagen. McVeigh hat sich offenbar, was die Methodik des Anschlags betrifft – namentlich hinsichtlich Position des Lkws und Timing -, bis ins letzte Detail von der literarischen Vorlage leiten lassen.46

Der rasche Sieg des »Systems« über The Order führte in der rechten Szene zu einem strategischen Umdenken. Zwar musste ihrer Meinung nach der Rassenkrieg weitergehen, aber man wollte künftig verdeckter operieren und dann plötzlich und möglichst unvorhersehbar zuschlagen, quasi in Desperado-Manier. Feste organisatorische Strukturen wurden fortan verschmäht, da zu leicht infiltrier- und durchschaubar. Natürlich würden weiter Terrorakte stattfinden, nur sollten eben Individuen oder ganz kleine, autonome Zellen sie verüben. Ad acta gelegt, vorerst zumindest, die Vision eines offenen Krieges, mit Nuklearwaffen gar; statt dessen gezielte »Nadelstiche«, Attacken per Pistole, Flinte oder Bombe. Die einschlägige literarische Vorlage, um nicht zu sagen Handlungsanweisung lieferte wieder einmal William Pierce. Sein zweiter Roman, Hunter, erschienen 1989, hat einen gewissen Oscar Yeagar zum Hauptakteur. Hunter bedeutet »Jäger«, und der Nachname des Helden ist nichts anderes als eine anglisierte Form des deutschen Wortes. Und Yeagar jagt tatsächlich. Er unternimmt einen Ein-Mann-Feldzug gegen Juden und Nichtweiße, besonders gegen gemischtrassige Paare. In seinem zweiten Buch musste Pierce freilich nicht utopisch daherkommen, sondern konnte sich an der Wirklichkeit orientieren. »Einsame Wölfe« Yeager’scher Art hatte es, zumindest so ähnlich, kurz zuvor bereits gegeben. Besonders in der ersten Hälfte der 80er-Jahre mutierten immer wieder Exzentriker und Psychopathen, infiziert von nazistischen Ideen, zu rassistischen Serienkillern; nennen wir etwa Joseph G. Christopher, Joseph Paul Franklin (alias James Vaughn) und Frank G. Spisak. Auch John Hinckley, der im März 1981 – erfolglos – auf Präsident Ronald Reagan schoss, hatte eine Zeitlang mit dem Nazismus geflirtet. James Mason feierte diese Morde und Mordversuche in den Spalten des Siege als heroische Taten.47 Pierces zweites Buch empfahl implizit eine neue Kampfmethode, mit der sich die militärische Überlegenheit des Staatsapparates möglicherweise neutralisieren lasse. Vernetzten Gruppen könne dieser immer nachspüren, suggeriert Pierce, nicht aber isolierten Einzelnen, von denen man gar nicht wisse, dass sie Attacken planten. Einzelne sollten gegen Einzelne, höchstenfalls Paare, losschlagen; derlei ist schwer zu verhindern und schwer zu ahnden. Dafür aber weckten solche Attentate gegen Nichtweiße und ethnisch gemischte Paare in der breiten Öffentlichkeit das Bewusstsein für die Rassenproblematik. Da käme so mancher ins Grübeln, ob denn der bisher praktizierte Egalitarismus wirklich der richtige Weg sei. So werde langfristig die gemischtrassige Gesellschaft effektiv demoralisiert und destabilisiert.48

Andere Apologeten des rassistischen Terrors fanden die Rechtfertigung solchen Tuns gar in der Heiligen Schrift. So der Publizist Richard Kelly Hoskins aus Virginia, geboren 1928, der für die Gegenwart eine Art Rassenpolizei mit himmlischem Mandat fordert; er nennt das Idealkonstrukt »Pinehas Priesthood« (»Pinehas-Priesterschaft«) – nach einem frommen Gottesmann, der laut Hoskins schon in alttestamentarischer Zeit vorführte, was heute notwendig wäre. Hoskins’ Belegstellen stammen überwiegend aus dem 4. Buch Mose (Numeri) und den Psalmen. Die Bibel erzählt: Auf ihrer Wanderschaft kommen die Israeliten in das Land Moab, wo einige von ihnen den Göttern der Einheimischen huldigen und »zu huren« anheben »mit den Moabiter-Töchtern« (4. Mose 25,1). Beides, die »Abgötterei« und die »Unzucht«, erzürnt den Herrn, und er droht, den Israeliten Plagen zu senden. Da greift beherzt ein glaubenseifriger Hohepriester namens Pinehas ein. Als er bemerkt, wie ein Israelit mit einer Moabiterfrau in einem Haus verschwindet, fasst Pinehas einen Spieß und »ging dem israelitischen Mann nach hinein in die Kammer und durchstach sie beide, den israelitischen Mann und das Weib, durch ihren Bauch. Da hörte die Plage auf von den Kindern Israel« (4. Mose 25,8). Der Herr schließt mit diesen Frieden und setzt als ihre treuen Hüter Pinehas und seine Nachkommen ein: »[Er] soll haben und sein Same nach ihm den Bund eines ewigen Priestertums« (4. Mose 25,13). Im Psalter wird der Vorgang erneut angesprochen: »Da trat Pinehas hinzu«, heißt es dort, »und schlichtete die Sache; da ward der Plage gesteuert. Das ward ihm gerechnet zur Gerechtigkeit für und für ewiglich« (Psalm 106,30-31). Hoskins behauptet nun, dass Verderbnis und Krankheit die christliche Gemeinschaft immer dann befallen, wenn Fremde hereindringen. Zum Glück aber, so Hoskins, hätten sich in der Geschichte immer wieder energische Recken gefunden, welche die Andersartigen hinauszudrängen wussten – wo nötig, auch mit Gewalt. Diese Wackeren seien nichts anderes als die Nachfahren der biblischen »Pinehas-Priester«. Zu ihnen zählt Hoskins König Artus ebenso wie Robin Hood, den Ku-Klux-Klan ebenso wie die SS.49 Die moderne »Pinehas-Priesterschaft« sollte freilich strategiehalber aus Einzelkämpfern bestehen, die ohne organisatorische Verbindung und autonom, aber entschlossen Anschläge gegen (wiederum einzelne) Schwarze, Juden, Homosexuelle, Liberale und Linke verüben – eben gegen alle, die in der Optik der Christian-Identity-Militanten Feinde der weißen Rasse sind.

Ein weiterer Aktivist aus dem Identity-Milieu, der Texaner Louis Beam, geboren 1946, versuchte, für diese Kampfesform des individuellen Terrors ein schlüssiges Konzept zu entwickeln. Mit Beam wurde der amerikanischen Rechten nicht nur ein leidenschaftlicher Rhetoriker, sondern auch ein durchaus scharfsichtiger Stratege beschert. Der Vietnamkriegsveteran durchlief diverse faschistoide Organisationen, so den Ku-Klux-Klan, die Aryan Nations und The Order. Beam legte eine Militanz an den Tag, welche zunächst die Aufmerksamkeit der Behörden erregte, dann, Ende der 80er-Jahre, wurde er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. 1987 kam es vor dem Bundesgeschworenengericht von Fort Smith/Arkansas zu einem viel beachteten Prozess wegen »aufrührerischer Verschwörung gegen die Vereinigten Staaten«. Insgesamt vierzehn mehr oder minder prominente Rechtsradikale waren angeklagt; einer der Hauptbeschuldigten: Louis Beam. Ihm und seinen Kombattanten wurde der Raub von über vier Millionen Dollar, das illegale Horten von Waffen sowie je ein Attentat auf ein jüdisches Gemeindezentrum und eine Gaspipeline zur Last gelegt. Das Verfahren geriet der Justiz freilich zur Blamage: 1988 mussten alle Angeklagten aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden. Einen weiteren großen Moment erlebte Louis Beam vier Jahre später auf einem Treffen »patriotischer« Verbände in Estes Park/Colorado. Der Anlass: Im August 1992 hatte das FBI der radikalen Rechten Amerikas wieder einmal zu Märtyrern verholfen. Es geschah auf dem Ruby Ridge genannten Anwesen der Familie Weaver im Rocky-Mountains-Bundesstaat Idaho. Beim Versuch, den des illegalen Waffenhandels beschuldigten Bauern und Aryan-Nations-Sympathisanten Randy Weaver auf seiner Berghütte zu verhaften, erschossen die Beamten, wohl aus Unachtsamkeit, Frau und Sohn des Verdächtigen. Die erwähnte Konferenz in Estes Park sollte gegen diesen Vorfall protestieren; gleichzeitig aber wollte man über geeignete Gegenmaßnahmen beraten. Louis Beam nutzte die Gelegenheit, eine neue Strategie für den Kampf gegen die ZOG zu skizzieren. Sein folgenreicher Vortrag hatte den Titel »Leaderless Resistance« – »führerloser Widerstand«. Inzwischen ist der Terminus ein vertrautes politisches Schlagwort; damals waren Begriff wie Konzept neu, namentlich in rechten Kreisen, wo man doch bisher stets auf Kommando und Gehorsam setzte. Beam riet eindringlich davon ab, gegen das aktuelle System eine Organisation mit hierarchischen Befehlsstrukturen und straff koordinierten Zellen in Stellung zu bringen; dies sei illusorisch, ja reiner Selbstmord. Das alte Zellenmodell, wie es etwa während des Bestehens der UdSSR bei den Kommunisten in den Vereinigten Staaten Anwendung fand, hatte, so Beam, zweifelsfrei gewisse Vorteile, etwa den, dass, wenn eine Zelle aufflog, die übrige Struktur intakt blieb. Aber solche Zellenarbeit benötigte eine zentrale Führung und äußere Ressourcen, die der kämpferischen Rechten nun einmal nicht zur Verfügung stünden. Die einzige rationale Strategie sei also die des »führerlosen Widerstands« bzw. der »Phantomzellen«. Einzelne Personen oder Kleinstgruppen sollen völlig autonom und isoliert voneinander operieren; es gibt kein Hauptquartier, keine Befehlskette, keine Mitgliederkartei; als Mitglied darf sich jeder fühlen, der die neuvölkische Ideologie teilt. Das Fehlen einer zentralen und manifesten Koordination wird sozusagen durch eine virtuelle kompensiert: Alle Kämpfer haben die gleiche Einstellung; und jeder einzelne Kombattant weiß aufgrund dieser gemeinsamen Haltung selbst, was in einer gegebenen Situation zu tun ist, auch ohne dass ihm ein anderer etwas sagt. Sämtliche Aktionen des führerlosen Widerstands gehen in die gleiche Richtung; Öffentlichkeit und Sicherheitsbehörden bemerken das einheitliche Muster der Aktionen und werden als Urheber eine straff geführte Zellenstruktur vermuten, die aber gar nicht existiert (daher der Terminus »Phantomzellen«). Der Einheitlichkeit der Reaktionsweisen, so Louis Beam, könne man zusätzlich über die modernen Kommunikationsmedien nachhelfen – durch Orientierungen, wie diese und jene politische Entwicklung aus Sicht eines »Patrioten« oder eines »Retters der weißen Rasse« zu beurteilen sei. Nicht umsonst nutzen rechte Gruppen seit Jahren weltweit das Internet.50

 

Louis Beams Gedanken waren eine wichtige Inspiration für den rechtsextremen Untergrund der 90er-Jahre. Eine neue Perspektive schien sich den Neonazis zu eröffnen, nachdem herkömmliche Kampfmethoden sie keinen Schritt weitergebracht hatten. Ungeachtet aller Propaganda blieben sie bei Wahlen regelmäßig am Rande der nummerischen Wahrnehmbarkeit, und die Bevölkerung dachte gar nicht daran, sich in bewaffneten Aufständen gegen die ZOG zu erheben. Außerdem unterwanderte die Polizei immer wieder erfolgreich die Reihen der Insurgenten und dezimierte sie durch Verhaftungen. Bedenkt man diesen Hintergrund, versteht man leicht, warum die Rechtsmilitanten das Beam’sche Konzept des »führerlosen Widerstands« derart begeistert aufgriffen. Es bot mehrere Vorteile. So erschwerte es dem Feind die Infiltration. Auch musste man sich nicht die peinliche Frage stellen (lassen), warum es der Nazi-Bewegung nicht gelinge, eine Massengefolgschaft aufzubauen. Jetzt konnte man glauben, dass List vermochte, was dem Heroismus versagt blieb. Dies bedeutete keineswegs, dass der Kampf friedlicher würde. Im Gegenteil. Zwar sagte Beam es nirgendwo explizit, aber jedem Kombattanten war klar, dass auch Beam unvermindert Gewalt befürwortete: Sabotage, Überfälle und Mordanschläge, breit gestreut zu verüben, quasi nach dem Schrotschussprinzip. Die Polizei, so Beams Theorie, suchte nun die organisierende Struktur, die das subversive Geschehen leite, fände aber nichts. Währenddessen gingen die Attacken weiter. So würde der »führerlose Widerstand« den Ordnungskräften ein »Aufklärungsdesaster« bereiten. Inzwischen praktizieren Rechtsradikale innerhalb und außerhalb der USA diese Strategie. In Amerika verfahren bestimmte supremazistisch-nationalistisch gesinnte Einzelkämpfer so, die sich den Idealen des zerschlagenen Order verpflichtet fühlen. Ähnlich »führerlos« agieren Combat 18 in England und der Vit Arikst Motstand (»Weißer Arischer Widerstand«), kurz VAM, in Schweden. Einzeln oder in Kleinstgruppen wählen sie kurzfristig ihr Ziel und schlagen zu. Das Fehlen einer formellen Organisation macht die Ermittlung schwierig und lässt den offiziellen Stellen wenig Möglichkeit zu raschen Reaktionen, zu raschen Erfolgen gar. Timothy McVeigh wusste schon, warum er sich von der Michigan Militia löste und nicht als Mitglied einer festen Gruppe, sondern als »einsamer Wolf« handelte.

Auch ein gewisser Harold Covington, geboren 1953, tat sich eine Weile als Führerfigur in der amerikanischen Nazi-Szene hervor. Während der 70er-Jahre wurde er Mitglied der NSPA und hatte dadurch zwangsläufig auch Kontakt zum Ku-Klux-Klan. Unter den prominenteren US-Nazis war Covington einer der reisefreudigsten; so besuchte er immer wieder Gleichgesinnte auf anderen Kontinenten und stand ihnen, wo nötig, mit Rat und Tat zur Verfügung, so in Irland, England, Rhodesien (heute Simbabwe) und Südafrika. Er heiratete eine Irin und erwarb sich eine doppelte Staatsbürgerschaft. 1979 ermordeten in Greensboro/North Carolina, wie bereits berichtet, NSPA-Leute und Klansbrüder fünf linke Aktivisten. Aus Furcht, selbst in Verdacht zu geraten, verließ Covington kurzfristig die USA, bis feststand, dass gegen ihn konkret nichts vorlag. 1980 in die Staaten zurückgekehrt, löste er zunächst einmal Frank Collin als Chef der NSPA ab. Dann bewarb er sich bei den Republikanern um eine Kandidatur für das Amt des attorney general (einer Art Landesjustizminister) von North Carolina. In der parteiinternen Kandidatenwahl erhielt Covington ca. 56.000 Stimmen. 1981 gründete er seinen eigenen Verbund, die Excalibur Society, die auf rassischem, sozialem und ökonomischem Gebiet klassische Nazi-Positionen verfocht. Die Verbindungen zum Klan ließ er nie ganz abreißen; besonders zum international rührigen Klansbruder Sean Maguire, einem strammen IRA-Sympathisanten. Auch Covington spürte in sich die Notwendigkeit, der Welt ein eigenes Mein Kampf zu schenken; so erschien 1987 sein Buch The March up Country (»Der große Marsch landeinwärts«), in dem er seine eigene Vision einer möglichen Machtergreifung der Nazis in Amerika schildert. Sommer 1991 verlegte Covington sein Wirkungsfeld nach Europa. Ein internationales Netzwerk nazistischer Terrorzellen sollte dort entstehen, verbunden durch den gemeinsamen Hass auf die gleichen Feinde und durchs Internet. Covington kontaktierte etwa den schwedischen VAM, dessen Guerilleros ihr Aktionsgebiet inzwischen nach Norwegen und Ostdeutschland ausgeweitet hatten. 1991/92 baute er in England mit den für ihre rechtsradikalen Gewalttaten berüchtigten Gebrüdern Sergent die Terrorgruppe Combat 18 auf. Diese Nazi-Miliz lässt Schwarze Listen mit den Privatadressen von Bürgern kursieren, welche die Organisation als politische Feinde betrachtet: Linke, Grüne, Pazifisten etc. Die solchermaßen erfassten Personen erhalten Morddrohungen oder werden gar von einzelnen Mitgliedern einer Combat-18-Zelle körperlich attackiert.51

Im April 1994 gründete Covington in Chapel Hill/North Carolina die NSWPP neu. Wieder wurde die NSWPP, freilich nur für kurze Zeit, die aktivste Nazi-Partei der USA – zumindest die aktivste jener rechtextremen Verbände, die sich explizit zum Nationalsozialismus bekannten. Für seine weitere politische Tätigkeit wählte sich Covington das Pseudonym »Winston Smith« – so heißt bekanntlich in George Orwells Roman 1984 das Individuum, das gegen den alle Lebensbereiche gleichschaltenden Diktator »Großer Bruder« rebelliert. Als Winston Smith produzierte Harold Covington nun einen beachtlichen Propaganda-Ausstoß, darunter ein Wochenmagazin in Loseblattform namens Resistance (»Widerstand«) und ein tägliches Internet-Bulletin. Landesweit und international wurden per E-Mail und über eine Website umfangreiche Kommunikationsverbindungen geschaffen. Die neue NSWPP griff viele der ursprünglichen Visionen Rockwells auf; man verstand sich als revolutionäre Arierpartei, der es darum gehe, das Überleben der weißen Rasse in Nordamerika zu sichern, und zwar durch die Einrichtung einer souveränen arischen Republik. Die aggressive und hetzerische Attitüde der Publikationen sollte eindeutig frustrierte weiße Wähler gegen eine Regierung mobilisieren, die laut Covington und Konsorten Fremdrassigen ständig mehr Rechte verlieh, um sich an der Macht zu halten. Für den Fall, dass Präsident Clinton noch eine zweite Amtszeit gewährt würde (was durch die Wahlen 1996 dann ja auch geschah), prophezeite Covington »eine schreckliche Zeit der Tyrannei, der Korruption und der Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen auf brasilianisches Niveau«52. Doch wie aus seinem Buch und seinen Wortmeldungen im Internet zweifelsfrei hervorging, glaubte Covington nicht mehr so recht, auf parlamentarischem Wege weiterzukommen. Die Repression des »Systems« habe Dimensionen erreicht, die zum gewaltsamen Widerstand zwängen. Was seien denn die USA von heute? Ein Land, das laufend Quotenregelungen zuungunsten der Weißen erlasse. Ein Land, das neue strafrechtliche Kategorien wie hate crimes (»Hassverbrechen«) ersinne, durch die das robuste Vorgehen Weißer gegen die Anmaßungen Andersrassiger besonders hart geahndet würden. Ein Land, dessen Medien die weiße Identität herabsetze, wo sie nur könnten. Wo derartige Unterdrückung herrsche, müsse man über bewaffneten Kampf nachdenken.53 Konsequenterweise hat Covington inzwischen auch die Leitung der wiederbelebten NSWPP aufgegeben.

Bestimmte einheimische Organisationen der radikalen Rechten konnten sich so wohl nur in den USA entwickeln, der Ku-Klux-Klan etwa oder die Christian Identity insgesamt. Nicht minder autochthon erscheinen Formationen wie die Posse Comitatus (lateinisch für »Streitmacht der Region«), eine Bewegung, welche die Weisungsbefugnis der Washingtoner Zentralregierung schmälern will, oder die Survivalists, ein Verbund, der zivilisationsverächterisch das Überleben (»survival«) in einer von Natur- oder Kriegskatastrophen zerstörten Welt probt. Dagegen wirken amerikanische Nazigruppen wie die NSWPP, die New Order und die National Alliance exotisch und eindeutig unamerikanisch. Die Nazis der USA haben ihre eigene religiöse Doktrin, einen kruden antisemitischen Gut-Böse-Dualismus, den amerikanischen Modernisierungsverlierern als schlichtes Erklärungsmodell für die zweifellos existenten, doch in Wahrheit eben hochkomplexen Probleme angeboten, die Rassenintegration und Masseneinwanderung aus der Dritten Welt mit sich bringen. Antisemitismus war in den Vereinigten Statten aber nie mehrheitsfähig. Die paar integrationsfeindlichen Gruppen, die einigermaßen Resonanz fanden, wie etwa die White Citizens Councils (die »Weißen Bürgerräte«), artikulierten sich dezidiert pro-amerikanisch und keineswegs antisemitisch; mit Nazis wollten sie alle nichts zu tun haben. Dass der typische abstiegsbedrohte Amerikaner zwar Vorbehalte gegen »zu viel« Integration hegt, aber kein Antisemit sein möchte, erklärt vielleicht, warum der amerikanische Neonazismus ein Sektenphänomen blieb. Für einen nennenswerten Erfolg müsste er schon auf Randgruppen des weißen Amerikas zurückgreifen, die sich den Leitwerten der Bevölkerungsmehrheit beträchtlich entfremdet haben und so seine Basis verbreitern; sie würden sich der neubraunen Botschaft vielleicht empfänglicher zeigen. Versucht hat der Neonazismus dies eindeutig, so bei den Skinheads (vgl. Kapitel 10), einer bestimmten Sorte von »Patrioten« (vgl. Kapitel 14) und weißen Strafgefangenen, besonders im Süden.54

 

Ein anderer Anknüpfungspunkt, den die amerikanischen Neonazis nutzen oder gern nutzen würden, ist die Tradition des religiösen Fundamentalismus in den USA. Trat schon Rockwell wie ein glaubensdurchflammter Evangelist auf, so leitete Matt Koehl eine regelrechte Nazi-Kirche. In ihrer sektiererischen Enklave pflegen die amerikanischen Neonazis eine prophetische Religion, die Adolf Hitler nicht weniger als die Rolle Christi und George Rockwell die Position des heiligen Paulus zuweist. Die neubraunen Mystiker spinnen die Analogie sehr weit. Hören wir dazu den Politologen Jim Saleam, der das Kunststück fertigbrachte, gleichzeitig den (amerikanischen) Rechtsextremismus zu erforschen und ihm (in seiner australischen Heimat) ideologisch anzuhängen. Laut Saleam werten die Neonazis »die zwölf Jahre, die Hitler im Amt war, als Zeit der Offenbarung und der Wunder. Der Krieg war die Kreuzigung. Die Swastika [das Hakenkreuz] war das Kreuz, fortan als Symbol ein Talisman gegen das Böse. Die Naziführer waren Hitlers Jünger. Die Nürnberger Prozesse schufen Märtyrer und zwangen den Glauben in die politischen Katakomben. Niemand wagte mehr, Hitlers Namen auszusprechen, aus Furcht vor den Juden. Rockwell jedoch [im Zweiten Weltkrieg noch gegen Hitler aktiv] wurde zum neuen Glauben bekehrt und ausersehen, ihn zu verkünden und für ihn zu werben. Während Hitler nur den Deutschen gepredigt habe, werde Rockwell, so heißt es, alle Nationen bekehren.«55

Rockwells Ermordung durch einen Gefolgsmann vergleicht Saleam natürlich mit dem tödlichen Verrat, den der Jünger Judas an Jesus beging. Matt Koehl wiederum erhält den Part des Petrus als erster Papst einer neuen Kirche, als Bewahrer des rechten Glaubens, der die Schlüssel zum Heil in Händen hält und auch bestimmt, wer aus der einen wahren Partei exkommuniziert wird, und nach welchen Riten. Es gibt tatsächlich strukturelle, wenn nicht, vom Theologischen her, auch inhaltliche Parallelen zwischen der Frohen Botschaft des Christentums und dem rassistischen Evangelium des Neonazismus. Beide haben sie einen starken eschatologischen Zug, und beide zählen sie auf einen Messias, der alles richten wird. Es dürfte angesichts dieser Ähnlichkeiten nicht verwundern, dass, wo christlicher Fundamentalismus seine Prägekraft entfalten konnte, die Erlösungslehre der Neubraunen leichter Eingang findet, zumindest bei Einzelnen.

George Lincoln Rockwell war nicht der Erste, der in den USA mit nazieskem Gedankengut hausierte. Bereits während der 30er-Jahre gab es Gruppen, die sich patriotisch, aber prodeutsch artikulierten und Appeasement-Politik predigten. Rockwell und seine Erben übernahmen Antisemitismus und Ultranationalismus, fügten allerdings ein paar aktuelle Programmpunkte hinzu, so den von der Logik des Kalten Kriegs vorgegebenen Kampf gegen den Kommunismus. Seit dem Verschwinden des Ostblocks spielt der keine große Rolle mehr; jetzt streitet man eher gegen die »Anmaßung« der Zentralregierung in Washington, die Lebensverhältnisse in allen Bundesstaaten gleichzuschalten, oder gegen die »Neue Weltordnung«, die laut neonazistischen Verschwörungstheorien einflussreiche und international verflochtene Geheimgesellschaften errichten wollen. Doch bei allen Modifikationen: Es überwiegen doch die Kontinuitäten; die Neonazis unserer Tage sehen sich durchaus dem verpflichtet, wofür ihre geistigen Vorgänger kämpften, von denen sie einzelne gar verklären. Diese Kontinuität zeigt sich besonders in drei Bereichen. Erstens: Wie eh und je verfechten die Neonazis die Überlegenheit der weißen Rasse und Hass gegen Schwarze und sonstige Andersfarbige. Unter dem aktuellen Kampfruf »Weiße Identität« erstrebt man die Rücknahme aller Gesetze für mehr Chancengleichheit, die unter dem Eindruck der Bürgerrechtsbewegung seit den 60er-Jahren erlassen wurden. Zweitens: Die Neonazis bekennen sich besonders entschieden zum Antisemitismus. Sie wollen durch einen Krieg gegen das Judentum in Amerika und in der Welt erreichen, was den 1945 geschlagenen Ur-Braunen versagt geblieben war: die Vollendung des Holocaust. Drittens: Am meisten kennzeichnet die neuen Nazi-Sekten wohl der quasi-religiöse Kult um Adolf Hitler. Sie werten ihn auf zum Retter der weißen, westlichen Welt. In allen Nazi-Gruppen wird Hitlers Geburtstag feierlich begangen; er ist das höchste Fest ihres Kalenders. An diesem Tag holen Hitlers späte Jünger die das restliche Jahr über sorgfältig verborgenen Nazi-Reliquien und -Devotionalien aus den Verstecken und stellen sie in eigens dafür bestimmten Schreinen zur Schau. Sowohl in Outfit und Gebaren als auch in Symbolbräuchen und Mythologie gleicht der amerikanische Nazismus einer verfolgten religiösen Sekte, die sich bereit macht zum militanten Kampf gegen eine dem Bösen verfallene Welt.