Im Schatten der Schwarzen Sonne

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Schon seit einiger Zeit gab es Bestrebungen, den amerikanischen Neonazismus nach Europa zu reexportieren. Mitte der 60er-Jahre hatte die WUNS es versucht; jetzt übernahm die Aufgabe ein weiterer Nebenspross der Rockwell’schen Organisation, die National Socialist Party of America, kurz NSPA. Gegründet wurde sie 1970 von dem Chicagoer Neonazi Frank Collin, geboren 1944, zuerst Mitglied der NSWPP, von dieser aber ausgeschlossen, als bekannt wurde, dass er einen jüdischen Vater hatte – ein Umstand, der ihn freilich auch künftig nicht daran hinderte, sich furios antisemitisch zu äußern und zu betätigen. In den späten 70er-Jahren erregte die NSPA durch krawallträchtige Demonstrationen Aufsehen. Besondere Publizität wurde ihr 1977 zuteil, als sie ihre militante Parade ausgerechnet in Skokie, einem Chicagoer Vorort mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil, abhalten wollte, wozu es bekanntlich nicht kam. Die NSPA hatte enge Verbindungen zum Ku-Klux-Klan und beteiligte sich an einigen ihrer gewalttätigen Aktivitäten. Als ein paar Klansleute 1979 während einer Veranstaltung ihres Bundes in Greensboro/North Carolina linke Gegendemonstranten ermordeten, waren NSPA-Mitglieder ebenso beteiligt wie 1981, als eine paramilitärische Unterformation des Ku-Klux-Klan auf der Karibikinsel Dominica per Invasion dem soeben wegen Korruption abgewählten Präsidenten Patrick John wieder in den Sattel helfen wollten und scheiterten.35

Ihre eigentliche Bedeutung innerhalb der Internationalisierung des amerikanischen Neonazismus erlangte die NSPA jedoch durch ihre materielle und logistische Unterstützung für einen neubraunen Verbund, der in Deutschland und Österreich agiert, aber von Amerika aus gesteuert wird: die NSDAP Ausland- und Aufbauorganisation, kurz NSDAP-AO. Das leitende Personal: überwiegend amerikanische Staatsbürger deutscher Abstammung. Zu ihnen gehört auch Gerhard (Gary) Lauck aus Wisconsin, geboren 1953, der die NSDAP-AO 1973 in Westdeutschland gründete. 1974 wurde Lauck von der Bonner Regierung ausgewiesen, woraufhin die Gruppe ihre Operationsbasis in die USA verlegte, und zwar nach Arlington/Virginia, wo nicht nur die WUNS, sondern ebenso die von Matt Koehl geführte NSWPP ihr Hauptquartier hatte. Auch empfingen Lauck und die Seinen finanzielle Zuwendungen von diversen amerikanischen Neonazi-Vereinigungen. Später tat sich die NSDAP-AO mit der NSPA zusammen; heute haben beide ihre Zentrale in Lincoln/Nebraska. Ursprünglich waren die Aktivitäten der NSDAP-AO auf Deutschland fixiert; deutschstämmige Amerikaner kamen in die »Heimat ihrer Väter«, um für die Wiederzulassung der alten NSDAP zu kämpfen. In den letzten zwanzig Jahren hat Lauck jedoch dramatisch expandiert und führt mittlerweile fast ein weltumspannendes Unternehmen. Das gemeinsam mit der NSPA herausgegebene Monatsmagazin New Order erscheint in Englisch, Deutsch, Schwedisch, Ungarisch, Französisch, Niederländisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch und Dänisch. Die amerikanische Bürgerrechtskommission (U.S. Commission on Civil Rights) nannte die NSDAP-AO einen der »führenden Lieferanten von Propagandamaterial für Neonazis«, wozu Schrifttum und Aufkleber genauso gehören wie Outfit, Fahnen und Plakate.

Das Hauptziel der Lauck’schen Organisation bleibt aber die Unterstützung der Neonazis in Deutschland, die innerhalb eines juristisch sehr verengten Rahmens operieren müssen. Auch und gerade die medial-publizistischen Anstrengungen fokussieren sich auf die »alte Heimat«, wo die NSDAP-AO eigenen Angaben zufolge zahlreiche geheime Mitglieder und Sympathisanten hat. So veröffentlicht sie für das deutsche Publikum zusätzlich die Zeitschrift NS Kampfruf und produziert Tausende Flugblätter, Broschüren und Aufkleber mit Nazi-Parolen und -Symbolen zur illegalen Verbreitung. Die Organisation dehnte während der 80er-Jahre ihre Aktivitäten nach Österreich und Skandinavien aus. Im Mai 1995 wurde Gary Lauck in Dänemark verhaftet. Später verurteilte ihn ein deutsches Gericht wegen Verbreitung neonazistischen Schrifttums zu vier Jahren Gefängnis. Laucks vorübergehende Absenz brachte die Propagandatätigkeit seiner Neurechten aber keineswegs zum Erliegen, was sie nicht zuletzt der Rührigkeit der NSPA verdanken, die sich im Laufe der Zeit vom großzügigen Förderer zur Hilfstruppe der NSDAP-AO wandelte.

Ein der letztgenannten vergleichbares Phänomen im propagandistisch-publizistischen Bereich sind die Liberty Bell Publications (»Verlag Freiheitsglocke«) des Deutsch-Amerikaners George P. Dietz in Reedy/West Virginia. Dietz, während des Dritten Reiches Hitlerjunge, emi­grierte 1957 in die USA und wurde Makler für Landimmobilien, was ihm die finanzielle Grundlage für seine Propagandafirma lieferte. In deren Angebot findet sich antisemitisches und naziverherrlichendes Schrifttum sowie in Taiwan neu produzierte NSDAP- und andere Abzeichen mit »Hoheitssymbol«. Der Verlag veröffentlicht zudem ein eigenes Magazin, betitelt Liberty Bell, sowie ein Indoktrinationsblatt für den deutschsprachigen Neubraunen, Der Schulungsbrief genannt – eine bewusste Anspielung auf das gleichnamige Periodikum, mit der einst die originale NSDAP ihre Funktionäre instruierte.

Der zweite bedeutsame Verbund, der sich nach Rockwells Tod aus den Überbleibseln der NSWPP rekrutierte, war die National Alliance, zu Beginn der 70er-Jahre gegründet und geführt von William Pierce, dem ehemaligen Herausgeber des WUNS-Hausblatts National Socialist World. Pierce blieb nun für gut dreißig Jahre der regsamste neonazistische Organisator und Medienaktivist der USA. Er veröffentlichte den skandalträchtigen, weil Rassenkrieg predigenden Roman The Turner Diaries (»Die Turner-Tagebücher«), der ein wahres Kultbuch der rechten Szene wurde. Er betrieb eine eigene Radiostation mit regelmäßigem Programm. Er knüpfte internationale Bande, indem er sich mit den Führern der wichtigsten nationalistischen Parteien Europas traf. Er förderte sogar die Jugendkultur (in seinem Sinne), indem er mit der Plattenfirma Resistance Records der sogenannten white power music, also rassistisch betexteter Pop- und Rockmusik, ein Wirkungsfeld bot. Über die Rolle des »Hausintellektuellen« der neuen amerikanischen Rechten ist William Luther Pierce also längst hinausgewachsen.

Bei der Entstehung der National Alliance spielten neben Pierce noch zwei weitere Gestalten des rechten Spektrums eine mehr oder weniger freiwillige Rolle: Willis Carto und George Wallace. Carto, geboren 1926, Publizist und rechtspopulistischer Sektierer mit Hang zur Esoterik, gründete 1955 den zwischen US-chauvinistischem und nationalsozialistischem Gedankengut schwankenden Verbund Liberty Lobby und betrieb einschlägige Zeitschriften. Der Zweitgenannte gelangte zu erheblich mehr Prominenz: George Wallace (1919-1998), ein echter Vollblutpolitiker, Exponent des konservativen Flügels der Demokratischen Partei. Der langjährige Gouverneur von Alabama wurde Mitte der 60er-Jahre zum Hoffnungsträger der amerikanischen Rechten, denn er verfocht nicht nur entschieden die Rassentrennung, sondern er hatte auch gar nicht so schlechte Aussichten, die höchste Machtposition zu erklimmen. Bereits 1964 hatte Wallace sich an den Präsidentschaftswahlen beteiligt und immerhin einige Achtungserfolge errungen. Als er es vier Jahre später erneut versuchte – freilich aus taktischen Motiven nicht für die Demokraten, sondern »auf eigene Rechnung« –, gründete Willis Carto den Wahlverein Youth for Wallace (»Jugend für Wallace«). Der solchermaßen Unterstützte scheiterte zwar, doch wollte Carto die einmal versammelte Manpower weiter nutzen und bildete aus dieser die National Youth Alliance, kurz NYA. Sie sollte an den Universitäten linksradikale Studentengruppen bekämpfen und für rechtsradikale Ideen werben. Allgemeingesellschaftlich predigte sie law and order und engagierte sich gegen Strömungen wie Black Power und die Hippies, namentlich gegen deren Drogenkultur. Bald legten sie bei der Artikulation ihrer Aversionen jegliche Mäßigung ab und äußerten sich offen schwarzenfeindlich und antisemitisch, wodurch einige Neonazis sie als Brüder im Geiste erkannten, so William Pierce und andere NSWPP-Aktivisten. 1970 konnte die NYA Pierce zum Übertritt bewegen. Doch die Harmonie währte nur kurz. Bereits im Frühjahr 1971 spaltete sich der Verbund: Die eine Fraktion blieb bei Carto und firmierte fortan unter Youth Action; die andere folgte Pierce und nannte sich (seit 1974) schlicht National Alliance. Pierce baute seine »Allianz« rasch zu einer neuen schlagkräftigen Nazi-Organisation aus; das ideologische Rüstzeug lieferten er und ein paar Co-Autoren in dem Periodikum National Vanguard (»Nationale Vorhut«), dem früheren Attack! (»Zum Angriff!«). Das Blatt erschien 1970-82 als Zeitung, danach als Magazin. Wie schon in seinen Editorials für die WUNS-Postille beschwor er auch in seinen National-Vanguard-Leitartikeln die Gefahr einer jüdischen Weltverschwörung, welche die weiße Rasse durch Sozialismus, Black Power, Bankenwesen und Rassenvermischung zerstören wolle.36

Das Hauptquartier der National Alliance entstand in Washington, von wo aus William Pierce mit allen wichtigen Personen und Formationen der extremen Rechten Amerikas intensive Kommunikation pflegte. Überall in den USA lasen Neonazis begeistert die National Vanguard. Kaum weniger fleißig knüpfte man Verbindungen zu ausländischen Gesinnungsgenossen. John Tyndall, damals Führer der britischen National Front, besuchte Pierce 1979. Kontakt gab es auch zu anderen britischen Gruppen, so zu der National Party, der kurzlebigen National-Front-Abspaltung und der League of Saint George (»Sankt-Georg-Liga«). Besonders aufmerksam verfolgte Pierce aber nach wie vor Tyndalls Aktivitäten, dessen neue Organisation British National Party während der 90er-Jahre namentlich im kommunalen Bereich nicht unerhebliche Wählerresonanz erntete. Im November 1995 kam Pierce zur Jahreskundgebung der British National Party nach London.

 

Als zu Beginn der 80er-Jahre der schwarze Bevölkerungsanteil in Washington immer kräftiger stieg, wurde es Pierce offenbar mulmig, und er rückte sein Hauptquartier lieber etwas weiter weg. Er kaufte ein über anderthalb Quadratkilometer großes Anwesen nahe Hillsboro/West Virginia, einem entlegenen Dorf in den Appalachen. Dort entstand die neue Zufluchtsstätte, umwehrt mit einem hohen Stacheldrahtzaun. In der Bergeinsamkeit gründete William Luther Pierce einen Verlag, National Vanguard Books, benannt nach dem gleichnamigen Magazin, in dem der Chef und die Seinen unverändert die »rechte« Sicht der Dinge zu vermitteln trachten. Ferner betreibt Pierce von Hillsboro aus einen großen Buchversand. Im Sortiment: bestimmte respektable Werke der abendländischen Kultur, denen man sich (warum und mit welchem Recht auch immer) gedanklich nahe fühlt, dazu heidnisches und neuheidnisches Schrifttum (vieles davon in Penguin-Classics-Ausgaben). Und natürlich jede Menge rechte Programmliteratur aller Art und aller Niveaus: Sachbücher ebenso wie Belletristisches, platte Agitation ebenso wie »Philosophisches« oder gar »Religiöses«. Denn eine Hausphilosophie, ja Hausreligion leistet man sich ebenfalls, den Kosmotheismus. Eigentlich, wollen uns Pierce & Co. weismachen, sei man ja wesentlich mehr als ein Verlag, mehr selbst als ein politischer Verband – nämlich eine religiöse Vereinigung, eine Kirche; konsequent nennt Pierce den Gebäudekomplex, der seine Firma beherbergt, Cosmotheist Church und hat ihn statt mit einem Kreuz mit der altgermanischen »Lebensrune« schmücken lassen, die einem Ypsilon ähnelt, dessen Mittelstrich bis in den V-förmigen Winkel oben verlängert ist und die Schöpfungs- und Lebenskraft symbolisiert. Den Begriff des »Kosmotheismus« hat Pierce nicht erfunden; er wurde von der abendländischen Religionswissenschaft geprägt, um die Weltanschauung bestimmter fernöstlicher Religionen, besonders des Hinduismus, zu charakterisieren. Kosmotheismus heißt: Gott und Welt sind eins; die Welt ist nicht das willentliche Werk eines ihr äußerlichen persönlichen Schöpfergottes, sondern der Akt einer ihr innewohnenden schöpfenden und ordnenden Kraft, eines ewigen Weltgesetzes. Pierce lehnt sich an hinduistische Vorstellungen an, die er freilich fast nur in der Interpretation der Wahl-Hinduistin Savitri Devi kennt. Das höchste Ziel der Weltentwicklung, zitiert Pierce den weiblichen Guru in seinem Hausblatt, sei die Entfaltung »jener geheimnisvollen und unfehlbaren Weisheit, nach der die Natur lebt und schafft, der unpersönlichen Weisheit des Urwalds, der Tiefen des Ozeans und der Sphären in den dunklen Gefilden des Universums«. Pierce lädt nun den Kosmotheismus mit pan-arischem Rassismus auf. Jeder Rasse und jeder Art, so Pierce, sei innerhalb des großen Ganzen eine spezifische Rolle zugewiesen. Der Neger etwa könne nur als Müßiggänger agieren, der Jude nur als Ferment des Verfalls; der Weiße aber trage den Göttlichen Funken in sich, der ihn führe und aufwärts treibe, dem Allerhöchsten Schöpfer entgegen. Dieser bilde beim Weißen einen integralen Teil des eigenen Seins, den er durch Selbstvervollkommnung entwickeln müsse.37 Der neonazistische Chefideologe greift bei seinem Konstrukt zusätzlich auf Platons Ideen- und Seelenlehre zurück, derzufolge ein Menschentum, welches das Seelisch-Ideelle, das letztlich Unsterbliche in sich ausbilde, edler sei als eines, das dem Stofflich-Körperlichen verhaftet bleibe. Zum edlen Menschentum bzw. zur Gottwerdung hätten, so behauptet Pierce nun, nicht alle Rassen Zugang, sondern eben nur die Arier. In solchen Gedanken hallt die Ariosophie der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg wider, wie sie besonders Lanz von Liebenfels kultivierte.

Pierces rassistischer Imagination wohnt der messianische Anspruch inne, durch eine Enklave weißer Herrschaft in den Appalachen die arische Rasse zu retten. Rettung des Ariertums – hier berührt sich seine Gedankenwelt mit jener rechtsextremen Grundströmung, die ihren Supremazismus religiös verbrämt und die gemeinhin unter dem Sammelbegriff Christian Identity zusammengefasst wird (vgl. Einleitung). »Christliche Identität« bedeutet in diesem Kontext: christlich, weiß und allen anderen Religionen, Weltanschauungen und Rassen gegenüber feindlich gesinnt. Wesentlich geht die seltsame Glaubensrichtung auf eine fundamentalistische christliche Bewegung im England des späten 19. Jahrhunderts zurück, den Anglo-Israelism, auch British Israelism genannt. Wie die Christian Identity war dieser keine fest strukturierte Organisation, sondern lediglich ein loser Verbund Gleichgesinnter. Den Angelsachsen, so behauptete der Anglo-Israelismus, komme der Status eines auserwählten Volkes zu, denn sie seien die Nachfahren der zehn verlorenen Stämme Israels, von denen das Alte Testament künde. Dazu ein kurzer Blick in die biblische Geschichte. Nach dem Tod König Salomos 926 v. Chr. teilte sich das Volk Israel in zwei Reiche: das Reich Israel im Norden (mit zehn Stämmen) und das Reich Juda (mit zwei Stämmen und der Hauptstadt Jerusalem). 722 v. Chr. nun eroberten die Assyrer das Nordreich; die Bewohner wurden umgesiedelt oder vertrieben. Die beiden Stämme im Reiche Juda lebten als Juden fort, die verstreuten Stämme des Nordreiches dagegen gingen in anderen Völkerschaften auf. Hier setzt die Mythenbildung der Anglo-Israeliten ein: Die verlorenen Stämme seien bis nach Nordwesteuropa gezogen, und die heutigen Briten stammen von ihnen ab. Die Angelsachsen seien die alleinigen Erben der Verheißungen des Alten Testaments; die Juden hätten diese verwirkt, weil sie die zehn nördlichen Stämme einst im Stich gelassen hätten. Zwar reklamierten die Anglo-Israeliten damit recht unbescheiden die Auserwähltheit für die eigene Rasse, zeigten aber wenig bis keine Ressentiments gegenüber den Juden. Ihre geistigen Nachfahren in den USA legten sich da weniger Zurückhaltung auf. Spätestens um 1930 herum setzte sich beim amerikanischen Zweig der Anglo-Israeliten eine grimmige antisemitische Theologie durch, welche die Juden zu eingefleischten Feinden der arischen Rasse in Amerika erklärte. Die angelsächsischen Amerikaner müssten endlich ihre wahre Identität erkennen: Sie seien Muster-Arier und obendrein Abkömmlinge eines biblischen Heldenvolkes, denen die Führung der Welt gebühre; so wurde »Identität« zum Lieblingsschlagwort jener merkwürdigen politisch-religiösen Zwitterbewegung, die seit den frühen Siebzigern von Beteiligten wie von Beobachtern Christian Identity (oft auch kurz »Identity«) genannt wird. Wie schon der Anglo-Israelismus ist auch die Identity nicht straff durchformiert, hat keinen Dachverband, sondern besteht aus mehreren lose kooperierenden Gruppen. Zu den profiliertesten gehört die Church of Jesus Christ Christian, d.h. die »Kirche Jesu Christi des Christen«. Die befremdliche Wortfügung will betonen, dass Jesus keineswegs Jude gewesen sei, sondern eben ein Christ im Sinne der Christian Identity: ein Weißer, ein Arier, ein Nachfahr der verlorenen Stämme Israels. Neben diesem Bund wären zu erwähnen die Aryan Nations, die Church of Christ sowie die New Christian Crusade Church (»Kirche für einen neuen christlichen Kreuzzug«), inzwischen aufgegangen in der Christian Defense League (»Christliche Verteidigungsliga«) des ehemaligen Rockwell-Gefolgsmanns James Warner. Aryan Nations fordert die Errichtung eines Schutzgebietes für Weiße, besser noch eines souveränen weißen Staates im Nordwesten der USA am Pazifik. Zwischen den einzelnen Gruppierungen der Christian Identity mag es Nuancen geben, doch es eint sie alle ein bestimmtes Überzeugungsmuster: Die Weißen, darunter besonders die Briten, sind die Auserwählten Gottes, berufen zur Herrschaft; hinter allen Andersartigen und Andersmeinenden stecken Dämonen; die Weltgeschichte läuft unvermeidlich zu auf die Endschlacht der Arier gegen die zionistisch gesteuerten Mächte der Finsternis, einen Kampf, den, damit die Welt gerettet werde, erstere gewinnen müssen.38

William Pierce ist selbst kein Anhänger oder Unterstützer der Christian Identity (wohl, weil nicht Christ genug), aber gemein hat er mit jenen radikalen Sekten immerhin den Glauben an die Auserwähltheit der Arier und ein bevorstehendes Armageddon wider das jüdisch dominierte politische Establishment. Das beweist nicht zuletzt Pierces Versuch, die eigenen rechtsextremen Überzeugungen literarisch umzusetzen, nämlich sein Roman The Turner Diaries (»Die Turner-Tagebücher«), erschienen 1978. Das Buch, bald ein wahrer Untergrund-Bestseller, imaginiert, wie das erwähnte Armageddon verlaufen könnte. Erzählt wird aus der Sicht eines führend Beteiligten im Stile eines Augenzeugenberichtes. Und was wird erzählt? Ein in naher Zukunft stattfindender Kampf weißer Revolutionäre gegen den amerikanischen Staat, hier verächtlich »das System« genannt, an dessen Spitze eine korrupte und unterdrückerische US-Regierung steht, gelenkt von Liberalen, Juden, Schwarzen und anderen Minderheiten. Mit Antirassismus- und Gleichstellungspolitik sichern sich diese Gruppen ihre Macht. Da beschließt ein junger weißer Patriot aus Los Angeles, Earl Turner, seines Zeichens Elektromechaniker, dass es so nicht weitergehen könne. Er gründet mit ein paar Kombattanten eine subversive Organisation, welche schlicht »Organisation« heißt. Packend schildert der Roman deren Widerstandstätigkeit. Einer ihrer ersten Aktionen: Als die Regierung scharf gegen privaten Waffenbesitz vorgeht, bunkern die Verschwörer tonnenweise Schießeisen und üben sich schon einmal eifrig in deren Gebrauch. Die Regierung erlässt weitere Maßnahmen, die eine vollständige Rassenintegration ermöglichen sollen – immer stärker auf Kosten der Weißen. Dies treibt Turner und seine Kameraden zur Militanz. Erbittert verfolgt von der verhassten »Rassengleichheitspolizei«, schlagen sie mit zahlreichen Sabotageakten und Attentaten zurück. Die Revolte eskaliert; ein beispielloses Blutvergießen erschüttert die USA.

Die Fehde zwischen der Turner-Guerilla und dem »System« steigert sich zum Bürgerkrieg. Immer wieder meutern lokale Einheiten des Militärs und laufen garnisonenweise zu den Rebellen über. Als ein militärischer Angriff auf Los Angeles gelingt, gibt es kein Halten mehr. Im »befreiten« Terrain vollzieht man drakonische Rassentrennung; alle Farbigen und Latinos werden in Lagern gesammelt und dann umgesiedelt. So entsteht in Südkalifornien eine weiße Enklave, die man als Aktionsbasis für die Eroberung des gesamten Landes nutzt. Der Roman schwelgt in der Beschreibung der Zerstörungsorgien und des Massenmetzeleien, die den Feldzug der weißen Revolutionäre begleiten. Täglich strömen ihnen neue Kräfte zu; weitere Städte fallen. Die »Organisation« führt einen gnadenlosen Zermürbungskrieg gegen das jüdisch dominierte multikulturelle Establishment, deren Vertreter sich in Washington und New York verschanzen. Inzwischen haben die Insurgenten ihr Waffenarsenal beträchtlich erweitert. Atombomben verwüsten Miami, Charleston, Detroit und New York. Nuklearraketen treffen Ziele in Israel und der Sowjetunion. Allein in den USA sterben bei den Kämpfen über 60 Millionen Menschen. Vorzivilisatorische Zustände brechen in den Staaten aus; fünf »dunkle Jahre« währt die barbarische Periode des Übergangs, bis die Helden endlich, Anfang 1999, die endgültige Befreiung Nordamerikas verkünden können.

Die Turner Diaries scheinen auf den ersten Blick eine inneramerikanische Angelegenheit zu behandeln: Amerikanische Bürger erheben sich wider eine schlechte amerikanische Regierung. Geschildert werden eine weiße Revolution gegen die (angebliche) Fremdbestimmung der USA durch das Judentum und eine große ethnische Säuberung, die Schwarze, Latinos und andere Farbige aus den Vereinigten Staaten entfernt. Betrachtet man aber Zielrichtung und Modus procedendi der Kämpfer genauer, bemerkt man bald die Vorbilder aus Übersee. Gar zu deutlich ist William Pierce, der Szenarist dieses Aufstandes, inspiriert von der Rassenpolitik der Nazis, besonders von ihrer Praxis der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg. Ein paar Exempel: Die »Organisation« warnt in öffentlichen Bekanntmachungen, dass jeder, der wissentlich Juden oder andere Nichtarier beherberge und so deren Deportation verhindere, gravierende Konsequenzen zu gewärtigen habe. Während die reinrassigen Schwarzen kollektiv in die noch vom System kontrollierten Gebiete abgeschoben werden, führt man Juden und Mischlinge zur Massenhinrichtung in einen Canyon bei Los Angeles – die Ähnlichkeit mit gewissen Vorgängen 1941, als deutsches Militär am Rande der Schlucht von Babij Jar bei Kiew über 30.000 ukrainische Juden ermordete, ist beabsichtigt. Um der Zivilbevölkerung in der kalifornischen Enklave Rassetugend einzubläuen, greift man zum terroristischen Mittel der Lynchjustiz: An nur einem einzigen Tag werden 60.000 Antirassisten gehängt, darunter führende Politiker der vorigen Regierung, Rechtsanwälte, Medienleute, Lehrer und Priester. Die Opfer tragen Schilder mit der Aufschrift: »Ich habe meine Rasse verraten«. Nur bei Frauen, die mit nichtarischen Partnern zusammenlebten, lautet der Schmähsatz anders, nämlich: »Ich habe meine Rasse geschändet«. Der Werdegang der »Organisation« von einem kleinen Grüppchen zur Volksbewegung erinnert an den Aufstieg der NSDAP in der Weimarer Republik. Die innere Elite der »Organisation« heißt The Order, »der Orden« – wieder eine Reminiszenz, denn als »Orden« verstand sich auch die SS. Die arische Revolution will die umfassende Mission vollenden, die ihre Vorgänger 1945 unfertig hatten liegenlassen müssen - einschließlich des Holocaust. Jetzt endlich, so wird gegen Ende des Romans gejubelt, sei »der Traum von einer weißen Welt« verwirklicht, jetzt, 1999, »genau 110 Jahre nach der Geburt des Großen, der uns einst den Weg wies«.39 Gemeint ist – wer hätte es nicht geahnt – Adolf Hitler.

 

Der Traum von einer weißen Welt? Ja, die weiße Revolution hat laut den letzten Seiten des Turner’schen Tagebuchs durchaus globale Perspektiven. Nach einer Atomraketenattacke der »Organisation« auf Israel überrennen die Araber den Judenstaat, und überall in Europa und der Sowjetunion kommt es zu antisemitischen Ausschreitungen. Der Triumph der Arier bleibt nicht auf Amerika beschränkt. Längst hat sich die »Organisation« auch in Europa formiert, das unter einer schweren Wirtschaftskrise leidet; sie treibt den Revolutionären scharenweise Sympathisanten zu. Binnen kurzer Frist übernehmen sie auch in Europa die Macht.

»Diese Übernahme«, berichtet der Epilog, »erfolgte im Sommer und Herbst 1999 in einem gewaltigen, europaweiten Umsturz. Er kam wie ein reinigender Wirbelsturm, der den Kontinent durchfegte und dabei alles wendete, alles säuberte und den ganzen Ballast der Vergangenheit wegblies, darunter über tausend Jahre wesensfremde Ideologie, über hundert Jahre tiefstgreifende Dekadenz an Seele, Geist und Körper. Knöchelhoch floss zuweilen das Blut in den Straßen so mancher großen Stadt Europas, als die Verräter der eigenen Rasse, die Brut artwidriger Paarungen und ganze Horden von Gastarbeitern ein gemeinsames Schicksal ereilte. Dann war die lange Nacht zu Ende, und die helle Morgenröte der Neuen Ära strahlte über die westliche Welt.«40

Bald leistet nur noch China Widerstand. Auch kein wirkliches Problem: Greift man eben auf die alte Taktik der »verbrannten Erde« zurück. Das Reich der Mitte wird in einem desaströsen Feldzug vernichtet, bei dem chemische, biologische und radiologische Waffen zum Einsatz kommen. So entsteht in Asien die »Große Ostwüste«, sie sich über mehr als 40 Millionen Quadratkilometer vom Ural bis zum Pazifik und von der Arktis bis zum Indischen Ozean erstreckt.

Wie Pierce seine rassistischen Imaginationen und antisemitischen Zwangsvorstellungen zu einer millenaristischen Utopie aufbläst, indem ein neuer Nationalsozialismus von den USA aus die Weltherrschaft erobert, ist einzigartig. In dem paranoid verzerrten Bild, das er von der liberalen, demokratischen Gegenwartsgesellschaft entwirft, von der unausweichlichen Apokalypse, die ihr bevorstehe, und von ihrer Ab- und Erlösung durch ein weißes Gewaltregime, glüht eine Inbrunst, die jener religiöser Fundamentalisten doch stark ähnelt. Dem Roman ist das Vorwort eines fiktiven Herausgebers beigefügt, verfasst, so heißt es, ein Jahrhundert nach den Geschehnissen, die das Buch berichtet. Dieser Einleitung zufolge ist Earl Turner im Jahre 43 b.n.e. (»before new era«, d.h. »vor der Neuen Ära«) geboren, gemäß »alter« Zeitrechnung also anno 1956, und zwar in Los Angeles. Auf dem Territorium dieser im Krieg zerstörten Metropole, erklärt der Schreiber, erstreckten sich heute die Gemeinden Eckartsville und Wesselton. Erstere ist benannt nach Hitlers ideologischem Mentor Dietrich Eckart, Letztere nach dem SA-Mann Horst Wessel, dem Dichter der Parteihymne »Die Fahne hoch«, 1930 von einem Kommunisten erschossen und dadurch einer der prominentesten Märtyrer der NS-Bewegung.41 Bereits während der bescheidenen Anfangserfolge der »Organisation« in Kalifornien stellt Turner klar, mit welchem Ziel und welchen Mitteln die weiße Revolution zu kämpfen gedenke: »Wir schmieden jetzt die Basis für eine neue Gesellschaft, ja, eine ganz neue Zivilisation, die sich aus der Asche der alten erheben soll.« Eine »Gesellschaft, die durch jüdisches Wesen und Wirken geistig völlig verdorben ist«, könne nun einmal nicht friedlich in eine Gesellschaft umgewandelt werden, die »auf uralten arischen Werten und einer arischen Weltanschauung aufbaut«42.

Die wie von einer prophetisch-religiösen Aura umstrahlt daherkommende Vision einer nationalsozialistischen Weltherrschaft brachte den Turner Diaries international eine breite Leserschaft im rechten Untergrund. Bei amerikanischen und europäischen Neonazis zirkuliert das Machwerk unaufhaltsam, gilt sogar schon als eine Art modernes Mein Kampf. In den 80er-Jahren bot die britische National Front den Roman an ihren Büchertischen feil; und er hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die jüngste Entwicklung des rechtsradikalen Terrorismus in Großbritannien (vgl. Kapitel 2).

Die Befürchtung, irgendwelche Irregeleitete in den USA könnten versuchen, Pierces apokalyptische Imaginationen in die Tat umzusetzen, bewahrheitete sich allzu bald. Im September 1983 formierte sich in Metaline Falls/Washington die militante rassistische Sekte The Order (»Der Orden«), die als Silent Brotherhood (»Schweigende Brüderschaft«) auftrat, gelegentlich gar, wohl implizit auf das Herkunftsland ihrer Vorbilder verweisend, unter dem deutschen Namen Brüder Schweigen (auch, leicht verballhornt: Bruders Schweigen). Gegründet hat den terroristischen Verband der Ex-Mormone Robert Jay Mathews (geboren 1953), der zu dem Zeitpunkt bereits vielerlei Aktivitäten im rechtsextremen Spektrum hinter sich hatte. Mathews plante den Aufbau einer kleinen, aber schlagkräftigen Zelle, die gewillt und befähigt sein sollte, das »Zionistische Besatzungsregime« – original: »Zionist Occupation Gouvernment«, kurz ZOG –, das derzeit in den USA bestimme, zu attackieren und zu stürzen. Eifrig sammelte er Geld für eine Guerilla, die gezielte Schläge gegen den verhassten Staat verüben sollte, die dann wiederum, so Mathews’ Erwartung, zu Massenrevolten unter der weißen Bevölkerung führen würden. Wie in den Turner Diaries eben. Fast alles, was The Order in der kurzen Zeit ihres Bestehens vollführte, imitierte einzelne Aktionen der fiktiven »Organisation«. So betrieb man Banknotenfälscherei in großem Stil und bewaffneten Raub. Im Juli 1984 etwa erbeuteten Mathews’ Leute bei einem Überfall auf einen Geldtransporter der bekannten Sicherheitsfirma Brinks im kalifornischen Ukiah 3,8 Millionen Dollar. Andere Attacken kosteten Menschenleben. Im Juni 1984 erschossen Mitglieder des Order den jüdischen Radiomoderator Alan Berg, bekannt für seine aggressiv-polemischen Kommentare über Rechtsextreme. Auch Mathews selbst fand ein gewaltsames Ende. FBI-Beamte stellten ihn im Dezember 1984 in seinem Versteck nahe Coupeville/Washington auf der Whidbey-Insel (amerikanische Nordwestküste). Beim Versuch der Beamten, den Chefterroristen zu verhaften, entspann sich ein Feuergefecht, in dessen Verlauf er zu Tode kam. Die übrigen Mitglieder des Order wurden 1985 und 1986 festgenommen.43