Im Schatten der Schwarzen Sonne

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Im Vedanta der Hindus findet Guénon die ewige transzendentale Wahrheit der Tradition primordiale eingeschreint. Spuren davon, meint er, gebe es aber auch im Islam und im Katholizismus – freilich nur im authentischen, und das heißt für Guénon: im mittelalterlichen. Das moderne Abendland jedenfalls habe fast jede Verbindung zur »Tradition« verloren. In seiner tief pessimistischen Schrift La crise du monde moderne (»Die Krise der modernen Welt«, 1927), fraglos eines der Evangelien des neueren Antimodernismus, schildert Guénon die Entwicklung des Westens nach dem Ende des Mittelalters als die Geschichte eines geistigen Verfalls. Er interpretiert die Zeitläufte so: Der Materialismus hat alle Lebensbereiche erfasst. Kunst und Kultur drehen sich nur noch um Äußerlichkeiten. Wissenschaft und Philosophie verlieren sich in endloser Analyse, Zergliederung und Differenzierung. Alles Tun und Trachten richtet sich auf das »Werden«, will sagen: aufs Weltlich-Profane. Es äußert sich in einem rasenden Fortschrittsaktionismus, der sich Leitwerte setzt wie Rationalität, Geschwindigkeit, technische und wirtschaftliche Effizienz. Mit der Renaissance und ihrem »Humanismus« beginnt das Unheil: Seither steht nicht mehr Gott im Mittelpunkt, sondern der Mensch und seine politische und soziale Emanzipation. Transzendentale Bezüge interessieren diesen nicht mehr; keinem höheren Wesen gilt sein Kult, sondern abwegigerweise dem eigenen Ich: Es triumphiert der Individualismus. Diese Dekadenz bestätigt für Guénon prinzipiell die Prophezeiungen der altindischen Kosmologie, wie sie in den Puranas, den zentralen Offenbarungsschriften der Hindus, niedergelegt sind. Diese lehren die Aufeinanderfolge von vier Zeitaltern (yugas), wobei jedes kürzer sei als das vorige: Satyayuga, Tretayuga, Dvaparayuga und Kaliyuga. Sie entsprechen etwa dem, was die europäische Antike Goldenes, Silbernes, Ehernes und Eisernes Zeitalter nannte. Die hinduistische Orthodoxie sieht die Welt übrigens schon seit über sechstausend Jahren in der vierten Etappe, im Kaliyuga, dem »dunklen Zeitalter«.9

Evola fühlte eine enge Geistesverwandtschaft zu Guénons esoterischem Pessimismus. Hier fand er in wenigen, aber scharfen Strichen die Gründe für den Untergang der ursprünglichen heroischen Welt skizziert, die auf heiliger Autorität und metaphysischen Absolutheiten basierte. Er applaudierte Guénons schneidender Philippika gegen den schalen Relativismus und chaotischen Liberalismus der modernen Welt. Flugs begann er eine eigene antimodernistische Schrift, die 1934 erschien: Rivolta contro il mondo moderno (»Revolte gegen die moderne Welt«). Es wurde sein bekanntestes und wichtigstes Buch. Evola beschreibt darin den metaphysischen Geist der arisch-vedischen »Tradition«, welche die religiösen und politischen Institutionen der archaischen indo-europäischen Gesellschaften beherrscht haben soll. Bestätigung hierfür entdeckt er in den Mythen verschiedener dem Ariertum zugerechneter Völker. Evola vergleicht, was die alten Texte der Inder, der Perser, der Griechen und der amerikanischen Indianer über ihr jeweiliges Goldenes Zeitalter berichten, und siehe da: In allen ist von einer strikt hierarchischen, metaphysisch legitimierten Gesellschaftsordnung die Rede. Diese Haltung spiegelt sich in einer weiteren Gemeinsamkeit wider: der »polaren Symbolik«. Wie weit verstreut die Ethnien leben mögen – »polare Symbolik« kennzeichnet sowohl ihre Ornamente wie ihre weltbildlichen Entwürfe: ein »Pol« in der Mitte, um den herum sich quasi alles dreht. Man denke an Sonnenrad und Hakenkreuz, aber auch an die kultische Verehrung des delphischen Omphalos-Steins als »Nabel der Welt«. Ferner liefern die alten Mythen Hinweise darauf, dass die weiße arische Rasse arktischen Ursprungs ist – meint zumindest Evola. Und er hat für diese Meinung Gewährsleute, so den brahmanischen Gelehrten Bal Gangadhar Tilak und den selbsternannten Prähistoriker Herman Wirth, der den Nachweis zu führen suchte, das sagenhafte Atlantis habe im hohen Norden Europas gelegen und sei die wahre Heimat der Arier, und der später Leiter des von Heinrich Himmler protegierten »rassekundlichen« Forschungsprojekts Ahnenerbe wurde.10 Gesellschaften von der Antike bis zur Gegenwart, welche die Tradition primordiale wenigstens in Ansätzen zu bewahren suchten und suchen, verleiht Evola den Ehrentitel »traditionelle Gesellschaften«. Als Beispiele für solch vorbildliche Ansätze nennt er u.a.: die Heiligkeit königlicher Autorität; die Rituale, Initiation und Weihe zumal, und die Wahrung ihres Mysteriums; der Glaube an den göttlichen Ursprung patrizischer Herrschaft; der Elitarismus des Rittertums; die Rigidität des Kastenwesens – so ziemlich alles, könnte man sagen, was zur modernen Welt im Gegensatz steht, namentlich zu ihrem Säkularismus, Individualismus und Liberalismus. Wie Guénon übernimmt auch Evola die hinduistische Lehre vom Zyklus der Zeitalter; wie Guénon identifiziert auch Evola die Moderne mit Kaliyuga, dem »dunklen Zeitalter«, in dem Traditionen bis zum Schwund verblassen, sich Unordnung ausbreitet und die Gesellschaft degeneriert.

Evolas Gedanken zu Geschichte und Politik gründen in der »Lehre von den zwei Naturen«, einer Weiterentwicklung der Guénon’schen Tradition-primordiale-These. »Zwei Naturen« will besagen: Es gibt die metaphysische Ordnung der Dinge und die physische; die unsterbliche Welt und die sterbliche; das höhere Reich des »Seins« und das niedere des »Werdens«; das erhabene, männliche Prinzip des Geistes und das inferiore, weibliche der Materie.11 In den traditionalen Gesellschaften dominierte das Prinzip des Geistes, was man eindeutig daran erkennt, wie und nach welchem Kriterium sie ihre strikten Hierarchien gestalteten, die jedem Individuum eine Klasse gemäß seiner Funktion zuwiesen. Ein Überbleibsel solcher Hierarchie findet Evola im arisch-hinduistischen Kastenwesen. Die niederen Funktionen sind mit Materie und organischer Vitalität befasst; je höher die Funktion, desto mehr kommt der Geist ins Spiel. Es gibt vier Hauptkasten, von unten nach oben folgendermaßen geschichtet: Knechte und Arbeiter (sudras), Kaufleute und Bauern (vaischyas), Krieger und höhere Beamte (kschatriyas), und über allen, als absolute Autorität, die intellektuelle Elite – die Priester (brahmins oder Brahmanen). Ähnliche geistbestimmte Klasseneinteilungen kannten laut Evola sämtliche traditionalen Gesellschaften in Theorie und Praxis. Als Beispiel führt er Platons Staat an; aber auch das antike Persien habe Verwandtes aufgewiesen, und nicht minder das europäische Mittelalter, wo die Bevölkerung sich in Bauern, Bürger, Adel und Geistlichkeit gliederte.12

Die Priesterkaste Indiens stand an der Spitze der Hierarchie. Sie waren Führer aus göttlichem Geist. In der hohen Zeit der »Ur-Tradition« jedoch, lehrt Evola, hatte diese Position keine professionelle Priesterschaft inne, sondern der Monarch selbst. Das Berufensein zum Herrschen wurzelte im Metaphysischen, und jede weltliche Macht entsprang geistlicher Autorität. Der Herrscher – so zitiert Evola den heiligen Rechtstext des Hinduismus, das Manusmriti – war kein »gewöhnlicher Sterblicher«, sondern »eine große Gottheit, verkörpert als Mensch«. Im ägyptischen Pharao etwa sah der Gläubige Ra oder Hornus inkarniert, in den Königen und Kaisern Roms Jupiter, in den assyrischen Königen Baal, in den persischen die Götter des Lichtes.13 Den Königen und dem Patriziat oblagen die heiligen Riten, die das Reich der Menschen mit dem Reich der Götter verbanden; sie schufen eine Art »Brücke« zur Sphäre des Übernatürlichen. Die Kenntnis und die Ausübung dieser heiligen Riten bildeten das Wesensmerkmal der Priester, das sie von allen anderen Kasten unterschied. Sie waren gleichzeitig Führer des Staates, dem dadurch seinerseits der Kraftstrom der göttlichen Macht innewohnte. »Die Herleitung aus dem Übernatürlichen«, schreibt Evola, »war von entscheidender Bedeutung für die Idee eines traditionalen Patriarchats und eines legitimen Königtums. In alter Zeit machte nicht so sehr ein biologisches Erbe oder eine rassische Ausgewähltheit den Aristokraten zum Aristokraten, sondern hauptsächlich eine heilige Tradition.«14

Die Kastendoktrin ist in Evolas Gedankenwelt eng verbunden mit seiner Betrachtung der Geschichte als »Involution«, d.h. als permanente Rückentwicklung von einem früheren Idealzustand her, die in ein heilloses Chaos führt, aus dem dann wieder ein neuer Idealzustand hervorgeht. Evola übernimmt hier die puranische Lehre vom Zyklus der Zeitalter. Einst, postuliert er, habe es ein Goldenes Zeitalter gegeben, das Satyayuga, in dem die »Ur-Tradition« noch respektiert und hochgehalten wurde. Es folgten die Perioden des Tretayuga und des Dvaparayuga, eine kürzer als die andere, in deren Verlauf die Menschen sich von der »Tradition« zunehmend abwandten und Verfall sich breit und breiter machte, bis das Kaliyuga, das »dunkle Zeitalter«, einsetzte, in dem die »Tradition« völlig vergessen ist – den in einem solchen Kaliyuga befinden wir uns gegenwärtig. Geistige Entartung, gesellschaftliche Unordnung und Gewalt kennzeichnen diese finstere Epoche, deren Ungeheuerlichkeiten sich steigern, bis das nächste Satyayuga die Welt erlöst und ein neuer Zyklus beginnt. Evola erkannte sehr wohl, dass die Annahme eines prähistorischen Goldenen Zeitalters und die Betrachtung der Entwicklung seither als allgemeinen Abstieg sich schwerlich mit der Evolutionstheorie Darwins vertrugen. Der Italiener hielt dagegen, dass in den alten Schriften und Überlieferungen der großen Weltkulturen nirgends von irgendwelchen halbtierischen Höhlenmenschen die Rede sei, wohl aber sehr viel von einer besseren, helleren Epoche in ferner Vergangenheit, da die Menschen schon einmal weiter waren als die heutigen, ja eine gleichsam übermenschliche, wenn nicht »göttliche« Natur besaßen. Dass von dieser superioren Ur-Menschheit keine fossilen Spuren existieren, könne, spekuliert Evola, daran liegen, dass der Prozess der Materialisierung noch nicht eingesetzt hatte. Die Evolutionstheorie, schilt Evola, sei ein typisches Produkt unserer dunklen Epoche, da sie das Höhere vom Niederen ableite, etwa den Menschen vom Tier, und die Aussagen der »Tradition« völlig ignoriere.15

 

Evola entwirft ein schwungvolles Panorama vom Verlauf der vier Yugas in der Prä- und Frühhistorie unserer Welt. Die entfernteste Epoche, die dem Goldenen Zeitalter entspricht, hat in der Arktis stattgefunden, wo, wie berichtet, viele Mythen den Ursprung der arischen Rasse hinverlegen. Einer alten terminologischen Gebräuchlichkeit folgend nennt Evola das am Nordrand der Welt lebende Urvolk »Hyperboreer«. Irgendwann muss eine Katastrophe, bedingt wohl durch eine plötzlich geänderte Stellung der Erdachse, die Hyperboreer in gewaltige Unruhe versetzt haben, welche sie veranlasste auszuwandern. Die erste Welle der hyperboreischen Emigranten wandte sich nach Nordamerika und den nördlichen Regionen Eurasiens, die zweite nach einem nun verlorenen Kontinent inmitten des Atlantiks. Über Atlantis haben sich schon viele Okkultisten Gedanken gemacht, besonders intensiv die deutsch-russische Theosophin Helena Blavatsky (1831-1891). Einige ihrer Thesen aufgreifend und weiterspinnend, spekuliert Evola, dass sich die jetzt in Atlantis heimischen Hyperboreer zu großen Teilen mit südlichen Rassen vermischten, mit Proto-Mongolen und Proto-Negriden, die möglicherweise in Lemuria, der gleichfalls untergegangenen Landbrücke zwischen Madagaskar und Indien, entstanden waren. Eine bedauerliche Entwicklung, meint Evola. Denn die Südlichen hatten eine andere »Spiritualität« als die Nördlichen, d.h. ein anders Verhältnis zum Geistigen und zur Transzendenz; innerhalb der Polarität zwischen Geist und Materie – vgl. Evolas Lehre von den zwei Naturen – neigten sie eher dem Materiellen zu. (Auch beim Beurteilen späterer Kulturen ist für Evola nicht die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung das Hauptkriterium, sondern die Spiritualität der jeweiligen Kultur.) Die Vermischung der ex-hyperboreischen Atlanter mit den Südlichen hat die transzendentale Potenz der Ersteren verdünnt; die Letzteren wurden so zu Trägern der Dekadenz. Die Hyperboreer der ersten Emigrationswelle blieben gänzlich nordisch; die der zweiten im weiter westlich gelegenen Atlantis nahmen zahlreiche südlich-lemurianische Züge an. So entstand eine folgenreiche Dichotomie: hier die solare, männliche oder uranische Spiritualität (nordatlantische Rassen), dort die lunare, weibliche oder demetrische Spiritualität (südlich-atlanteanische Mischrassen).16

Hinsichtlich jener Dichotomie macht Evola einige Anleihen bei dem Basler Rechts- und Religionshistoriker Johann Jakob Bachofen (1815-1887) und seiner bekannten Theorie vom »Matriarchat«.17 Während der Schweizer Letzteres aber als Phase in einer historischen Entwicklung sah, die einer anderen, dem Patriarchat nämlich, vorausging, haben laut Evola das Matriarchat und andere Herrschaftsformen gleichzeitig und nebenher existiert, nur eben in verschiedenen geographischen Regionen. Die Domäne des Matriarchats war für ihn die von Rassen nicht-hyperboreischen Ursprungs bewohnte südliche Welt, die eine Weile autonom bestand, bis sie schließlich mit der nordatlantischen Welt zusammenstieß. Selbst spätere Epochen zeigen noch Rudimente jener südlichen »Mütterkultur«; denken wir an die asiatisch-mediterranen Göttinnen des Lebens, etwa Isis, Ischtar, Kybele und Demeter, und an Symbole wie das Kind im Schoße der »Großen Mutter«. Doch zurück ins Prähistorische: Das solar-maskuline Prinzip fand sich dazumal auf den zweiten Rang verwiesen, wichtig zwar, aber doch zur bloßen Ableitung des lunar-femininen heruntergestuft. Während sich die männliche Spiritualität als Träger der höheren, aber mental noch gerade erfassbaren Wesenheiten begriff und sich in Göttern des Krieges, in Himmel und Sonne versinnbildlicht sah, besetzte die weibliche Spiritualität eher das Abwärtige und Nächtliche. Die »Mütter« geboten über eine tellurische und chthonische Welt und idolisierten dementsprechend Erde, Dunkelheit und Mond. Derlei hat Konsequenzen auch im Gesellschaftlichen. Das materne Prinzip besagt nämlich, dass alle Menschen Kinder einer Erde seien; folglich favorisierte diese Kultur soziale Strukturen kollektivistischer Art mit Leitwerten wie Teilen, Brüderlichkeit und Gleichheit. Für Evola sind diese Ideale, denen man noch Frieden und Gemeinschaft hinzufügen könnte, typische Signaturen des »Demetrismus«, dem kennzeichnenden Merkmal des zweiten, des Silbernen Zeitalters, indisch tetrayuga, in dem zwar auch eine Priesterkaste herrschte, aber eben ohne wahre, d.h. »königliche«, »männliche« Autorität. Symptome dieser femininen Spiritualität erblickt Evola im Phänomen der Entmännlichung, das auch vor dem Kultischen nicht haltmachte; die Gewandung vieler Priester gemahnte stark an weibliche Festgarderobe.18

Evolas dualistische Gegenüberstellung von männlicher und weiblicher Spiritualität verdankt nicht wenig ausgerechnet einem jüdischen Philosophen, dem Wiener Otto Weininger (1880-1903). Das Hauptwerk des Frühvollendeten und Frühverstorbenen, Geschlecht und Charakter, erschienen 1903, bietet eine höchst eigenwillige metaphysische Darstellung der männlichen und der weiblichen Sexualität und ihrer, wie ihr Autor meint, recht unterschiedlichen Prinzipien.19 Weininger glorifiziert die höhere Vernunft, Platons Streben nach absoluter Wahrheit und den kategorischen Imperativ Kants; hingegen verabscheut er die weltliche Sphäre der Materie und der Natur – eine Sphäre, die er für verdorben und verworfen hält. Das Höhere nun, befindet Weininger, stehe nicht beiden Geschlechtern offen; sie streben nicht einmal beide dorthin. Nur dem Manne bedeutete das ewige Leben des Geistes etwas; die Frauen dagegen ziehe es zum niederen irdischen Leben und zum Sinnlichen. Der Mann kann wählen zwischen einem Leben, das mit dem physischen Tode schlicht endet, und einem Leben, bei dem der Tod eine Wiedererlangung vollständiger Reinheit bedeutet. Die Frau jedoch ist Teil der materiellen Welt. Bar jedes höheren Geistes, weiß sie von Logik ebenso wenig wie von Moral. Sie hat kein Ego, keine Individualität, sondern führt eine unpersönliche, rein sexuelle Existenz.20 Der Mann ist Subjekt, die Frau ist Objekt und hat nur den einen Wunsch, Formung und Sinngebung von außen zu erfahren, und dies wiederum vermag sie nur, indem sie Aufmerksamkeit seitens des Mannes und die geschlechtliche Vereinigung mit diesem erreicht. Ontologisch ist sie eine Nullität; sie existiert allein, um den Fortbestand der materiellen, sinnlich erfahrbaren Welt zu garantieren.21 Evola bezieht die Beweggründe für seine Verherrlichung der männlichen Spiritualität zu großen Teilen aus Weiningers Buch, das bei zum Ende des Ersten Weltkrieges zahlreiche Übersetzungen erfuhr.

Evola skizziert den Aufschwung nach, den die heroische Spiritualität der nordischen Atlanter bei den Ariern in Indien und dem Iran nahm und vergisst nicht zu erwähnen, dass arya im damaligen Indien synonym war mit dvija, was »zweimal geboren«, »erneuert« bedeutet. Leider aber, bedauert Evola, verließ Indien schließlich den aristokratisch-solaren Pfad des spirituellen Patriziertums und glitt ab ins Kontemplative. Das Aufkommen einer professionellen Brahmin-Kaste war laut Evola kein Segen, denn diese machten ihre Sache schlechter als vorher die echten Dynasten, unter deren Ägide die Arier Indien erobert hatten. Die arische Weltanschauung in jenem Lande verfiel, seit Brahman (Gott) mit der Natur insgesamt gleichgesetzt, also Pantheismus praktiziert wurde – was den Einfluss der südlichen Rassen verrät.22 In Persien führte die heroische Spiritualität zum kriegerischen Kult um den Schöpfergott Ahura Mazda; eine arische Ethik mit den Leitwerten Ehrlichkeit und Treue bildete sich heraus; den Kosmos betrachtete man als Ordnung, die durch heilige Riten aufrecht erhalten werden musste. Verfall blieb zwar auch den Persern nicht erspart; lunare Naturalverehrung und eine dekadente Priesterschaft hatten ihn zu verantworten; ebenso aber gab es einen solaren Gegenschlag: die Lehre des Zarathustra, dessen Aktivität Evola mit der reformerischen Rolle Buddhas im dekadenten Hinduismus Indiens vergleicht. Eine weitere heroische Periode bescherte den Iranern der Mithraismus, eine musterhafte Bewegung arischer Geistigkeit, die allen tellurischen Vergötzungen der Erde und der Dunkelheit wehrte.23 Nachdem er aus Persien verschwunden war, lebte der Mithraismus später im römischen Imperium wieder auf. Nur wenig hat gefehlt, und der Westen hätte diese wahrhaft spirituelle Religion angenommen statt des Christentums, spekuliert Evola. Eine Spekulation, die er mit keinem Geringeren als Carl Gustav Jung teilt.24

Was die abendländische Geschichte innerhalb des bis heute fortdauernden Kaliyuga betrifft, so feiert Evola das Römische Imperium als großartigen Versuch, den Weg in den Verfall abzuwenden, ja umzukehren. Die Kräfte der südlich-mediterranen Dekadenz sollten zurückgedrängt und ein neuer, einheitlicher Staat auf der Grundlage westlich-arischer Spiritualität errichtet werden. Wenn Rom sich zu solcher Größe und Stärke aufschwingen konnte, verdankte es dies, so spekuliert Evola, letztlich nordischem Einfluss. Zu prähistorischer Zeit waren Ethnien hyperboreischen Ursprungs, gekennzeichnet durch »Rentierkultur« und »Streitaxtkultur«, auf die italische Halbinsel gekommen. Sie bildeten unter den dort vorgefundenen Völkerschaften gleichsam Zellen solarer Geistigkeit und sorgten für den regenerativen Impuls, der schließlich die Entstehung eines von Patriziern geleiteten römischen Gemeinwesens bewirkte. Die eingeborenen Ethnien – Etrusker, Sabiner, Sabeller, Sizilianer und andere – verehrten lunare, weibliche Gottheiten, so dass es, laut Evola, nicht verwundert, dass sie im vollendeten römischen Staat die niedere Klasse der Plebejer stellten. Die Patrizier weihten sich männlichen Gottheiten und Idealen wie Autorität und Imperium. Aus den religiösen Kulten verschwanden Pathos und Mystizismus; das Fehlen dieser Elemente charakterisiert die römische Spiritualität. Ihre Schlüsselwerte waren Pflicht, Loyalität, Heroismus, Ordnung und Führung. Die Revolte des römischen Patriziats gegen die fremde – etruskische – Dynastie der Tarquinier (509 v. Chr.), der Fall Capuas (211 v. Chr.) und die Zerstörung Karthagos (146 v. Chr.) zählen zu den herausragenden Momenten des methodischen Feldzugs Roms wider die verbliebenen Zentren der früheren südlich-lunaren Kultur.25

Mit Roms Aufstieg zu einer imperialen Macht triumphiert die maskuline Idee des nach göttlichem Willen geordneten Staates über alle demetrischen, von effeminierten Priestern gesteuerten Gesellschaftsformen. Keine Priesterschaft, das Patriziat selbst praktizierte die heiligen Riten gemäß genau festgelegter Gesetze, und die gesamte Gesellschaft war einem strikten patriarchalischen Recht unterworfen. Evola sieht die Dichotomie »nördliche vs. südliche Spiritualität« auch die weiteren Etappen der römischen Geschichte bestimmen. Offenbar, lobt Evola, wussten die Römer genau, was sie an der arisch-westlichen Kultur und ihren Werten »Staat« und »Hierarchie« hatten, denn entschieden verteidigten sie diese gegen schädliche Einflüsse, etwa dionysische oder aphrodisische Bestrebungen; nicht umsonst verboten sie die Bacchanalien. Mysterienreligionen erschienen den Römern nicht geheuer; sie schätzten weder die der Pythagoräer noch die aus Asien »importierten«; derlei könnte, fürchteten sie, einem neuen Demetrismus Tür und Tor öffnen. Gestalten wie Pompejus, Brutus, Cassius und Marc Anton stehen ebenfalls für Versuche des Südens, das verlorene Terrain zurückzuerobern; im Grunde ging es auch in den berühmten Bürgerkriegen um nichts anderes. Eine ganze Weile jedoch blieben all jene Mühen vergeblich. Durch ihr unbedingtes Festhalten an der Kultur des Heroismus, schreibt Evola, »verschob Rom […] den Mittelpunkt des geschichtlichen Abendlandes vom tellurischen zum uranischen Mysterium, von der lunaren Welt der Mütter zur solaren der Väter«.26 Zur Zeit des Augustus hatte der imperiale Kultus die sakrale Potenz des Kaisertums vollständig wiederhergestellt; der spirituelle »Genius« des Kaisers galt erneut als Brücke zum Reich des Übernatürlichen, und dies nicht nur in Rom, nicht nur auf der italischen Halbinsel, sondern dank der integrativen Kraft der römischen Universalität im ganzen Imperium, also fast bis an die Grenzen der damals bekannten Welt.

 

Den Siegeszug des Christentums betrachtet Evola als den Prozess eines Niederganges ohne Beispiel. Das christliche Ideal einer Religion, die jedem offen steht, unabhängig von Rasse, Tradition und Kaste, musste die römische Ordnung und Hierarchie zersetzen. Indem es den bloßen Glauben über heroische, iniatische und weisheitsgebundene Höherentwicklung stellte, appellierte das Christentum deutlich an die plebejische Mentalität, zumal es außerdem Erlösung versprach: von Unterjochung, von der Welt, ja sogar vom Tode. Der christliche Egalitarismus, der auf Prinzipien wie Brüderlichkeit, Liebe und Kollektivismus basierte, kämpfte gegen sämtliche römischen Leitwerte, so Pflicht, Ehre und Autorität. Der Gott der Christen war nicht der Gott der Patrizier, den man aufrecht stehend anrief und den die Legionen im Kampfe vorneweg trugen, sondern ein gekreuzigter Gott-Mensch, zu dem man kniend betete, in der Position eines Sünders und Büßers. Die Ausbreitung des Christentums markiert eine Verschiebung vom Männlichen zum Weiblichen, vom Solaren zum Tellurischen, von stolzer aristokratischer Selbstüberwindung und -erhöhung, auch im Kriegerischen, zu einem plebejischen Mystizismus der Gefühligkeit und Selbstbescheidung. Evola entdeckt ein Wiederaufleben der alten feminin-lunaren Spiritualität in vielen christlichen Mythen, so dem geopferten und zu neuem Leben erweckten Gott (hier schimmert tellurisch-agrikulturelle Metaphysik durch) oder der Jungfrauengeburt; auch die Mutter-und-Kind-Ikonographie verweist in diese Richtung, meint Evola. Dennoch war das Christentum nur ein Symptom des Abstiegs der Weltmacht Rom. Die Lebensquellen des römischen Heroismus und Elitarismus seien schon durch andere Faktoren längst erschöpft gewesen, namentlich »durch […] Völkerchaos und […] kosmopolitische Auflösung«.27

Die Verklärung des »Nördlichen« lässt Evola die germanischen Völkerschaften als kraftvollen Widerpart gegen die feminine christliche Kultur würdigen. Die Germanen, die Abkömmlinge der originären Arier in der Arktis, hatten sich, teils am Rande, teils außerhalb des Römischen Reiches lebend, ihre prähistorische Reinheit bewahrt; von der Dekadenz des späten Imperiums blieben sie unberührt, also auch von dessen kosmopolitischer Beliebigkeit im Religiösen. Altnordische Mythen und altnordischer Stammesethos zeigten Spuren der Ur-Tradition. Ihr Gott Wotan-Odin spendete den Seinen die Siege, gebot über absolutes Wissen, über Geheimnisse, die er Auserwählten mitteilte, die aber niemals an Frauen weitergegeben werden durften. Und er führte ein Heer an, das aus gefallenen Helden zusammengestellt war. Die ältesten nordischen Stämme betrachteten Asgard im hohen Norden als Heimat der Götter – eine ererbte Erinnerung, die sie mit den weitab östlich von ihnen wohnenden Indo-Ariern teilten. Zum Ende des römischen Zyklus wirkten die Germanen zweifellos als barbarische Kräfte der Zerstörung. Nachdem sich der Hader jedoch einmal gelegt hatte, brachten gerade sie stabilisierende Werte in die beginnende mittelalterliche Welt ein, etwa Dominanz des Kriegertums, Lehnstreue und Freiheit (die allerdings die Bereitschaft zu dienen einschloss). Während sich die Grundlagen der feudalen Kastengesellschaft heranbildeten, repräsentierten diese Werte die solare Spiritualität im Abwehrkampf gegen die feminisierende Kirche. Das Rittertum stellte den Helden über den Heiligen, den Eroberer über den Märtyrer. Treue und Ehre waren die höchsten Tugenden, Feigheit jedoch war schlimmer denn Sünde. Evola betrachtet die Suche nach dem Gral und die Kreuzzüge als symbolische Akte einer solaren ’Tradition« innerhalb der christlichen Kultur. Im mittelalterlichen Streit zwischen den Päpsten und den Kaisern um die Vorherrschaft war es laut Evola unter den germanenstämmigen Fürsten die ghibellinische Dynastie der Hohenstaufenkaiser (1152-1272), die sich im neu formierten Römischen Reich, das ja immerhin »das Heilige« hieß, am entschiedensten für ein »heiliges Königtum« einsetzte.28

Von der Renaissance hat Evola keine hohe Meinung. Er sieht die italienischen Kommunen jener Epoche als Pioniere der profanen und anti-traditionalen Gesellschaftsidee. Nun wurden ökonomische und merkantile Faktoren bestimmend, der jüdische Handel mit Gold ein entscheidender Faktor; Banken und Kapitalismus kamen auf. Schon Dante hatte die Revolte der lombardischen Städte und das Prinzip der Selbstverwaltung verurteilt; Evola schließt sich dem Verdikt an. Dass die Hohenstaufenkaiser Truppen nach Italien sandten, geschah laut Evola nicht um trivialer territorialer Ansprüche willen; vielmehr kämpften die deutschen Monarchen als supranationale Imperatoren »gegen die Masse der widerspenstigen Händler und Bürger für Ehre und Geist«. Evola findet es äußerst bezeichnend, dass die Renaissance gerade in Italien ihren Anfang nahm. Nicht etwa, weil sie schlicht das alte Rom fortgesetzt hätte – diesen Erbanspruch bestreitet Evola ihr sogar vehement –, sondern, weil Italien ein Hauptaustragungsort jenes Grundantagonismus war, der wie nichts anderes die indoeuropäische Geschichte prägte: des Antagonismus zwischen Norden und Süden, zwischen lunarer und solarer Spiritualität. Die Renaissance, meint Evola, stellte keine »Wiedergeburt« der klassischen Kultur dar; sie borgte von ihr nur ein paar Formen, und zwar aus der Dekadenzphase, um einen gänzlich neuen Geist der Bindungslosigkeit und Atomisierung zu legitimieren. Einst hatten die Kaiser kraft ihres Adels, eines höheren Prinzips oder einer übernatürlichen Autorität geherrscht. Laut dem neuen politischen Ideal, das Machiavelli in Il Prinzipe (»Der Fürst«, verfasst 1513) so präzise beschreibt, konnte das Oberhaupt nur noch in eigenem Namen herrschen und brauchte, um sich durchzusetzen, Schläue, Gewalt und Diplomatie.29

Evola betrachtet den Humanismus der Renaissance als Wegbereiter des modernen Denkens. In Kunst, Philosophie und Wissenschaft zählte nur noch der Mensch, und zwar allein, was an ihm diesseitig ist. Durch die Leugnung des Transzendenten zeugte der Humanismus als Nebenprodukt den Individualismus, der das »Selbst« ins Zentrum der Welt rückte: ein krasser Selbst-Betrug. Die Reformation verübelte der römischen Kirche nicht zufällig gerade deren Festhalten an Hierarchie und Dogma, an Überbleibseln der »Tradition« also; das individuelle Gewissen sollte künftig die einzige Autorität in religiösen Fragen sein. Auch die Bibel durfte nun jeder privat lesen und deuten. Eine Apotheose der menschlichen Vernunft und ihrer Urteilskraft, die letztlich dazu führen musste, dass alle Autorität und alle metaphysische Wirklichkeit in Frage gestellt wurden. Der Rationalismus vereinte die neu entdeckte Denkmächtigkeit mit Empirismus und Experimentalismus und schuf so die moderne Wissenschaft, die sich gänzlich der materiellen Welt zuwandte. Nur noch die physische Dimension interessierte; man wollte mathematische Relationen entdecken, zu Gesetzen der Konstanz und Gleichförmigkeit gelangen, Formeln aufstellen, nach denen sich das Ergebnis stofflicher Prozesse im voraus berechnen ließ. Allein die Wahrheit sollte gelten, aber jenes Wahre bemaß sich an »seelenlosen Zahlen«, Quantität siegte über Qualität, und Symbole wurden zum läppischen Tand erklärt. Indem sie das Wissen den Eingeweihten wegnahm und der Allgemeinheit zugänglich machte, es also demokratisierte – und das heißt für Evola: herabwürdigte –, beförderte die Wissenschaft das Aufbegehren der niederen Stände. Das Fehlen einer Transzendenz suchte die Wissenschaft durch Herrschaft über die materiellen Dinge zu kompensieren; daher entwickelte sie titanische Technologien und gewaltige Industrien. Aber Transzendenz lässt sich nicht ersetzen.30

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?