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Ich glaubte also, dass Katharina Dich zum damaligen Zeitpunkt benutzen würde. Anders konnte und wollte ich es mir auch nicht vorstellen in meiner blind andauernden Liebe zu Dir. Sie hatte Dich nicht verdient, stand für mich fest. Aber wer hatte Dich überhaupt verdient? Ich war ja gar nicht geneigt, mich dafür zu erachten. Aber dass es jemanden geben sollte, der Dich benutzte, während ich meine Gefühle für selbstlos hielt, war ungerecht und nicht zu ertragen. Ich musste ganz einfach handeln … Wenn also Katharina es wagte, Dich zu benutzen, so erlaubte ich mir nichts anderes mit ihr. Ich benutzte Katharina, um Dir nahe zu sein. Ich dachte, über sie etwas von Dir zu erfahren oder Dir eine Nachricht von mir zu übermitteln, eine mögliche Erinnerung, durch einen Code, den nur Du verstehen würdest und der Dir plötzlich mein Bild vor Augen führen würde, durch einen Geruch vielleicht oder eine Geste, die Du nur von mir kennen konntest. Noch wusste ich nichts Genaues, aber schon damals fühlte ich mich allein von diesen Möglichkeiten so beflügelt, dass ich mir der andauernden Trauer um Dich nicht mehr so hilflos ausgeliefert vorkam.

Und dann ging alles so einfach … Es war so, weil es eben einfach ist, wenn man sich plötzlich einer Macht über einen Menschen bewusst wird, dessen innerstes Anliegen es ist, sich auszuliefern.

Dass ich homosexuellen Frauen gefalle, wusste ich. Nicht nur einmal habe ich Annäherungsversuche und auch offene Anträge abweisen müssen. Dabei weiß ich allerdings immer noch nicht, was es sein könnte, das diese Begehrlichkeiten zu wecken vermag. Es war mir immer ein Rätsel, was mich nicht einmal belustigte, sondern störte, mich unangenehm berührte und behinderte in meiner Unbefangenheit. Das war es nämlich, was ich gerade bei Katharina, der Patientin meines Mannes, erfahren musste. Sie besuchte eine ganze Weile unsere Praxis, einzig aus dem Grund, mir zu begegnen, von mir aufgerufen und befragt zu werden. Als sie sich eines Tages überwand, sich mir mitzuteilen, war ich so erschrocken und hilflos, dass ich sie bat, nie wieder zu kommen, anderenfalls drohte ich ihr, meinem Mann von ihrem Antrag zu erzählen.

Ich habe es nie getan, es blieb mir zu unverständlich, wieso und womit gerade ich eine solche Wirkung auf eine lesbische Frau ausübte, dass ich mich sogar Jacob gegenüber schämte. Damals konnte ich nicht ahnen, dass ich diese Wirkung sogar einmal bewusst einsetzen würde.

Es war an einem Dienstag, als ich Katharina zu mir bestellte. Damals wohnte ich schon allein. Ich habe Dir noch gar nicht erzählt, dass ich mich von Jacob getrennt habe, dass ich aus unserem gemeinsamen Haus ausgezogen bin, dass ich alles hinter mir gelassen habe. Aus den egoistischsten Gründen der Welt habe ich verzichtet, habe ich einen Menschen unglücklich gemacht: weil ich mir das Glück mit ihm nicht mehr gönnen wollte, weil ich mich von dem Moment an, als Du mich zurückwiesest, wir uns also nicht mehr trafen, schuldig fühlte und gehen musste …

Kannst Du mir noch folgen? Ich muss gestehen, ich habe mir vor einer Stunde eine Flasche Wein geöffnet, und jetzt ist sie schon zur Hälfte zur Neige gegangen. Vielleicht erinnerst Du Dich, ich bin nicht unbedingt geübt im Umgang mit Alkohol. Wie ich gehört habe, soll sich seine Wirkung in den Morgenstunden sogar verstärken … Nun ja – aber irgendetwas musste ich doch noch mit mir versuchen, neben dem Schreiben, um diesem Tag entgegenzutreten …

Also, nur zwei Wochen nach diesem letzten Mal, da ich vor Dir weglaufen sollte, habe ich mich von Jacob getrennt. Du wolltest mich noch großzügig zur S-Bahn begleiten, aber ich musste allein sein und rannte in den Deinem Haus nahegelegenen Park. Ich ließ mich am Fluss nieder, und dann strömten sie aus mir heraus, die Tränen, die ich in Deiner Küche noch in einer dem Erschrecken folgenden Starre zu zügeln verstand. Anscheinend hatte ich sie vor Dir einfach nur heruntergeschluckt, denn jetzt traten sie hervor, als kämen sie auf direktem Weg aus meinem Magen, und verbanden sich mit dessen Inhalt. Ich hatte mich zwar hinter ein Gebüsch verzogen, doch blieben hin und wieder Passanten oder Spaziergänger stehen, um mich zu beobachten. Vielleicht hielten sie mich für eine Drogenkranke. Meinen Mantel hatte ich schon einige Meter vom Flussufer entfernt von mir geworfen, meine Bluse war geöffnet, der Schal hatte sich mit einem Ende im Strauch verfangen, hing halb über meiner Schulter, mit dem anderen Ende berührte er die Wasseroberfläche. Mir war alles egal, da ich nur von diesem Würgen, von den heißen und kalten Aufwallungen meines Blutes geschüttelt wurde.

Als ich mich einigermaßen gefangen hatte, lief ich zur S-Bahn. Ich kauerte mich in die Ecke eines Waggons, den Blick in die eingekratzten, bizarren Zeichnungen der Fensterscheiben gekrampft und fuhr, fuhr bis zu irgendeiner Endstation und zurück und wieder zur nächsten. Es schüttelte mich nur noch einmal, als ich, nach einer für mich nicht auszumachenden Zeit, die außerhalb von mir verstrichen sein musste, den Namen Deines Bahnhofs aus den Lautsprechern zugerufen bekam und mir klar wurde, dass es kein Entrinnen für mich geben könne.

Es blieben die Worte, es blieben Namen und Symbole, es blieben Gerüche und die Unzahl der Bilder, die ich nicht würde wegbefehlen können. Sie hatten sich eingekratzt wie diese nicht deutbaren Zeichen auf den Scheiben des S-Bahnfensters. Wollte man sie entfernen, müsste man das gesamte Fenster aus dem Abteil lösen. Ich musste also mit ihnen umzugehen versuchen, vielleicht noch ein bisschen weinen, das wäre wohl legitim, aber dann musste ich einen Plan aufstellen, einen Überlebensplan. Da es keine Möglichkeit mehr gab, Dich zu treffen, blieb das Bild, das ich von Dir hatte, in mir verwahrt. Ich trug es bei mir diese ganzen vierundzwanzig Stunden des Tages und wusste, dass ich es nicht mehr verändern könne, da Du mir den Vergleich und die Gegenüberstellung verwehrtest. Ja, Philipp, ich war unfähig, die Situation zu begreifen, wusste ganz einfach nicht, wie ich Dich in mir loswerden sollte. Du hattest Dich in mich eingebrannt, und irgendetwas hielt Dich oder dieses Bild von Dir, verbissen fest … obwohl es mir schadete, obwohl ich es nicht durfte, obwohl sich mein Gewissen erstmals zu regen begann, mein Gewissen Jacob gegenüber. Aber wie hätte ich auch meine Gefühle ins Aus befehlen sollen, so wie Du es sicher von mir erwartetest?

Mit dieser unbedeutenden Nennung Deines Bahnhofs und dem verzweifelten Schauer, der mich dabei durchfuhr, war mir plötzlich die Schicksalhaftigkeit klar, mit der Du in mein Leben getreten bist. Ich würde Dich nicht mehr loswerden. Ich würde daran arbeiten müssen, es zu versuchen, aber es würde mir nicht gelingen. Da ich das so klar spürte, konnten meine Bemühungen, Dich aus mir zu verbannen, allesamt nur halbherzig sein. Weit wichtiger war für mich, dass ich Jacob gegenüber nicht lügen durfte! Bisher hatte ich das Gefühl, es nicht getan zu haben, weil ich es nicht musste. Dass aber auch schon Verschweigen in einer Ehe eine Vorstufe zur Lüge sein kann, wollte ich damals nicht wissen, oder ich fühlte es einfach nicht.

Immer, wenn wir uns trafen, hätte ich ohnehin mit Jacob nicht zusammen sein können. Er war viel unterwegs durch sein Forschungsprojekt, an dem sein ganzes Herz hing. Manchmal sah ich ihn nur noch zu seinen Chefarztsprechstunden, die er zwei Mal wöchentlich abhielt. Er ging früh und kam oft erst nach Mitternacht nach Hause. Doch er fühlte sich gut dabei. Und wenn er zu Hause war, an manchen Sonntagen, stapelte sich zwar auch da noch die Arbeit für ihn, aber er genoss es, unser gemeinsames Heim zu bewohnen, die Räume zu durchstreifen, den Garten und das Gewächshaus. Er machte mir Komplimente, da es ihm sehr wohl auffiel, wie ich alles herrichtete und mit immer neuen Veränderungen ein kleines Paradies geschaffen hatte. Ohne dieses Zuhause im Rücken, bestätigte er mir immer wieder, würde er nie das erreicht haben können, was ihm bisher gelungen sei. Sogar seine Forschungsarbeiten sähe er von der Kraft dieses Umstandes beeinflusst, meinte, sie nur deshalb in dem Maße vorangetrieben und verwirklicht haben zu können.

Dass er das manchmal einen Tick zu oft, bei allen möglichen und auch weniger geeigneten Gelegenheiten, formulierte, lag wohl auch daran, dass er mir glaubhaft versichern wollte, mich, meine Anwesenheit und alles, was ich für ihn tat, nie als sein selbstverständliches Recht zu empfinden. Er wollte nicht, dass ich mich nur über meine hausfraulichen oder auch gesellschaftlichen Pflichten an der Seite eines erfolgreichen, gut verdienenden Ehemanns definierte und wusste doch, dass ich nichts anderes tat. Ich konnte nicht mit einer Schar Kinder aufwarten, für deren Wohlergehen und Erziehung ich hätte verantwortlich sein dürfen. Darauf hatte ich verzichtet, für ihn, für Jacob, verzichtet, weil er es so wollte. Und so zeigte er mir seine Dankbarkeit wohl auch deshalb, und nicht selten stellte er mich dabei auf einen Sockel. Und die Form, in der er mir seine Liebe und Verehrung zeigte, unterschied sich kaum, egal, ob wir allein oder ob noch drei, dreißig oder dreihundert weitere Zuschauer anwesend waren. Er zeigte mir seine Dankbarkeit, indem er mich anstrahlte und in den Arm nahm. In den Arm nahm, so wie er mich schon seit Jahren in den Arm nahm, einem besten Freund gleich. Und wie er mich dann küsste, auf die Stirn küsste, auch so, wie er mich seit Jahren küsste, unverändert, seit Jahren …Wie sollte ich ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn es da jemanden gab, der mich anders in den Arm nahm, auf eine Weise, die er, die mein Mann gar nicht mehr für mich in Betracht zog?

Doch nun hattest Du mich weggeschickt. Du wolltest nicht mehr mit mir auf eben diese Weise zusammen sein, die ich nur mit Dir verband. Und in mir begann sich eine neue Sehnsucht nach Dir auszubreiten. Eine Sehnsucht, die ich nicht mehr allein durch meine Lust, meine Leidenschaft, das Brennen meines Unterleibs begründet fühlen wollte, sondern die sich sogar als ihr Gegenteil ausnehmen sollte. So meinte ich diese Sehnsucht, jedenfalls für mich, ab da zu benennen. Eine Sehnsucht, die sich trotzig über meine Begierde erhob, der nichts Unreines, nichts Egoistisches anhaftete … Jetzt sollte es um meine Seele gehen und nur um meine Seele, die ich von Dir befallen fühlte. Ich wollte Dir nahe sein, wie auch immer, ich wollte mir beweisen, Dir nahe sein zu wollen, ohne dabei Deinen Körper zu begehren. Meine Sehnsucht war es also, dass Du mich Dir an Deine Seite wünschtest als Freundin, als Vertraute!, und vielleicht sogar auch nur als Vertraute!

 

Mein Besetztsein von Dir nahm Züge von Wahnsinn an. Das einzig Gute daran war, dass ich mir dessen wenigstens noch bewusst war. Dass ich immerhin so viel Erkenntnis besaß, zwischen Realität und Phantasie unterscheiden zu können. Nur reichte dieses Erkennen leider nicht, die verhängnisvollen Spiele meiner Gedanken beherrschen oder gar vertreiben zu können. So stellte ich mir zum Beispiel auch vor, wie es sei, wenn Du plötzlich schwer erkrankt wärest und ich an Deinem Bett wachen dürfte … Oh, Philipp, in welch bitterer Ironie nun einer dieser Gedankensplitter in die Wirklichkeit explodiert scheint … Wie er aber auch gleichzeitig für mich die gerechte Strafe mitliefert. Denn ich bin weiter entfernt von Dir, als ich es jemals gewesen bin. Mehr noch, ich bin nun in einer von mir selbst provozierten erbarmungslosen Absurdität gefangen. Philipp, Philipp, Philipp! Ich schreibe diesen Brief nicht, um mich reinzuwaschen. Ich weiß um meine Schuld. Nur wusste ich damals nicht, dass sie schon mit diesen Gedankenspielen begann.

Die Bilder, die ich mir vorstellte, zeigten Dich von aller Welt aufgegeben und verlassen, dahinsiechend, nur noch von mir betreut, der Einzigen, die für Dich da sein würde, selbstlos, ohne auch nur das Geringste von Dir erwarten zu wollen. Na ja, damit hätte sie ja alles gehabt, das wäre ja alles gewesen, was sie sich gewünscht hätte, Deine Nähe, Deine Nähe in welcher Weise und Form unter welchen Bedingungen auch immer … Das klingt nicht nur, es ist alles ganz, ganz schrecklich, oh, Philipp, nimm bitte nicht an, dass ich das nicht wüsste. Aber ich muss Dir das alles so schreiben, nur so wirst Du verstehen, dass meine Trennung von Jacob nur folgerichtig sein konnte. Ich durfte auch nicht mehr in diesem kleinen Paradies leben, in das ich in den letzten Jahren so viel Liebe gesteckt hatte und in dem schließlich auch wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Ich habe mich immer für Architektur interessiert, und wenn ich die Wahl gehabt, allerdings auch ein ausgezeichnetes Abiturzeugnis hätte aufweisen können, es wäre für mich nur diese Studienrichtung in Frage gekommen. Jacob unterstützte meine Leidenschaft und besorgte mir, wo auch immer er konnte oder sich gerade aufhielt, Kunstbände, die etwas mit Architektur zu tun haben. Er kaufte auch dieses alte, sanierungsbedürftige Haus, in dem ich mich mit meinen Plänen austoben durfte, wie es unsere finanzielle Lage erlaubte.

Und die erlaubte eine Menge. Jacob verbrauchte kaum etwas für sich. Seine Sucht ist die Arbeit, allen anderen Süchten steht er unbeholfen in eher fassungsloser Jungfräulichkeit gegenüber. Er leistete sich nichts. Selbst, wenn er mal wieder einen Anzug brauchte, erledigte ich das für ihn. Da er die Standardmasse einer Konfektionsgröße besitzt, fiel mir das Gott sei Dank nicht weiter schwer. Einen Herrenausstatter, geschweige denn eine Schneiderei aufzusuchen, hätte ich ihm nicht zumuten können. Dadurch, dass ich nur zweimal wöchentlich an seiner Seite in der Praxis zu tun hatte, gab es genug Freizeit für mich, ihm seine Sachen und seinen Alltag zu organisieren. Dabei kam auch meine Leidenschaft, das Planen und Bauen an unserer Jugendstilvilla nicht zu kurz. Es war mein großer persönlicher Erfolg, als Du eines Tages bei uns zu Gast warst und meinen Geschmack lobtest. Aber Du kamst auch mit Tipps, die ich gewagt und mutig fand und erst einmal überschlafen musste.

Ich redete mit Jacob, ob wir uns den Wintergartenanbau denn leisten sollten, den Du uns um diesen Baum herum vorgeschlagen hattest. Er ließ mir, wie immer, freie Hand, und Du interessiertest Dich weiter für das Projekt, gabst mir Hilfestellungen, kamst öfter vorbei; und dass Jacob nur sehr selten zu Hause war, ist Dir dabei nicht verborgen geblieben … nun, was geschehen ist, muss ich Dir jetzt nicht noch einmal aufschreiben, auch wenn Du sicher das Meiste vergessen und auch ganz anders empfunden haben musst. Du warst mit diesem 2. Mai, als Du plötzlich unangemeldet auf der Baustelle erschienst, in meinem Leben … Philipp, und so lange es andauern wird, habe ich mich in Dich verbissen, ob Du nun lebst oder nicht.

Es ist jetzt neun, die Operation muss begonnen haben. Aber ich zwinge mich, noch nicht bei Simone anzurufen. Mir fällt im Moment auch kein Vorwand ein, mich bei ihr zu erkundigen. Und Werner, Dein Operateur, ein alter Studienkollege von Jacob, er würde mir Auskunft geben, aber gerade ihn zu fragen, widerstrebt mir; abgesehen davon, dass es jetzt, während er mit Dir zu tun hat, auch nicht möglich wäre. Werner ist ein hervorragender Arzt. Soweit ich informiert bin, ist er sogar der beste Hirnchirurg, den es zu Zeit an der Klinik gibt, und die wiederum ist führend in Europa. Du bist also in besten Händen … Aber Werner ist Zyniker, und seit Jahren versucht er immer wieder, mit mir eine Affäre zu beginnen. Das versucht er zwar mit einem gewissen humorigen Charme, den er durchaus haben kann, da er aber ein ausgemachter Macho ist, muss ich auch immer auf der Hut vor ihm sein.

Einmal habe ich durch ihn eine solche Ungeheuerlichkeit erfahren, die er mir auf eine sehr subtile Weise verstanden hat unterzujubeln. Eine Ungeheuerlichkeit, die einen neuen und von mir nicht für möglich gehaltenen Aspekt in mein Leben brachte.

Wie Du weißt, haben Jacob und ich keine Kinder. Jacob meinte, er könne kein guter Vater sein, wenn er sich weiter der Wissenschaft und seinem Beruf verschreiben wolle, was ihm für die Gesellschaft wichtiger und nützlicher erschien, als ein paar unglückliche Kinder mehr in die Welt zu setzen. Außerdem meinte er, ich sei viel zu fragil und schmal gebaut, um ein Kind austragen zu können oder natürlich zu gebären. Schließlich müsste ich mich auch nicht im Muttersein verwirklichen, dafür hätte ich doch andere Interessen, und er bräuchte mich auch uneingeschränkt an seiner Seite zur vollen Unterstützung seiner sicher bahnbrechenden Vorhaben … Gerade dieses letzte Argument machte mich in den Anfangsjahren unserer Ehe, in denen ich noch immer das Glück mit Jacob als ein unverdientes empfand, stolz und steigerte mein Selbstwertgefühl.

Da wir schon sehr bald nach unserer Eheschließung immer seltener miteinander schliefen, brauchte ich wenigstens die lästigen kleinen Pillen, die ich noch zu Beginn unseres Zusammenseins zu Hause im Vogtland von meiner Frauenärztin verschrieben bekommen und nur mit Widerwillen eingenommen hatte, nicht weiter zu schlucken.

Trotzdem blieb es nicht aus, dass sich in mir der Wunsch regte, wenigstens ein gemeinsames Kind in diesem wunderschönen Haus aufwachsen zu lassen. Auch befiel mich die Sehnsucht, etwas in den Händen zu halten, das mit Jacob und mir zu tun hatte und das wir doch auch als Krönung unserer Liebe verstehen könnten. Natürlich, meine Beckenmaße hatten sich seit meiner Pubertät nicht mehr verändert. Ich sah das Problem. Suchte aber auch Vergleiche, etwa zu Tänzerinnen, die kaum breiter als ich gebaut waren und die es sich trotzdem nicht versagt hatten, Mutter zu werden. Da ich glaubte, dass Jacob diesen Wunsch spürte (ich habe Dir ja erzählt, dass er mich sehr wohl zu lesen verstand, meine Stimmungen, meine Wünsche ahnte er manchmal schon, bevor sie mir selber bewusst wurden), schlussfolgerte ich nun, dass er mich vor mir selber schützen wollte. Er wollte meinen Körper einer Schwangerschaft und den Folgen einer Geburt nicht aussetzen, betonte er. Da sich also seine Haltung zu eigenen Kindern auch nach zehn Ehejahren nicht geändert hatte, glaubte ich, dass sein sexuelles Desinteresse an mir durch die Angst geprägt wurde, dass ich schwanger werden könnte.

Es war während eines Fests bei uns zu Hause. Ich stand mit einer befreundeten Gynäkologin in der Küche und erkundigte mich gerade nach einer neuartigen Spirale, von der ich gehört hatte. Ich wollte erfahren, ob sie vielleicht für mich in Frage kommen könnte, obwohl ich wusste, dass ich eigentlich für diese Art der Verhütung nicht geeignet war. Etwas wollte ich aber in dieser Richtung unternehmen, weil ich die Hoffnung hatte, dass Jacob dann vielleicht wieder Lust bekommen würde, mit mir zu schlafen. Da trat Werner in die Küche und assoziierte sofort das Thema unseres Gesprächs.

„Na, Steffi“, sagte er betont nebenbei, und ich ahnte, dass er nur mit Mühe ein anzügliches Grinsen verbarg, während er eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank nahm und sie zu entkorken begann. „Verhütung ist ja wohl nicht Euer Problem.“ Ich weiß noch, dass ich dermaßen erschrocken war, dass ich wie aufgezogen Jacobs Argumente gegen ein Kind aufzuzählen begann; einzig und allein in dem Bemühen, Werner abzulenken, denn ich meinte, seine Äußerung als ironische Spitze gegen die Traurigkeit unseres geschlechtlichen Ehelebens deuten zu müssen. Da er mir zu oft mit seinen zweideutigen Offerten begegnete, glaubte ich auch, es sei mir anzusehen, dass es da ein trauriges Defizit in meinem Leben gab.

Aber Werner wollte mir etwas ganz anderes sagen. Betont beiläufig, während er weiterhin mit dieser Flasche beschäftigt war, sie zwischen die Beine klemmte und obwohl der Korkenzieher durch eine ganz einfache Hebelfunktion zu benutzen war, dessen Wirkungsweise ignorierend, mit Kraft und einem kleinen Knall den Korken herauszog und abwechselnd an diesem und der geöffneten Flasche auffällig laut zu schnuppern begann. „Jacob kann doch keine Kinder machen“, sagte er jetzt zu der befreundeten Gynäkologin. „Er hat eine Azoospermi, wir haben das selbst herausgefunden. Während des Studiums haben wir unsere kleinen Kerlchen mal unters Mikroskop gelegt. Hat uns damals natürlich tierisch interessiert. Ich sage dir, da spielten sich bei mir die wildesten Kämpfe ab. Aber bei Jacob, alles sehr müde, einfach keine Durchstarter dabei. Er hat das Experiment immer mal wiederholt, weil er sich einredete, so was könne sich ja auch mal ändern, aber …“

„Hör auf!“, unterbrach ich ihn. Ich hatte das Gefühl, er habe nichts anderes im Sinn, als sich wieder mal als den tollen Hecht ins Spiel zu bringen.

„Na, sag bloß, das hat er dir nie erzählt?“

„Dass du so hyperpotent bist, muss einem doch nicht erzählt werden.“ Ich weiß nicht, was es war, das mich zu dieser Schlagfertigkeit befähigte, denn eigentlich war ich dermaßen getroffen, dass mir die Sprache hätte wegbleiben müssen. Ich war aber in einer solchen Anspannung, die Fassung zu bewahren und mir um Gottes Willen nicht anmerken zu lassen, dass das eben Gehörte für mich wirklich eine absolut neue Information über meinen Mann bedeutete. Jacob und ich waren uns so nah. Warum hatte er nur nie mit mir über dieses Problem gesprochen? Es ging mich doch schließlich auch an, es betraf mich nicht weniger als ihn, es war doch unser gemeinsames Problem! …

Das ist jetzt etwa neun Jahre her. Ich habe lange, oft und immer wieder darüber nachgedacht und komme auch heute zu keinem Schluss, warum er mir sein Vertrauen in diesem Punkt nie geschenkt hat. Für mich war das der einzige Schatten, der auf unserer Beziehung lag. Man könnte meinen, dass das schon ein ziemlich dunkler war, aber gemessen an dem, was ich sonst an Liebe und partnerschaftlichem Denken von Jacob hatte, war es alles in allem kein so gewichtiges Problem. Nachdem ich darüber geschlafen und Abstand gewonnen hatte, vermied ich es, dieses Thema ihm gegenüber anzusprechen. Ich wollte ihn dem nicht aussetzen, dass ich von seinem Geheimnis wusste und es auch noch dazu auf solch diskriminierende Weise von seinem Freund erfahren hatte. Nur, dass sich unser Geschlechtsleben, also das Miteinanderschlafen, noch einmal ändern könnte, das war eine Hoffnung, auf die ich damals, mit gerade mal dreißig Jahren, nicht mehr baute.

Aber eigentlich habe ich Dir das jetzt auch nur erzählt, dass Du begreifst, warum ich äußerst ungern Werner anrufen würde, um ihn nach Deinem Zustand zu befragen.

Als ich vor zwei Jahren aus unserem Haus auszog – da Du mir auf meine Briefe nie geantwortet hast, kann ich mir gut vorstellen, dass Dir meine veränderte Anschrift nie aufgefallen ist – gingen dem ein paar sehr nahe Gespräche mit Jacob voraus. Ich habe ihm alles genau erzählt, wie es um mich steht und dass es mir unmöglich sei, mit dieser Sehnsucht nach Dir weiter neben ihm zu leben. Er brachte mir wie immer sein ganzes Verständnis entgegen, wenn er mich auch wieder und wieder bat, nicht zu gehen, obwohl er wusste, dass das Schicksal für mich längst anders entschieden hatte, dass es vorbei war, dass ich nicht mehr in meinem alten Leben sein konnte … Selbst dieses von uns geschaffene Paradies war zu klein für das Gewicht, das meine Gedanken an Dich in mir einnahmen. Jacob weiß so viel von meiner Seele, er wusste also auch, dass er mich nicht halten durfte. Aber zu warten versprach er. Er versprach es, ohne dass ich es ihm abverlangt hätte. Dieser schwammige und bei Trennungen so gern strapazierte Satz: „Ich brauche Zeit“ war nicht über meine Lippen gekommen … Dennoch wollte Jacob daran glauben, dass unsere enge Bindung und die Zeit Kraft haben würden, meine Sehnsucht wieder in seine Richtung und unser gemeinsames Zuhause zurückzuwenden.

 

Ich will ehrlich sein, es gab sie auch, diese Sehnsucht, es gab sie sogar zuhauf. Zumal ich ja von Dir nichts erwarten konnte und ich eine Freiheit gewählt hatte, in der ich mir nur Beschränkungen auferlegt hatte in meinem alltäglichen Leben. Meine Seele litt, und ich dachte: ‚Was nützt mir da ein äußeres Wohlergehen?‘

Meine Eltern begriffen mich nun überhaupt nicht mehr. Weihnachten feierten wir in der üblichen Weise, trotz unseres schönen Hauses, auch weiterhin alljährlich im Vogtland. Vor zwei Jahren, nach unserer Trennung, bat mich meine Mutter, nicht zu kommen. Der Vater würde mich nicht verstehen, und die ganze Sache sei so unerfreulich, dass sie sich nicht das Weihnachtsfest verderben lassen wollten. Jacob könne sie gern besuchen, solle es sogar bitte unbedingt, aber mich wollten sie nicht sehen. Das tat weh, aber noch schlimmer war, dass ich so auch meine kleine Großmami nicht sehen durfte. Sie lebte nach einem Schlaganfall seit kurzem bei meinen Eltern. Ich hatte also keine Chance, sie allein zu besuchen. Dies erste Weihnachten, weg von zuhause, getrennt von Jacob, den ich auch immer noch als mein eigentliches Zuhause empfand, war eine Qual, und ich weiß bis heute nicht, wie ich es eigentlich überlebt habe. Ja, ich habe Dich angerufen …

Ich habe Dir geschrieben – nichts von all dem natürlich und dennoch einen Brief. Ich habe sie immer als Brücken empfunden, diese Briefe. Obwohl ich bereits das Gefühl hatte, dass Du nur wenig mit ihnen anfangen konntest. Was war es, dass gerade diese Fremdheit zwischen uns mich nie abzuschrecken vermochte? Ich wollte hinter sie dringen, ich wollte Dich begreifen und von Dir begriffen werden. Dabei hatte ich doch gar kein Recht dazu …

‚Warum werden gerade diejenigen Wünsche, die auf Irrtümer gründen, in uns übermächtig?‘ Dieses Zitat aus Christa Wolfs „Kassandra“ schriebst Du einmal an Deine Küchenwand. Warum gerade dieses, habe ich Dich damals nicht zu fragen gewagt. So vieles habe ich nicht zu fragen gewagt. Ich wollte nicht in Dich dringen, und ich hoffte wohl auch auf die Zeit. Ich glaubte ja, dass wir sie miteinander haben würden und dass ich Dich einfach nur in ihr nach und nach erspüren bräuchte. Von jeder Begegnung nahm ich mir ein Blatt mit, auf dem ich Dich zu lesen bekam, und irgendwann würden die Seiten zu Kapiteln werden und das Buch zu einer verständlichen Geschichte angewachsen sein. So dachte ich. Und die Zeilen, in die Du mir Einblick gewährtest, erfüllten mich so sehr, dass ich sie ständig bei mir trug und begann, sie auswendig zu lernen.

‚Warum werden gerade diejenigen Wünsche, die auf Irrtümer gründen, in uns übermächtig?‘

Heute nun ist mir so, als hättest Du eben dieses Zitat für mich an Deine Küchenwand geschrieben. Ich sehe Dich vor mir, erinnere genau den Moment, da Du mit diesem dicken Deko-Marker Deine schwungvollen Buchstaben maltest. Die Erzählung hattest Du mir zuvor wortlos aus der Hand genommen und nach dem Satz gesucht, ohne um meine Mithilfe zu bitten. Schließlich war mir das Schriftbild der Seiten ja noch vertraut. Ich hatte Dir gerade zwei Stunden aus der „Kassandra“ vorgelesen, während Du an Deinen Entwürfen zeichnetest. Das waren Glücksmomente, von denen ich mir erhofft hatte, dass sie uns ewig aneinander binden würden. Ach, Philipp … aber es hat sie wenigstens gegeben, diese Momente, und so bleibt meine Gegenwart von ihnen erfüllt. Ungeachtet dessen, dass diese von Dir schließlich miterlebten Momente schon längst in Dein Vergessen gerutscht sein werden. Meine Briefe an Dich wollten wohl auch dagegen ankämpfen. Aber wie macht man das, wenn doch den Gespenstern nicht zu befehlen ist, was der Adressat aus den Zeilen herauszulesen habe. Wenn dieser nicht empfangen will, bleibt der Schreiber machtlos …

Irgendwann habe ich es auch aufgegeben. Man sagt, der Mensch brauche etwa zwei Jahre, um mit Verlusten umzugehen. Aber was war denn mein Verlust? Wir haben nie zusammengelebt, es gab keine Zukunftspläne, es gab eine kurze Gegenwart und … meine Träume. Ja, und die waren es wohl, die stärker als jede Gegenwart sich in mir verbissen hatten.

Eigentlich musste Jacob durch mich doch viel mehr wegtragen. Ich bemühte mich zwar, ihm alles so leicht wie möglich zu machen, aber dabei kann es nur zu Fehlern kommen. Wir waren ja auch völlig ungeübt, miteinander zu streiten. Ein Krach, eine Auseinandersetzung hätte unsere Situation vielleicht sogar ein wenig klären können. Aber wie wir es gewohnt waren, gingen wir behutsam miteinander um. Ich betrat unser Haus nur noch, wenn ich wusste, dass er abwesend war. Es gab zwar eine Hilfe, aber sie konnte doch um so viele kleine Dinge nicht wissen, die in unserem Haushalt und für Jacob nötig waren. Auch das Gewächshaus besorgte ich noch eine ganze Weile, bis, ja, bis zu dieser einen Nacht, als Jacob bei mir klingelte. Es war Mitte Februar, er hatte gerade ein verlängertes Skiwochenende im Vogtland verbracht. Er stand vor mir mit einer solchen Verzweiflung in seinem Blick, wie ich sie noch nie an ihm erlebt hatte. Im ersten Moment glaubte ich, er müsse mir mitteilen, dass jemand Nahes, sein Vater vielleicht, an dem er sehr hing, verstorben sei. Er blieb eine Weile vor der Tür stehen, obwohl ich sie weit geöffnet und ihm einzutreten bedeutet hatte. Doch er machte einfach keine Anstalten, verharrte weiter vor der Schwelle und sah mich lange mit einem fremden und mir fast unheimlichen Blick an. Deshalb konnte ich ihn auch erst mit einiger Verzögerung umarmen.

Kaum legten sich aber meine Arme um seinen Hals, krallte er sich plötzlich in mich und fing so schrecklich, so herzzerreißend an zu weinen, dass mir angst wurde. Ich zog ihn in den Raum, und er ließ sich willenlos auf mein Sofa fallen. Es wurde eine schreckliche Nacht, in der wir uns Stunden ineinander verhakten und lange kein einziges Wort sprachen. Erst war es nur sein lautes und immer wieder kehrendes Schluchzen, das jedes Wort überflüssig machte, und dann befiel uns beide eine Erschöpfung, in der wir engumschlungen ein wenig eingeschlafen waren. Doch plötzlich spürte ich, wie er mit seinem steif gewordenes Glied in mich zu dringen versuchte und dabei immer wieder obszöne Worte aus sich herausstieß und fragte: „War es das?“, oder: „Ist es das?“

Ich schrie, aber nicht aus Lust, ich schrie, weil er mir so entsetzlich leid tat, weil ich wusste, dass das jetzt nicht er war, dass da etwas mit ihm geschah, was für ihn bis zu diesem Moment undenkbar gewesen wäre, und ich war schuld, ich hatte ihn dazu gebracht. Ich erinnerte mich, dass es auch vergewaltigte oder geschlagene Frauen gibt, die sich wohl ähnlich schuldig fühlten, wenn sich ihre Männer an ihnen vergingen.

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