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„Und, was sagt Ihre Mutter dazu, dass Sie hier sind?“

„Sie weiß es nicht, und ich habe auch nicht vor, mit ihr darüber zu sprechen.“

‚Sie hat Humor‘, denkt er, und ein Schimmer von Mut beginnt ihn einzunehmen. Mit zwei Fingern stößt er seine Wohnungstür hinter sich auf und sagt: „Kommen Sie rein!“ Und als sich der junge Körper an ihm vorbeiwindet, denn allzu weit hat sich der Flügel unter der Kraft seiner Finger nicht öffnen können, weht ihm ein unbekanntes Parfum entgegen, während er vorsichtig seinen Atem bei sich behält – außer Kaffee und Zigarettenrauch hat er heute noch nichts zu sich genommen.

„Kaffee, Espresso, Cappuccino oder Tee vielleicht?“, fragt Philipp in Penelopes Rücken und dirigiert sie den Flur entlang ein paar Stufen hinauf in die an sein Atelier grenzende Küche.

„Gern einen Tee“, antwortet sie und schwebt, ohne sich umzudrehen, interessierten, beinahe prüfenden Blicks die kargen, grob verputzten Mauern seines Entrées entlang.

„Schwarz? Grün? Weiß? Pfefferminz? Zitrone? Kamille? Ingwer? Frucht? Rooibos?“, zählt Philipp, halb singend, so wie er es bei ähnlichen Gelegenheiten gewohnt ist, auf. Und sie lacht, wie von ihm erhofft, ein schönes, ein vollkommenes, offenes Lachen, lässt ihm den perfekten, strahlend weißen Kranz ihrer Zähne unter den vollen, kirschrot bemalten Lippen entgegenleuchten. Jetzt lächelt auch er, fühlt sich entspannt, und in beinahe fröhlicher Erwartung lässt er Wasser in den Kessel laufen, um es auf der Gasflamme zu erhitzen. Dann lehnt er sich an seinen Herd und beobachtet sie erneut. Penelope, ihren Namen hat er immer noch nicht wieder erfragt, sieht sich in seiner Küche um. An den Wänden sind von Philipp zu unterschiedlichen Zeiten großzügig verteilt diverse Sätze geschrieben worden, die es ihm wert sind, dort mit ihm zu leben. Lächelnd zitiert Penelope: „‚Seines Todes ist man gewiss, warum soll man nicht heiter sein.‘ Nietzsche, 28. Juni …“

Während sie weiter seine Schriftzeichen zu entziffern versucht, als ginge es darum, einen bestimmten Spruch zu finden, der auch ihr einen Schlüssel zu etwas böte, was sie zu finden erhofft, begibt sich Philipp die paar Schritte zu ihr. Das schwarze wollene Mäntelchen lässt sie weich von ihren Schultern in seine Hände gleiten, und befriedigt stellt er fest, dass sie sich gleich auf einen seiner Barhocker schwingen wird. So, wie sie gekleidet ist und sich bewegt, scheint ihm das der vollendete Stil zu diesem Interieur zu sein.

Schnell räumt er einige Zeitungen, Zettel und Fotos auf dem Tresen zusammen, um alles auf zwei nebeneinander stehende Stühle zu stapeln, die schon mit ähnlichen Papierhaufen belegt sind. Dabei rutschen ihm mehrere großformatige Stadtansichten von Sydney heraus und verteilen sich auf dem Boden. Penelope hebt sie mit geschmeidigen, sorgfältigen Bewegungen auf. Da ihr dabei ein längerer und gezielt wirkender Blick auf eine der Fotographien passiert, glaubt Philipp ihr erklären zu müssen, wer die Architekten einiger der darauf abgebildeten Gebäude seien. Doch Penelope unterbricht ihn: „Tut mir leid, ich interessiere mich nicht sonderlich für Architektur, können wir das Thema also lassen?“

Verdutzt hantiert er an dem überbordenden Papierhaufen herum, ihn auszubalancieren, da der gerade droht, auseinanderzudriften und von den Stühlen zu gleiten.

„Darf ich rauchen?“, fragt Penelope und sieht sich nach einem Aschenbecher um.

„Sicher“, sagt Philipp und schiebt ihr eine Untertasse auf den Tisch vor einen seiner Barhocker, beobachtend, wie sie sich zu setzen anschickt, und fühlt sich nicht enttäuscht.

Ihre Bewegungen scheinen ihm merkwürdig kontrolliert, beinahe raffiniert, ähnlich denen eines Mannequins. Auch ihre Stimme hört sich reifer an, als sich ihm ihr Alter darstellt, tief, ein wenig rau. Ein Klang, den man nicht so leicht wieder vergessen wird, der sich einprägt und ihr etwas Unverwechselbares gibt.

„Was machen Sie in Rom?“

„Mein Vater lebt dort, und zu Weihnachten will ich ihn besuchen. Sonst haben wir Weihnachten immer in Deutschland verbracht, bei meinen Großeltern, aber dieses Jahr will ich das nicht, verstehen Sie …?“

Wie sollte er, denkt er, schenkt es sich aber, mit einem klaren „Nein“ zu antworten. Er will nicht noch mehr Verwirrung in die ungleiche Unterhaltung bringen. Zwar gesteht er sich ein, dass zu seiner Neugier inzwischen auch eine gewisse Ungeduld hinzugekommen ist, aber dennoch dünkt es ihm besser, zuzuhören, um zu begreifen, was diese Unbekannte zu ihm geführt habe, als weiter Fragen zu stellen. Inzwischen brüht er mit dem sprudelnden Wasser den von ihr gewünschten Tee auf.

„Ich bin in Mailand und Rom aufgewachsen.“

„Sie sprechen ein einwandfreies Deutsch“, sagt Philipp eher sachlich als anerkennend, während er Zucker, zwei Teegläser und eine weitere leere Teekanne bereitstellt, die er eben mit dem Rest des kochenden Wassers erwärmt und ausgespült hat.

„Na ja, ist ja schließlich meine Muttersprache.“

Einen Moment ist es still. Beide starren auf die gläserne Kanne, in der die Teeblätter ziehen, und beide lassen es gegenseitig zu, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen.

Nach einer Weile zündet Philipp das Teelicht in einem Stövchen an. Dann schüttet er den Aufguss durch ein Sieb in die bereitgestellte Porzellankanne und schenkt seinem Gast und sich ein.

„Wie geht es Ihnen?“, fragt Penelope plötzlich, und es klingt offensiv.

„Wie soll’s mir gehen? Was wollen Sie wissen? Was wissen Sie?“, entgegnet er und stellt die Teekanne behutsam auf dem Stövchen ab. Dabei scheint ihm seine letzte Gegenfrage ein wenig zu hart herausgerutscht zu sein.

„Na ja …“, sagt sie, und erstmals scheint sie ihm ein wenig irritiert, indem sie mit einem kleinen Nicken auf seinen Kopf verweist.

„Woher?“, fragt er wieder.

„Na ja, ich hab’s gelesen“, sagt sie beiläufig. „Waren Sie lange weg?“

Er schüttelt den Kopf: „Nicht übermäßig, es ist vorbei. Alles in Ordnung.“

„Alles in Ordnung“, wiederholt sie etwas prononciert, und er fühlt sich von diesem Mädchen, wie es ihm jetzt scheint, merkwürdig vorgeführt, mit einer Distanz betrachtet, die sie vorhin im Treppenhaus nicht hatte. Als müsse er sich wehren, sucht er nach Worten, weiß aber nicht, wo er beginnen soll, bei dieser Fremdheit zwischen ihnen. Da stellt sie ihm erneut eine Frage, auf die er nicht gefasst ist: „Haben Sie Kinder?“

„Nein“, antwortet er trocken.

„Und das wissen Sie so genau?“

„Nein.“

„Warum antworten Sie dann mit ‚Nein‘?“

Philipp fällt auf, dass sie inzwischen ihr freundliches Strahlen verloren hat. Etwas altklug Dozierendes haftet ihr plötzlich an, aber irgendwie möchte er nicht glauben, dass dies ein ihr vertrauter Wesenszug ist. Sie versucht ihm etwas vorzumachen, vielleicht möchte sie älter wirken als sie ist?

„‚Warum werden gerade diejenigen Wünsche, die sich auf Irrtümer gründen, in uns übermächtig?‘ Christa Wolf, ‚Kassandra‘“, liest Penelope jetzt in der oberen Ecke seiner Küche, und da die Buchstaben von ihrem Platz aus nur schwer entzifferbar sind, muss ihr das Zitat schon vorher bekannt gewesen sein.

‚Was ist das für ein Spiel?‘, denkt er und ist nur noch bestrebt, seine Verblüffung nicht zuzugeben, da ihr fragender Blick auf ihn gerichtet bleibt und sie mit ihrem „Und?“ eine Antwort einfordert.

„Ich korrigiere mich wie folgt: Nicht, dass ich wüsste. Oder wahrscheinlich nicht, wahrscheinlich habe ich keine Kinder.“

Philipp fragt sich, ob die Rätselhaftigkeit dieser Situation noch weiter Kraft hat, seine Neugier anzustacheln, oder ob er sich nicht doch schon wieder unangenehm bedrängt fühlen sollte. Warum gelingt es ihm nur nicht, diese Unterhaltung zu führen und schließlich auch zu lenken, so wie er es von sich gewohnt ist?

Plötzlich durchzuckt ihn ein Gedanke. Natürlich, warum ist er nicht viel eher auf diese Möglichkeit gekommen – statt dessen, gesteht er sich ein, habe er sich durchaus etwas mit ihr zu tun vorgestellt, was dieses fragwürdige Hin- und Hergerede in ein notwendiges und in gewisser Hinsicht sogar recht erregendes Vorspiel gewandelt hätte. Plötzlich aber drängt sich da eine Ahnung in ihm auf, die alles verändert und jene geschlechtlichen Gedankenspiele verbietet. Immerhin handelt es sich um eine Möglichkeit, konstatiert er, der sich wohl sehr viele Männer seiner Generation ausgeliefert finden können. Dass ihm ihr vorhin genannter Name nichts weiter gesagt hatte, als dass er ihn sofort wieder vergessen könne, spielt dabei nur eine unbedeutende Rolle. Aber sie hatte ungefragt und ziemlich schnell von ihrem Vater in Rom zu erzählen begonnen, daran erinnert er sich. In ihm arbeiten die Gedanken-Konstrukte abwechselnd für- und gegeneinander, und er glaubt jetzt nicht mehr, dass er das vor ihr verbergen kann.

Er muss sie einfach fragen, sagt er sich, und das ziemlich direkt, als bliebe nicht mehr viel Zeit. Mit dieser Möglichkeit hat sie sich gewandelt, die Zeit hier in seiner Küche. Plötzlich ist jede Erotik, die eben noch die abgestandene Luft seiner Küche aufgeladen und dominiert hat, wie weggeblasen. Wahrscheinlich, vermutet Philipp, wird es mit dem Unwetter draußen ähnlich sein, auf dessen Beobachten er wegen dieses ungeladenen Besuches verzichten musste. Doch jetzt soll es ihm nicht schwer fallen, seine ungeteilte Konzentration auf dieses junge Mädchen zu richten. Beinahe zärtlich sieht er sie an. Jetzt ist Philipp nicht einmal ansatzweise bemüht, sein Interesse an ihr zu kaschieren. Aber schon während er die erste Frage stellt, um endlich einer Gewissheit näher zu rücken, zweifelt er an der Richtigkeit seiner Vorgehensweise.

„Was macht Ihre Mutter?“

„Was soll sie machen? Sie wird wieder heiraten, nehme ich an.“

 

„Heiraten, so. Und Ihr Vater?“

„Er ist nicht mein richtiger Vater.“

„Aber Sie sagten doch, Sie besuchen ihn.“

„Ich habe kein Bock auf Familie hier in Deutschland, das ist alles. Ich habe die wichtigsten Jahre meiner Kindheit mit ihm verbracht.“

Aha, mit dieser Information fällt es ihm nicht schwer, seine Vermutung zu nähren. Er muss also doch mehr über ihre Mutter herausbekommen, obwohl, wieder befiehlt sich Philipp in kritisches Nachdenken, das wäre nicht unbedingt die Lösung. Schließlich gab es Zeiten, da war er unterwegs, wie es allgemein üblich gewesen ist, unter seinen Kommilitonen oder den jungen Assistenten an der Hochschule. Anfangs war auch Aids noch kein Thema, jedenfalls nicht in der DDR, und die jungen Mädchen nahmen im Allgemeinen die Pille. Die wurde ab dem sechzehnten Lebensjahr nach Bedarf verschrieben und von der Kasse, der einzigen für alle existierenden Krankenkasse, ganz selbstverständlich bezahlt. Und später – denn ihm wird klar, dass er mit seinen Überlegungen angesichts ihrer offensichtlichen Jugend nicht so weit zurückgehen muss – ja, auch später, eigentlich bis heute, überließ er den Frauen die Entscheidung, sich zu schützen.

Gerade überdenkt Philipp seine nächste Frage, da sagt Penelope plötzlich: „Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt.“

„So, und wie das?“

„Na ja, nachdem, was ich von Ihnen gelesen habe …“

„Ich dachte, Sie interessieren sich nicht für Architektur.“ Philipp meint mit einem nicht zu überhörenden Anteil an Humor geantwortet zu haben, der Penelope jedoch entgangen sein muss.

„Na und? Ist das so wichtig? Dass immer jeder seinen Job für das Nonplusultra hält!“, sagt sie, und es klingt abfällig.

Sie ist frech. Eine Frechheit, denkt er, von der sie glaubt, dass sie ihr zustünde.

Er denkt an seine Mutter und wie er sie nur allzu oft schroff und unwirsch behandelt. Aber immerhin ist er bei ihr aufgewachsen, hatten und haben sie eine Beziehung zueinander, in der es ihm eben auch passiert, unachtsam oder sogar erzieherisch mit ihr umzugehen. Trotzdem ist er von zärtlichen Gedanken an seine Mutter erfüllt, und in diesem Augenblick, da er eventuell … vielleicht – er will diesen Gedanken nicht weiter denken, sicher auch, weil er ihm gar nicht so unrecht wäre, weil er sich sogar in ihn verlieben könnte – nimmt er sich vor, noch heute Abend mit ihr zu telefonieren und etwas länger als sonst. Nun, wenn das jetzt hier so ausginge, wie es sich für ihn andeutet, dann sicher ziemlich lange.

Philipp weiß noch immer nicht, wie er es anfangen soll, sich Gewissheit zu verschaffen, ohne ein Gesicht zu verlieren, von dem er nicht einmal weiß, welches von den vielen da gerade in welcher Weise auf sein Gegenüber wirkt.

„Gut, aber warum … ich meine, wie haben Sie mich denn, sind Sie darauf gekommen, dass … ach, vergessen Sie’s …“

Penelope sieht ihn großäugig an und wirkt dabei durchaus so, als wüsste sie ihm bei der richtigen Formulierung seiner Frage zu helfen, genösse es aber, ihn bei seinem Stammeln zu beobachten.

„Sie sind eitel, das steht fest“, sagt sie betont kühl und sachlich.

„Ertappt! Was? Glauben Sie, ich würde das bestreiten wollen? Sicher bin ich eitel. Eitelkeit ist schließlich eine Verpflichtung. Sie verpflichtet, wie Besitz, wie Talent, wie … Aber, gut, wenn es Ihnen Spaß macht, dann bitte, werfen Sie es mir vor. Nur, Sie eventuell zu verletzen, wenn ich mich nicht verpflichtet fühle, den Vorwurf als einen solchen anzunehmen, wäre dann genau das, was mir meine Eitelkeit verböte. Ist es Ihnen möglich, mir zu folgen?“ Philipp zwingt ihren Augen weiter seinen forschenden Blick auf, und endlich kommt es zu einem Lächeln, das sie beide in ein gemeinsames Lachen auflösen.

Vorhin, als er noch mit ihr schlafen wollte, hätte er sich diesen Moment als Beginn einer körperlichen Annäherung gewählt. Aber jetzt sagt er in fast väterlich strengem Ton: „Erzähl mir von deiner Mutter.“

Penelope hat sein „Du“ nicht überhört.

„Was soll ich von ihr erzählen? Dass sie gerade von den Malediven zurückgekehrt ist mit ihrem …? Wir haben nicht das beste Verhältnis. Ich mag sie nicht besonders, und ich mag auch nicht über sie reden, das kannst du dir vielleicht zusammenreimen.“

Also ein schlechtes Verhältnis zur Mutter, und jetzt sucht sie ihren Vater. Er muss behutsam vorgehen. Immerhin ist das vertrauliche „Du“, was sich so unerschrocken, ja eher beiläufig zwischen sie geschlichen hat, eine hilfreiche Form, seine Forschungen zu betreiben.

Doch, als sie sich eine Zigarette anzündet, die dritte, seit diese junge Frau in sein Leben getreten ist, will ihm das auf einmal gar nicht mehr gefallen. Sie ist zu schade für diese Sucht. Er dächte ihre Generation sei aufgeklärter, klüger. Er sollte mit ihr darüber sprechen, aber nicht gleich heute, gemahnt er sich.

„Hast du einen Freund?“, fragt er plötzlich, um sich selbst abzulenken, auch, weil es ihn ganz einfach interessiert. Penelope inhaliert den Rauch ihrer Zigarette mit einem so tiefen Zug, dass es Philipp schmerzt, dann antwortet sie: „Mhm, na ja, eigentlich schon, oder – auch … aber man hört ja nicht so die besten Geschichten … ich will … also das klingt vielleicht blöd, aber ich will noch warten, bis … ich hab’ da eben eine andere Vorstellung, als sie meine Mutter vielleicht gehabt hat, oder Ihr sie habt.“

Was Philipp jetzt da herauszuhören glaubt, gefällt ihm sehr. Sie sollte nur bei einer solchen Einstellung andere Röcke tragen und sich nicht so betont aufreizend bewegen. Aber vielleicht ist ihr das gar nicht bewusst. Philipp meint, sie vor seiner Strenge verteidigen zu müssen

„Was willst du machen, studierst du?“

Sie lacht. Hat er was Falsches gefragt? Dann müsse sie ihm das nachsehen, er fühlt sich erst seit wenigen Minuten als Vater, und noch ist es ja auch nur eine Vermutung, eine schöne, verlockende, wie er sich eingesteht.

„Muss man studieren?“

„Man muss gar nicht, aber wenn man das Zeug dazu hat. In Zukunft teilt sich die Gesellschaft weiter in Informierte und Nichtinformierte. Entweder gehört man dazu oder …“

„Oder nicht, und du gehörst dazu?“

„Nun, ich glaube schon, mir geht’s nicht schlecht … Also, wenn du dich nicht daran stößt, dass ich meine Putzfrau ausgeladen habe, zeig’ ich Dir gern mal mein Atelier.“

Oder war das jetzt wieder eitel, fragt er sich verunsichert, da sie erneut so eigenartig lächelt. Er sollte sich weiter nach ihr erkundigen.

„Ja. Und was machst du so in Berlin?“

„Die Stadt ist cool, ich informiere mich in ihr, könnte ich so sagen und da ist ’ne Menge zu entdecken. Da hab’ ich dich eben auch auf meiner Liste, Professor Seefelder. Aber jetzt würde ich gern mal auf die Toilette.“

Philipp zeigt ihr den Weg. Während sie sich in seinem Badezimmer aufhält, geht er ins Atelier, zündet die Kerzen an, auf dem kleinen Tisch in der Ecke mit der Ottomane, und denkt, dass er jetzt nichts anderes getan hätte, wenn er sie als zu begehrende Frau für sich in seinem Bad wähnen würde; und plötzlich empfindet er Abscheu gegen solche Männer, wie er wohl einer war, als er noch keine Tochter hatte und dass er unbedingt über diese Gefahren mit ihr sprechen müsse. Wahrscheinlich würde dieser Italiener das versäumt haben. Was ist das überhaupt für ein Mann, der sich von ihr als Vater bezeichnen lässt, sie dann aber allein den Abgründen einer Großstadt überlässt? Ein solch schönes, unglaublich schönes Mädchen, hat der denn keine Augen im Kopf? Für ihn ist das vielleicht ganz selbstverständlich, aber hier in Deutschland laufen nicht so viele von denen herum.

Philipp spielt mit seinem Jochbein, bewegt den Kiefer hin und her, bis ihn das kleine Knacken, was für ihn hörbar ist, nervös zu machen beginnt. Zwar fühlt er sich von sich selbst ertappt, ein Schmunzeln darüber aber will ihm nicht gelingen. Für ihn hat sich die Sicht auf seine Welt sonderbar verkehrt. Selbst seiner Mutter meint er sich noch kaum so nah wie seit einer halben Stunde zu fühlen. In einer bisher nie empfundenen Rührung denkt er an sie und ist voller Vorfreude auf das Telefonat mit ihr. Er müsse sie unbedingt besuchen, auch unabhängig von Weihnachten. Sehr bald sogar, vielleicht könnte ja auch … aber nein, dieses Mädchen – wie hieß sie nur? – Penelope, erinnert er sich plötzlich, ja, ein ausgefallener Name war es, Penelope, wiederholt er in weichem Flüsterton, dann setzt er seinen Gedankenfluss fort. Also sie, Penelope, wolle nach Rom, übermorgen geht ihr Flieger zu diesem Ex-Mann ihrer Mutter, dessen Aufsicht nicht unbedingt die beste, die angemessene für so ein bezauberndes Wesen zu sein scheint … Philipp räumt zwar ein, dass er gerade dabei ist, ein wenig zu übertreiben, indem er sogar gewillt ist, selbst ihr eigenständiges Reisen, das Fliegen nach Rom, als gefährlich einzustufen. Dennoch beginnt er sich zunehmend in der Rolle des besorgten Vaters zu gefallen.

Da steht Penelope auf der Schwelle zu seinem Atelier. Ihre Wimperntusche ist unter den Augen verlaufen, auch ihre Lippen hat sie im Badezimmer nicht nachgezogen. Sie lehnt sich in den Türrahmen, beobachtet Philipp, wie er bemüht ist, etwas oberflächliche Ordnung in sein Atelier zu bekommen, gerade die Seiten des am Boden verstreuten Briefes aufnimmt. Dabei flackern zwei der Kerzen auf, wie ein kleiner, leiser Protest. Plötzlich sagt Penelope fest und bestimmt, dass sie jetzt gehen müsse.

„Wieso das?“, fragt Philipp erschrocken.

„Ich glaube, dass Sie mich nicht verstanden haben“, sagt sie in einer unheimlichen Distanz, die ihm so unerklärlich anmutet, dass er sprach-, und regungslos in der Mitte seines Ateliers stehenbleibt.

„Sie brauchen mich nicht hinauszubegleiten. Ich find’ mich schon.“ Und damit wendet sie sich zum Gehen, nur eine Spur weniger elegant als sie gekommen ist.

Philipp eilt ihr nach, hilft ihr in den Mantel. Gerade einmal eine halbe Stunde mag vergangen sein, dass er den an die Garderobe gehängt hatte.

„Jetzt haben wir überhaupt nicht über sie gesprochen“, sagt sie, eher in sich hinein als für ihn bestimmt.

„Ja, aber … haben wir denn … irgendwie haben wir vielleicht ja die ganze Zeit gar nichts anderes getan?“, fragt er zärtlich und wehmütig zugleich, in dem schmerzlichen Bewusstsein, sie nicht halten zu können.

„Wenn Sie das so meinen, na dann … Herr Philosoph, Sie sind ja der Informiertere von uns beiden …“

Hat sie das, obwohl ironisch lächelnd, nicht doch mit echter Wärme in ihrer Stimme nachgeschoben, fragt er sich und schaut ihr hinterher, wie sie die Treppe mit leichten, fast tänzelnden Schritten nach unten nimmt. Er wünscht sich noch einen Blick, so einen, der das Rätsel lösen könne, doch den schenkt sie ihm nicht. Und ein unbestimmtes Gefühl, sie nicht wiederzusehen, befällt ihn, nistet sich ein und wird ihm die Laune dieses Tages verderben.

Sein Loft ist nun erfüllt von dieser Ratlosigkeit, in der sie ihn zurückgelassen hat. Wie sich die Dinge in so kurzer Zeit verändern können, ohne dass mit ihnen etwas passiert ist? Sie hat sich gar nicht interessiert für sein Atelier, geschweige denn für seine Arbeit. Aber hatte sie nicht gleich zu Beginn zu ihm gesagt, sie möchte ihn kennenlernen? Er könnte ihr nachfahren, er könnte sie mit dem Lift noch leicht unten abfangen, weiß er. Dennoch bleibt er wie angewurzelt stehen. Eine Hilflosigkeit breitet sich in ihm aus, die er an sich so nicht kennt. Doch, einmal, erinnert er sich jetzt, und er erinnert sich ungern – mit schal-bitterem Geschmack auf der Zunge drängt sie sich ihm entgegen, diese Erinnerung. Einmal hat er sie ähnlich erlebt. Diese Hilflosigkeit, die sein Denken und seinen gesamten Bewegungsablauf in Zeitlupentempo gezwungen hatte. Auch damals war ihr Auslöser eine noch junge Frau gewesen. Kaum älter als die, die eben seine Schriftzeichen an der Küchenwand zu entziffern versucht hatte. Katharina, seine Studentin! Vorhin hatte er ihren Namen lesen müssen. Sie war wieder vor ihm aufgetaucht, durch Steffis Zeilen. Philipp fasst sich an die Kehle und berührt dann seine Halsschlagader. Da war es wieder, dieses den Atem übertönende Pochen. Vorhin war es nur vom Klingeln der geheimnisvollen jungen Frau unterbrochen worden, aber ausgelöst hatte es allein das Buchstabieren von Katharinas Namen in Steffis Brief. Philipp verzieht sein Gesicht zu einer Grimasse. Er hatte sich dieses Lebendigfühlen so ganz anders gewünscht, als er sich zur Lektüre der vielen Zeilen überredete. Dieses Lebendigfühlen allein durch das Pochen seines Herzens. Nun war es also Katharina, die so unvermittelt vor ihm aufgetaucht war und sein Herz rasen ließ. Bisher hatte er sich ein Erinnern an Katharina verboten. Weitgehend erfolgreich war er damit gewesen, schloss man Träume aus, die ihn ungefragt überkamen und das plötzliche Nennen ihres Namens, dem er genauso ungefragt ausgesetzt sein konnte. Dabei war Katharina nicht nur aus seinem Leben, sie war auch aus der Uni verschwunden. Ohne dass Philipp es auch nur im Entferntesten hätte begreifen können, blieb sie aus seinem Leben verschwunden. Verschwunden ohne Vorwarnung, ohne das kleinste Zeichen, ohne, dass er sich einer Schuld hätte bewusst werden können. Abschiedslos war sie gegangen. Und bis heute fragt er sich, ob das nicht überhaupt das Schlimmste an diesem Ende für ihn war. Sie hatte ihn des Abschieds nicht für wert befunden.

 

Vielleicht ist er aber auch überfordert mit dieser Generation? Philipp versucht sich in die Gegenwart zurückzuholen. Vielleicht versteht er diese Generation eben nicht? Sie hat so etwas seltsam Unverfrorenes und dabei so Beliebiges. Es nützt nichts, sich weiter in Gedanken zu verfangen, sagt er sich und weiß doch, dass er nun auch diese junge Frau von eben nicht aus dem Kopf kriegen wird, ja, er fürchtet sogar seinen Körper erneut befallen von Begierden, die gerade dieses Unwissen um sie und ihre Generation in ihm geweckt hat. Was aber hat er eigentlich mit ihnen zu schaffen? Wenn sie nicht gerade von ihm lernen wollen, er braucht sie nicht. Es stört ihn erheblich, dass die Fragen jetzt an den Wänden zu kleben scheinen wie der raue, ungleich aufgetragene Putz in seinem merkwürdig veränderten Atelier.

Im Interview mit der Zeitung, das eines seiner Studentenprojekte werbend unterstützen sollte, antwortet Philipp professionell, aber leidenschaftslos. An diesem Abend ruft er seine Mutter nicht an und sagt Olga ab, weil er auch den nächsten Tag sein Loft ungestört für sich allein haben will. Er nimmt sich vor, zu trinken und will morgen seinen Rausch ausschlafen. Vorher wird er aber noch diesen Brief zu Ende lesen.

In den letzten Stunden hatte er ihn zwar beinahe vergessen, nicht aber das Gefühl, was sich mit der Nennung von Katharinas Namen seiner bemächtigte. Vielleicht könnte dieser Brief ja wie eine Impfung gegen seine irrenden Gedanken um Katharina wirken. Das Kuvert und der ihm beigelegte Zettel im A5-Format sind noch immer im Badezimmer. Nur liegen sie nicht mehr auf den Fliesen am Boden. Penelope hatte beides aufgehoben und auf den Rand der Badewanne gelegt.

An wen denkst Du wohl jetzt, da es Dir klar sein muss, dass es für Dich vielleicht kein Erwachen mehr nach dieser Operation geben wird? Von wem nimmst Du Abschied? Welchen Bildern, welchen Menschen erlaubst Du, dass sie sich in Dir ausbreiten. Gibt es da eine Nische für mich? Wohl eine für Katharina, stell ich mir vor. Denn ich weiß, dass Ihr zusammen wart. Ich weiß alles, Philipp, denn ich war es, die sie Dir zuführte, die Euer Zusammensein dirigierte.

In diesem Café, in dem ich Euch beobachtete, unterstellte ich Euch ein Verhältnis, das damals aber noch gar nicht begonnen hatte. Nur in einem irrte ich mich nicht, Du warst verliebt, über beide Ohren verliebt, bemühtest Dich nicht einmal, das zu verbergen. Es strahlte über diesen Spiegel zu mir bis in meine dunkle Ecke hinein und durchstach mir meine Eingeweide. Aber Katharina konnte nicht im gleichen Maße in Dich verliebt sein, sie konnte es nicht wirklich genießen, von Dir begehrt zu werden.

Katharina Kleinschmidt ist lesbisch und das entschieden und bekennend, seit sie ihrer Pubertät entwachsen war und das, dank aufgeschlossener Eltern, ohne weitere Probleme. Das wusste ich, und ich wusste es von ihr. Sie hatte es mir selbst erzählt. Wenn sie also mit Dir zusammen war, so konnte sie nur eine Rolle spielen. So konnte es nur aus Berechnung sein. Vielleicht erhoffte sie sich durch die Beziehung zu einem berühmten Architekten, den mühseligen Weg zu einer eigenen Karriere zu verkürzen. Da es absurd und sicher auch sinnlos gewesen wäre, Dich zu warnen, fasste ich in meiner – sich nun erstmals auch noch mit Eifersucht aufladenden – Verzweiflung einen Entschluss. Wenn Katharina Dir eine Rolle vorspielte, was hinderte mich daran, ihr eine Rolle vorzuspielen?

Noch etwa eine halbe Stunde blieb ich sitzen und malte mir ein paar Vorgehensweisen aus, dann riefst Du nach der Kellnerin, die sich gerade in meiner Ecke aufhielt und bemerktest mich. Es dauerte nicht lange, da brachst Du auch schon, begleitet von einer Studentin und einem Studenten, auf. Ich werde wohl nie herausbekommen, ob Du ohnehin vorhattest zu gehen, oder ob der Gedanke, mit mir in einem Raum gesessen zu haben, Dir Dein Bleiben verleidete.

Jedenfalls waren Katharina und ein weiteres Pärchen am Tisch sitzen geblieben. Ich nahm all meinen Mut zusammen, diese Gelegenheit zu nutzen, mich Katharina zu nähern. Aber ich wusste auch, dass das, was ich in der letzten Dreiviertelstunde durchlebt hatte, jetzt durch nichts Schlimmeres mehr übertroffen werden konnte.

Katharina machte es mir leicht. Kaum hatte sie mich erkannt, glühten ihre kleinen Pausbacken erneut auf, und ich konnte beruhigt feststellen, dass dieses Rot sich auch in Flecken über ihren Hals verbreitete, was offensichtlich während der Begegnung mit Dir nicht in dem Maß der Fall gewesen war. Ich verwickelte sie in ein Gespräch, wobei mir mein ehemaliger Job als Sprechstundenhilfe meines Mannes hilfreich war, und wir verabredeten uns.

Ich wollte mit ihr in eine Beziehung treten, deren Art und Weise ich mir damals noch nicht ausmalen konnte, von der ich mir aber vor allem eine sich ganz selbstverständlich ergebende Nähe zu Dir erhoffte. Ich hatte sehr wohl bemerkt, dass ich auf Katharina immer noch anziehend wirkte. Eben noch musste ich erleben, wie Katharina ihre Weiblichkeit und ihre Jugend ausgenutzt hatte, Dir zu gefallen. Diese offensichtliche Berechnung schmerzte mich für Dich, aber sie konnte mir auch eine Chance eröffnen, nämlich, Dir nahe zu sein. Ja, und so versuchte ich, mich Katharinas Mittel bedienend, sie für meine Pläne zu gewinnen. Denn ich bin nicht lesbisch, habe auch keine sonderlichen Sympathien in der Richtung, es gibt überhaupt für mich nur noch Gedanken an Sexualität, die ich mit einem einzigen Menschen verbinde, und dieser hat seine Türen schon fast drei Jahre vor mir verschlossen.

Ich schaue hinaus. Der Tag ist jetzt endgültig da. Es gibt ihn also, diesen Tag, an dessen Ende vielleicht auch eine Endgültigkeit steht …

Wieso sage ich ‚vielleicht‘? Habe ich mir nicht auferlegt, dass, wenn Du ihn überleben solltest, ich wenigstens diesen Abschiedsbrief an Dich verfasst habe? Sollte es nun heute ein Abschied werden, bei dem das Gefühl dem Verstand zu folgen vermag? Denn wie viele Abschiede habe ich schon versucht? Nicht einen einzigen davon hast Du mitbekommen. Für Dich war alles in diesem flüchtigen, von Dir gewünschten und beschlossenen Gespräch vorbei. Danach konntest Du wieder zu Deiner Tagesordnung übergehen – Du hast es irgendwann begonnen, und Du würdest es auch beenden. Das war von Anfang an klar. Die Spielregeln diktiertest Du, nach dem grausamen Wissen, dass immer der, der weniger liebt, seine Stärke und die Übersicht behält. Wenn aber einer gar nicht liebt? Dann gibt es noch nicht einmal diese Regeln, dann gibt es auch keine Verantwortung, dann weiß keiner, wann das Spiel eröffnet ist, dann kann alles in sich zusammenbrechen, ohne dass es eines Wortes bedarf. Aber jemanden, der zu reagieren hat, wie auch immer, den gibt es, der ist da, sobald – gefordert oder nicht – dieses Etwas entstanden ist, was nicht, leider nicht, wegzubefehlen oder auszupusten ist, dieses Gebilde, das der Starke belächeln kann, das aber außerhalb seiner Reichweite, seines Einflusses dennoch besteht, dieses Monstrum, das er fürchtet und das wir mit dem Wort ‚Liebe‘ bezeichnen.