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Jacob, er hatte alle Voraussetzungen, überall, wo er war, an die Spitze zu gelangen. Schließlich stellte er es unzählige Male unter Beweis. Im Innersten seines Herzens aber war er ein zutiefst unsicherer Mensch. Ich kann mir sogar vorstellen, dass ihn noch heute die Angst begleitet, nicht angenommen und enttäuscht zu werden oder, noch schlimmer, selber zu enttäuschen. Ja, und gerade ich habe ihm diese Angst auch einmal bestätigen müssen. Wie sehr können doch nur auf Äußerlichkeiten begründete Eindrücke täuschen, wie sehr auch die Daten einer Biographie, Ämter und Würden. Nur wie man sich selbst empfindet, macht doch schließlich auch unsere Fähigkeit, dem Glück zu vertrauen, aus.

„So, und nun ist es gut“, sagt Philipp laut. Tief und gedehnt kommt es aus seiner Brust. Es hört sich an, als hätte er gerade jemandem Trost zugesprochen. Dabei ist es allein sein Gewissen, mit dem Philipp da zu reden meint. Sein Gewissen, das ihn bis hierher hatte lesen lassen, jedes Wort von Stefanie lesen lassen. Dass es ihm jetzt reichen darf, möchte er sich gern zugestehen.

„‚Nur wie man sich selbst empfindet, macht unsere Fähigkeit, dem Glück zu vertrauen, aus‘ – soll ich mir diese Weisheit in die Küche schreiben? Das wär’s ja wohl noch … hättest du gern, was?!“ Er bellt die Worte aus sich heraus. Ein Lachen gelingt ihm nicht, nur dieses Bellen. Die Seite mit dem eben zitierten Satz von Stefanie hat er dabei auf die Dielen gleiten lassen.

Das geheimnisvolle Konterfei eines befreundeten und von Philipp verehrten Rockmusikers taucht vor ihm auf. Es ziert den Buchdeckel einer Biografie, die er gestern zu lesen begonnen hatte. Obwohl die mit Herzblut geschriebenen Kapitel Philipp gefesselt hatten und teilweise sogar zu berühren vermochten, war die Lektüre von ihm zu Gunsten seines Nachtschlafs unterbrochen worden. Als gälte es, augenblicklich die Worte Stefanies in seinen Gedanken, ähnlich einem Palimpsest, mit denen des Rockmusikers Dirk Zöllner zu überschreiben, holt er sich das Buch aus seinem Schlafzimmer. Es gelingt ihm übergangslos, sich in die Bekenntnisse eines Mannes zu vertiefen, dessen Kunst ihn schon zwei Jahrzehnte begleitet. Sogar ein Stück Literatur hat dieser Musiker mit seiner Biografie der Welt geschenkt, meint Philipp, indem er sich von Steffi zu erholen beginnt. Doch als er nach einer halben Stunde ungeteilter Aufmerksamkeit daran erinnert wird, dass Dirk Zöllner nach einer gescheiterten Beziehung „Das letzte Lied“ aus der Feder geflossen ist, stockt er. Mit weicher Stimme wiederholt Philipp die Anfangszeilen: „Ich blute Worte aufs Papier / Drück meine Seele ins Klavier / Ab morgen bin ich schwindelfrei / Das ist die letzte Quälerei. / Ich schwör, dass es nicht mehr geschieht / Das ist das letzte Lied. / Dann hörst du nichts mehr von mir / Das ist mein Abschied von dir …“

Philipp klappt das Buch zu. Mit großen Schritten durchquert er sein Atelier. Nichts erinnert an den Greis vom Vormittag in seinem Badezimmer. Doch was ihn da plötzlich antreibt, kann er sich nicht erklären. Er fühlt eine absurde Kraft in sich aufsteigen, eine Kraft, deren Ursprung für ihn im Ungewissen liegt. Vielleicht, fragt er sich und hält inne mit seinem sinnlosen Durchqueren des Ateliers in Schritten, als gälte es aufzuholen, was ihm zu entrinnen droht, vielleicht ist es so etwas wie Neid, der ihn da überkommt? Neid auf Gefühle? Gefühle, die er so selber weder empfinden noch beschreiben könnte? Er sollte weiter lesen, denkt er, und damit meint er nicht Dirk Zöllners Biografie, die zu beenden ihm eine Freude wäre, er meint tatsächlich Steffis Brief. Vielleicht gibt es einen Schlüssel, und vielleicht kann ihm dieses bisschen Selbstüberwindung am Ende ein Gefühl bescheren, ein Gefühl, was ein wenig an das seines nächtlichen Treppensteigens heranreicht, denn auch dafür brauchte es immer erst einen Kampf gegen seine innere Trägheit.

Philipp sucht die am Boden verstreuten Bögen zusammen. Das Klingeln des Telefons, das seit geraumer Zeit in Abständen immer wieder die Stille unterbricht, überhört er weiter. Er fühlt sich nicht bereit für Gespräche jeglicher Art. Irgendwann wird er heute noch welche führen müssen. Nur will er den Zeitpunkt dafür selbst bestimmen. Etwas hatte seine Krankheit vor einem halben Jahr doch bewirkt. Er hat den Umgang mit seinem iPhone grundsätzlich geändert. Über Stunden lässt er es ausgeschaltet, verwehrt sich dem Automatismus, der seine Finger schon bei kleinsten Fragen des Alltags über das Display streichen ließ. Dafür bleibt es ihm weiter unmöglich, den anderen Hinweis seiner Ärzte zu befolgen und das Rauchen zu reduzieren. Vielleicht hat er sich auch nie wirklich darum bemüht, überlegt er, während sein Daumen an einer Ecke der beschriebenen Briefbögen in seiner Hand zu spielen beginnt. Anfangs war es ihm schwergefallen, nicht ständig seine Mails zu checken, dann aber hatte er die gewonnene Unabhängigkeit genossen. Er hatte sich überwunden und an Freiheit und an Zeit gewonnen. ‚Manchmal muss man sich eben etwas auferlegen, auch wenn man im Moment den Sinn nur schwer begreift‘, denkt er und ist gewillt, sich jetzt aufzuerlegen, diesen Brief bis zum Ende durchzulesen.

Als ich Dir das erste Mal begegnete, wusste ich zwar um Deine Bekanntheit und einige Deiner erfolgreichen Bauten und Projekte, aber Du machtest auf mich einen eher menschenscheuen, erstaunlich unsicheren Eindruck. Mir fiel es dadurch nicht schwer, offen auf Dich zuzugehen und das Gespräch zu suchen, als Du mit Deinem Glas Rotwein in einer Ecke von Jacobs Arbeitszimmer standst, so allein, in Dich gekehrt und scheu. Wie falsch dieser erste Eindruck war, habe ich ziemlich schnell, eigentlich schon nach Deinen ersten Bemerkungen erfahren. Kannst Du Dich an unser erstes Gespräch erinnern? Ich weiß es wie heute, Du sprachst über Santiago Calatrava und seine Arbeiten. Ich war fasziniert vom Klang Deiner Stimme, auch wenn ich schon damals nicht alles verstand, was Du mir erzähltest. Du kümmertest Dich nämlich nicht darum, ob mir auch all die Termini geläufig seien, mit denen Du Deine Reden schmücktest. Das kannte ich zwar schon von den Kollegengesprächen meines Mannes, aber durch meine Ausbildung, war ich da nie so ganz im Hintertreffen. Wie anders ging es mir nun aber mit der Architektur. Mein Interesse an ihr schloss nicht aus, dass mein Wissen doch sehr begrenzt und lückenhaft war. Im Umgang mit Dir allerdings wurde mir bewusst, wie beschämend groß das traurige Ausmaß meiner Unbildung war. Aber ich wurde zugleich süchtig, das zu ändern. Ich wollte nicht nur als die Dumme neben Dir stehen, als die ich mich, seit ich meine Heimat verlassen hatte und an Jacobs Seite lebte, nicht mehr zu fühlen brauchte. Komisch, trotz meiner Bemühungen habe ich in Deiner Gegenwart niemals das Gefühl verloren, die Unwissende und die Unterlegene zu sein …

Aber das war ein mir – aus meiner Kindheit und Jugend herrührendes – vertrautes Gefühl. Auch als Du mich dann plötzlich wolltest, war das für mich so unverständlich, wie es das in der Anfangszeit mit Jacob gewesen war. Damals schon vergiftete ich die gegenwärtigen Momente mit sinnlosen Grübeleien darüber, was wohl an mir zu finden sei. Als ich Jacob näher kennengelernt hatte, beantwortete ich mir diese Frage mit der Vermutung, dass er sich vielleicht ausmalte, dieses ‚Frettchen‘ – mich nämlich – ganz sicher für sich allein zu haben, dass es ihm treu zur Seite stehen und ihn lieben würde, weil es ihm niemals von einer Konkurrenz abspenstig gemacht werden könne. Aber Du? Was war es bei Dir? Du brauchtest niemanden, Du warst ganz und gar bei Dir und mit Dir eins; lebtest bekennend allein, frei, ungebunden, gewollt und gefragt auf vier Kontinenten, so hieß es … und dann ich …?

Um meine Schwester brauchte man sich damals übrigens keine Sorgen zu machen. Sie tröstete sich noch am Abend dieses besagten Balls mit einem Schüler aus der parallelen Abiturklasse, der wie Jacob in der Schulband Gitarre spielte und sang. Nur war der längst nicht so charismatisch wie Jacob, mit dem sie hätte besser angeben können. Ja, und deshalb fühlte sie sich wohl noch lange innerlich von mir beleidigt, auch wenn ich alles dafür tat, schon, um mein Glück nicht zu gefährden, sie mir günstig zu stimmen. Entspannt wurde sie erst, als sie sich während des Studiums mit den begehrtesten Männern einließ, die so eine Universität zu bieten hatte, und es für sie wohl ein Sport wurde, Trennungen immer recht plötzlich und für ihre Partner äußerst überraschend in die Hand zu nehmen. Da war sie sogar dann schon so weit, sich über meine spießige Verbindung, in der wir beide es ihrer Meinung nach nicht zuließen, jeweils über den Tellerrand zu schauen, lustig zu machen. Es tat mir nicht weh, und auch Jacob schmunzelte nur darüber. Ich wünschte mir nichts sehnlichster, als mein Leben lang diesen Mann und ausschließlich diesen Mann zu haben. Ich wollte gegen all diese Trennungen und Neufindungen um mich herum ein Exempel statuieren. Jacob war der erste Mann, der mich küsste, Jacob war der Mann, der mich entjungferte, er war der Mann, mit und für den ich leben wollte, und wenn’s ans Sterben ginge, am liebsten natürlich, auch das wünschte ich mir, gemeinsam mit ihm! … Ja, wie oft dachte ich gerade in jungen Jahren daran. Immer, wenn ich besonders glücklich war, musste ich unweigerlich auch an den Tod denken, an unser Ende. Es kam nur dieses, dieses von der Natur unausweichlich gesetzte Ende für mich in Frage. Eine andere Frau, ein anderer Mann – allein schon einen solchen Gedanken weiter zu denken, war mir unmöglich …

Oh, Philipp, es geht mir so vieles durch den Kopf, was Du sicher gar nicht als für Dich bestimmt ansehen wirst. Vielleicht denkst Du sogar, ich verlöre Dich gerade eben als den Adressaten dieser Zeilen, aber das ist nicht so, das ist nun schon lange nicht mehr möglich, auch wenn ich selbst aus meinen Zusammenhängen gerissen bin, so habe ich nie aufgehört, die Dinge in einem Bezug zu Dir zu sehen, mich zu fragen, wie Du denkst, wie Du fühlst, was Du in einem bestimmten Augenblick vielleicht sagen oder tun würdest. Stellte mein Leben ein Gefäß dar, wäre es zwar schon lange ein zerbrochenes, dem die wichtigsten Scherben zum Wiederzusammensetzen fehlen; aber gleichzeitig weiß ich von dieser Modelliermasse, die existiert, die mich von den wunderbarsten neuen Formen träumen lässt, den Möglichkeiten einer Vollendung. Sie gäbe diesem Gefäß seine Bestimmung zurück, könnte es zu neuem Leben erwecken …

 

Ach Philipp, jetzt passiert genau das, wovor Dir sicher immer bange war. Ich ergehe mich in diesen erschreckenden Sehnsuchtsgedanken nach Dir. Jetzt, da ich hier in Berlin in meinem Dachzimmer sitze und auf das unweigerliche Erwachen des Tages warte. Dieses alles entscheidenden Tages … ich erhoffe ihn nicht, sehne ihn nicht herbei, ich weiß schon jetzt, wie er sich anfühlen wird und wie ich mich in ihm anfühlen werde. Denn wie auch immer er ausgeht, welche entsetzliche oder erlösende Entscheidung er bringt, er wird mir der fremdeste Tag meines Lebens werden und sicher auch bleiben! – Voller Furcht, voller Gewissheit, voller Ohnmacht sehe ich ihm wie mit den Augen einer Kassandra entgegen. Im Moment habe ich so wenig Hoffnung, dass mich ein noch so naiver Optimismus mit jungfräulichen Gedankenspielen ausstatten könnte, in denen es eine Begegnung mit Dir gibt. Und dabei denke ich an eine so simple Begegnung, wie sie der Zufall bringt, wenn sich die Wege zweier Bewohner ein und derselben Stadt kreuzen. Mehr nicht, ganz bestimmt nicht mehr.

Obwohl es doch gar nicht so ein erhebendes Gefühl für mich gewesen ist, als wir uns das letzte Mal zufällig begegneten … Es war in jenem Café, in dem Du von einer Gruppe Deiner Studenten umringt warst und, wie es schien, gefeiert wurdest. Ich konnte Dich eine ganze Weile aus meiner Ecke heraus beobachten, lange bevor Du mich sehen solltest. Als ich die Wendeltreppe von der Toilette kommend hochstieg, hatte ich Dein Lachen schon gehört und konnte, noch bevor ich den Raum betrat, all diese erschrockenen Gedanken, die sich blitzartig meiner bemächtigten, wieder ordnen, um in einiger Fassung Deinem Blick widerstehen zu können, falls er mich treffen sollte. Wie oft war es mir doch vordem ergangen, dass ich Dich irgendwo vermutete, auch ersehnte und dann einer Verwechslung erlegen war. Jedes Mal war dabei ein so hoher Grad an angstvoller Erregung, mit der ich dann zu kämpfen hatte, dass mich Enttäuschung und Beruhigung in gleicher Stärke wieder auf den Boden brachten.

Aber jetzt war es kein Irrtum. Ich sah Dich sogar schon ganz deutlich, unverkennbar, der Kranz Deiner rotbraunen Locken zeichnete sich gegen das Licht der Mittagssonne ab, die durch die große Scheibe drang. Gott sei Dank hattest Du mir den Rücken zugewandt, und so schlich ich mit einer mir gezwungen abverlangten Gelassenheit an Euch vorbei, schnappte meine Jacke und den halbleeren Milchkaffee von dem kleinen, fast mittig stehenden Nebentisch, mir einen anderen Platz in einer Ecke des Cafés zu suchen. Von dort aus konnte ich Dich über meine Schulter hinweg beobachten. Ich war aber in einer solchen Anspannung, dass ich noch nicht einmal diesen Blick über meine Schulter nötig hatte, um nicht jede Deiner Bewegungen zu spüren. Ich zitterte und warf plötzlich völlig unmotiviert meinen Kopf ins Genick und zog die Schultern nach oben. Diese Haltung weckte in mir die Vorstellung, augenblicklich einen riesigen, um Erlösung ringenden Schrei in die Luft zu schicken. Doch da sah ich einen goldgerahmter Barockspiegel, der über mir schräg an der Decke hing und durch den es mir möglich war, Dich und die Szene an Deinem Tisch voll im Blick zu haben, ohne selbst gesehen zu werden. – Nur, was ich jetzt sah, steigerte meine Qual ins Unermessliche. Du nahmst gerade den Kopf eines jungen Mädchens neben Dir zärtlich in beide Hände und sprachst auf sie ein, ungeachtet der übrigen Studenten am Tisch, die sich allerdings auch nicht weiter darum scherten, sondern sich in angeregten Gesprächen zu überschlagen schienen. Umso deutlicher botet Ihr, dieses junge Mädchen und Du, das Bild einer stillen, intimen Einheit. Jetzt schob sie ihre Finger unter Deinen linken Handballen, mit dem Du begonnen hattest, rhythmisch auf die Tischkante zu trommeln, während Du mit der anderen Hand ihr Genick weiter festhieltest und nicht zu sprechen aufhörtest. Sie nickte sanft, aber unablässig, und begann dabei ihre Finger, wie nebenher, aber voller Zärtlichkeit, wie mir schien, Deinen Arm entlang bis zu Deiner Schulter hinaufgleiten zu lassen. Gleich würde sie an Deinem Hals stoppen und ihn fassen. Deinen Hals, den ich doch noch an den Innenflächen meiner Hände zu spüren glaubte, den ich mit meinen Lippen, mit meinem Gesicht, so oft und mit sich nie erfüllender Sehnsucht eingenommen hatte … Aber da ließest Du plötzlich von ihr. Irgendjemand am Tisch schien etwas gesagt zu haben, auf das Du mit einer Bemerkung einzugehen gedachtest. Du löstest Deine Hand so behutsam vom Kopf des Mädchens, dass es mich zu zerreißen drohte. Ähnlich einer Zeitlupenaufnahme musste ich mitansehen, wie Du ihr Nackenhaar durch Deine Finger gleiten ließest, ihr über die Schulter strichst, ihre Schulter abschließend kurz drücktest und dann Deinen Arm auf die Lehne ihres Stuhls legtest, wobei Du mit dem Oberkörper weiter halb zu ihr geneigt bliebst. Dann holtest Du tief und demonstrativ sichtbar Luft, und schon hattest Du die Aufmerksamkeit des ganzen Tisches. Jetzt konnte ich auch das Mädchen neben Dir näher betrachten und starrte ein wenig ungläubig in den Spiegel – ich glaubte Katharina, eine frühere Patientin meines Mannes, zu erkennen. Es verwirrte mich, ausgerechnet Katharina da sitzen zu sehen. Katharina Kleinschmidt! – sie war mir sehr wohl bekannt. Unmöglich konnte sie Deine Freundin sein. Oder hatte ich die Szene eben falsch gedeutet?

Die Kellnerin störte mich, ich bestellte mir noch ein Wasser, ließ aber meinen Blick nicht von dem, was mir der Spiegel vielleicht noch weiter offenbaren konnte. Jetzt redetest Du mit weit ausholenden Gesten, und alle hörten Dir aufmerksam, in heiter gelöster Runde, zu. Ich versuchte, Katharinas Gesichtsausdruck zu entziffern. Sie hatte eine schon beinahe brave Haltung neben Dir eingenommen, saß kerzengerade auf ihrem Stuhl und lächelte in sich hinein. Dann schien Dein Blick sie wieder zu streifen, und jetzt konnte ich deutlich sehen, dass ihre kleinen, pummeligen Wangen erröteten. Sie sah Dich dermaßen bewundernd an, dass ich mir ein kurzes scharfes Auflachen in meiner Ecke nicht verhehlen konnte. ‚Katharina Kleinschmidt‘, schüttelte ich den Kopf, und sah sie vor mir, als sie in Jacobs Praxis eine Zeitlang zu jeder Sprechstunde im Wartezimmer saß. Katharina Kleinschmidt. Ich kannte dieses steife und in sich gekehrte Dasitzen, und die Röte auf ihrem Gesicht war mir ebenfalls ein vertrauter Anblick. Sollte sie wirklich ihre eigentlichen Vorlieben für Dich vergessen haben? Offensichtlich, offensichtlich hatte sie ihre Veranlagung verdrängt und sich in eine Verbindung mit Dir begeben. Aber wie hätte es auch sein können, sich nicht in Dich zu verlieben, Dich nicht zu bewundern? In diesem Augenblick wurde mir wieder einmal die Unsinnigkeit, Dir entrinnen zu wollen, bewusst, aber das ist wohl ein sehr typisches Denken für eine derart Besessene, wie ich es wohl … war. Oder bin? … Oh Gott, oh Gott, oh Gott!!!

An wen denkst Du wohl jetzt, da es Dir –

Es klingelt, und dieses Mal ist es nicht das Telefon, für das sich Philipp noch immer nicht bereit fühlt. Erst am Nachmittag, wenn er den Anrufbeantworter abhört, will er entscheiden, mit wem zu sprechen ihm notwendig erscheint.

Er erhebt sich, legt die Briefbögen beiseite und geht in den Flur, nachdem es wiederholt geklingelt hat. Jemand fordert Zutritt ins Haus. Mechanisch bedient er den Türöffner im Flur, die Sprechanlage lässt er unberührt, es interessiert ihn nicht, was die fünf Stockwerke unter ihm geschieht.

Nach einer Weile, er ist schon wieder im Atelier, steht vor der riesigen Fensterfront, sucht mit leerem Blick, seine Gedanken in die vorüberziehenden Wolken zu zwingen, klingelt es erneut.

„Ich hasse es, ich hasse es, ich hasse es.“ In gleichbleibendem Rhythmus pustet er die drei Worte, leise und beinahe zärtlich, durch seine nur leicht geöffneten Lippen. Dabei löst er sich nicht aus diesem Wolkendrama, dem jetzt ein aufkommender Sturm folgt und den Philipp willkommen heißt. „Nur zu, nur zu“, sagt er im gleichen Ton wie eben und glaubt doch nicht ernstlich, diesem dunkel-aufgewühlten Himmel befehlen zu können.

‚Mittag, und man müsste das Licht einschalten‘, denkt er, würde er sich wieder zu diesem Brief begeben, der noch lange nicht zu Ende gelesen ist. Aber gleich könnte das Unwetter entschieden sein, und er will sich nicht entgehen lassen, es von dieser Stelle aus zu beobachten.

Es klingelt erneut, doch jetzt bedrängend lange an seiner Wohnungstür. Philipp ist, als schauten da zwei fremde Augen über seine Schulter, in die gleiche Richtung mit ihm, kreuzten dabei quälend nah den Rhythmus seines Atems.

Er begibt sich erneut in den Flur, dieses Klingeln durch das Öffnen der Wohnungstür zu unterbinden. Dabei wird er nicht gewillt sein, zu verbergen, dass er sich gestört fühlt. Unfreundlich und kurz ist dann auch sein „Ja?“, das er, beim ungestümen Aufreißen der schweren Wohnungstür, noch durch den ersten Spalt, der Klingelnden entgegenknurrt.

„Guten Tag, ich bin Penelope Creutzberg, ich möchte Sie kennenlernen.“

Nur der Bruchteil eines Sekundenblicks genügt Philipp, zu erfassen, dass da eine außergewöhnlich schöne Frau vor ihm steht. ‚Geballte Schönheit‘, denkt er. Schönheit, die wehtut, schmerzt in ihrer Unmittelbarkeit, und sie gehört zu einer sehr jungen Frau. Es bedarf keines zweiten Blicks für ihn. Diese Art Schönheit muss nicht erst aufgespürt werden. Geheimnislos steht sie vor ihm. Für Philipp so eindeutig, dass ihm die klassischen Skulpturen der Uffizien in den Sinn kommen. Er bemerkt, dass er den Kopf schüttelt, als er wieder einmal zu verstehen glaubt, wie es ist, sich von dieser Art Fleisch gewordener Schönheit geblendet des Atems beraubt, ja, beinahe gelähmt zu fühlen. Gleichzeitig belustigt ihn der Vergleich mit den Uffizien, und ein Schmunzeln erhellt sein Gesicht. Als ob er sich anschickte, darüber zu erstaunen, fährt er sanft mit zwei Fingern an den Konturen seines Munds entlang, diesem ersten Schmunzeln seit einer Fülle von Tagen nachzuspüren. Doch versagt er sich wie gewohnt dabei, an den drei oder vier seine Oberlippe überbordenden Barthaaren zu zwirbeln.

Die nicht zu übersehende Tatsache, dass er mehr als zwei Jahrzehnte älter ist als dieses menschgewordene Wunder hier vor ihm im Treppenhaus, lässt ihn die Fassung wiederfinden, noch bevor die junge Frau seine Irritation bemerkt haben kann.

Sie ist gewillt, der Zögerlichkeit des vielbeschäftigten Professors in selbstbewusster Freundlichkeit offen entgegenzulächeln. Philipp wird sich blitzartig der vertanen Stunden seines Vormittags bewusst und tritt auf die Schwelle zwischen Flur und Treppenhaus.

„Oh, ähm, das ist, das ist sehr schmeichelhaft, aber äußerst ungünstig“, stammelt er jetzt und verrät damit nun doch seine Befangenheit. Schnell setzt er nach: „Jetzt, jetzt ist es äußerst ungünstig.“

Die ganzen letzten Tage wäre es ungünstig gewesen, da er sich nun mal entschieden hatte, diese in seiner Höhle verkrochen vorüberziehen zu lassen. Er hatte sich eingeigelt und eingemöhlt, jeden menschlichen Kontakt gemieden, verknistert in Gedanken, die sich an der der Jahreszeit entsprechenden Düsternis orientierten.

„Wann wäre es denn günstig, Herr Professor Seefelder? Ich kann wiederkommen. Morgen vielleicht?“

Philipp ist noch zu erschrocken und unvorbereitet, dass er gar nicht erst versucht, ihre Beharrlichkeit einzuordnen. Er starrt sie an und weiß wieder eine Sekunde zu lang nicht, was zu entgegnen angebracht sei. Die junge Frau, die sich mit Penelope Creutzberg vorgestellt hat, neigt ihren Kopf ein wenig zur Seite und schlägt die Augen nieder, als wolle sie ihn allein lassen beim Finden seiner Antwort. Philipp glaubt, sie dabei tief einatmen gehört zu haben, und da sie jetzt ihren Blick langsam, wie aus einer weiten Ferne kommend, wieder auf ihn richtet, fühlt er sich trotz der Faszination, die diese Unbekannte auf ihn ausübt, merkwürdig bedrängt, so dass er sich zu schützen wünscht.

„Nein, nein, morgen geht es gar nicht, da …“ Philipp räuspert sich und sucht nach seiner gewohnten Souveränität im Umgang mit jüngeren Menschen, die sich etwas von ihm erhoffen, indem er seine Locken aus der Stirn streicht und, sich gespannt aufrichtend, eine besonders gerade Haltung einnimmt.

Penelope ist in ihrer modelgleichen Grazilität zwar ziemlich hochgewachsen, aber dennoch überragt Philipp sie um Kopfeslänge.

 

Was habe diese fremde junge Frau zu interessieren, welche Angelegenheiten seinen morgigen Tag bestimmen sollen, fragt er sich, außerdem sei wohl so etwas Profanes wie Wohnungsputz nicht das Thema, mit dem dieses Wesen zu behelligen wäre.

Philipp überlegt, ob er sie zu DUSSMANN bestellen solle. Dabei kommt ihm erst jetzt in den Sinn, dass es angebracht sei, zu fragen, was sie überhaupt von ihm wolle. Ein Interview vielleicht? Sollte sie von der Zeitung sein? Er hatte dieses doch am Telefon zu führen gewünscht. Der Termin war auf den Nachmittag festgelegt. Vielleicht ist sie es, die ihn in der letzten Stunde immer wieder anzurufen versucht hatte.

Seine Vermutungen überschlagen sich. Andererseits scheint sie für eine angestellte Journalistin noch zu jung zu sein. Vielleicht sucht sie Hilfe für ihre Bewerbung an der Hochschule? Aber eine Mappe oder ein Portfolio, was sie von ihm zu begutachten wünschen könnte, hat sie nicht dabei. Mit dem kurzen Blick, den er gleich zu Anfang über den Radius seines Eingangsbereichs schweifen ließ, hatte er das festgestellt. Nun, sie glaubt vielleicht, dass ein Stick genügen könne. Vor Philipps Augen taucht das Bild Katharinas auf, an die er eben durch die Lektüre von Steffis Brief erinnert wurde, und er spürt sich für einen kurzen Moment am Einatmen gehindert. Katharina, sie trug ihren Stick an einem schmalen Lederband um den Hals. Wahrscheinlich wird auch diese junge Frau ihre sämtlichen Daten und Dateien irgendwo an ihrem schmalen Körper in einem Ding, das nur ein Drittel so groß wie ein Feuerzeug ist, verwahren.

Warum nur will ihm die einfache Frage nicht gelingen, die seinen Spekulationen ein Ende setzt? Doch als wäre seiner dringend gebotenen Aufmerksamkeit etwas entgangen, hätte er nur besser zuhören oder kombinieren müssen, fühlt er sich plötzlich schuldig an der Rätselhaftigkeit dieser Begegnung in seinem Treppenhaus.

„Schade, ich bin nur noch morgen in Berlin“, sagt Penelope, bedauernd zwar, aber weiter in ihrer ungebrochen ermutigenden Freundlichkeit, als würde sie beide ein Stück angenehmster Biographie verbinden.

„Ach?“, sagt Philipp jetzt, völlig sinnlos und wie nebenbei. Wieder denkt er an das verwohnte Loft hinter sich, mit all den Spuren der letzten Tage und Nächte. Und Penelope, die Unbekannte, strahlt weiter, obwohl sie jetzt sogar ihr Bedauern ausdrückend die fragilen Schultern im Zeitlupentempo hebt und, nachdem sie ihm Kopf und Hals ein wenig näher entgegenstreckt, wieder entspannt fallen lässt.

Philipp sucht nach Worten, die diese Unbekannte beschreiben könnten, als müsse er später vor jemandem ein getreues Bild von ihr erstehen lassen. Dieser kurze Moment nach dem Senken der Schultern und bevor sie wieder zu reden beginnt, wäre die Sekunde für das perfekte Foto, denkt er und fühlt sich von einer Wehmutswelle durchspült, während er seinem Blick die Ruhe gönnt, dem Schwenk eines warmen Scheinwerferlichts gleich, über sie hinwegzugleiten. Diese laszive Gelassenheit in ihrer Körperhaltung, und die kindliche Offenheit in ihren Gesichtszügen … So unmöglich es ist, nach dem Licht zu greifen, so unmöglich wird es sein, diesen Augenblick zu fassen, der schon entschwunden ist – wie es ihm überhaupt versagt bleibt, festhalten zu können, was da vor ihm steht …

„Ja, übermorgen geht mein Flieger nach Rom.“

„Rom? Schön, ja, Rom …“

Nicht etwa Rom ist es, was ihn augenblicklich in eine kleinlich missmutige Stimmung versetzt, nicht die Tatsache, dass diese junge Frau beabsichtigt, ihm übermorgen in die tausendjährige Stadt zu entfliegen. Es ist vielmehr der Umstand, dass er, um sich nicht noch einmal zu räuspern, die unteren Vorderzähne dermaßen in seine Oberlippe verbissen hat, dass er jetzt sein Blut schmeckt und daran erinnert wird, es vorhin versäumt zu haben, seinen Bart zu stutzen. Aber wieso sollte das, fragt er sich, wie auch sein seit Tagen zerwühltes und ungelüftetes Vierquadratmeterbett, überhaupt ein Fakt sein, den irgendjemand außer ihm selbst etwas anginge?

Die junge Frau, Philipp hat ihren Namen schon in der Sekunde, als sie ihn genannt hatte, wieder vergessen, ist eigentlich noch eher ein junges Mädchen, stellt er, ehrlich bemüht, seine Laune zu verbessern, fest. Scheinbar ungerührt steht Penelope vor ihm und sieht ihn weiter freundlich an. Dabei kann ihr seine Verwirrung nicht entgangen sein. Wahrscheinlich dankt sie es der Entfernung, die eine ganze Generation zu diesem Mann vorgibt, dass sie so locker, so unbefangen, ja, belanglos auch, wie es nur eine solche Jugend vermag, von vorweihnachtlichen Flugverbindungen zu erzählen beginnt. Philipp aber fehlt die Konzentration fürs ungeteilte Zuhören in diesem dezemberkalten Treppenhaus.

Er hat sich wieder in angestrengtem Grübeln um die von ihm achtlos auf dem Boden verteilten Kleidungsstücke, Strümpfe, Unterhosen, T-Shirts, Hemden, Hosen und sein Bett verstrickt. Sein Bett, das Spuren seiner Einschlaf- und Aufwachgedanken aufweist, die ihm nun auf einmal peinlich sind. All das mutet er Olga zu und war ihm bisher ziemlich egal. Olga spricht kaum seine Sprache. Abgesehen davon, dass er sie einmal in einer sentimentalen Stimmung in seinem Testament bedachte, verbindet ihn nichts mit ihr. Da fällt auch die Tatsache, dass sie sich mit seinen intimsten Wäschestücken befasst, nicht ins Gewicht. Aber diese junge Frau vor ihm gehört für Philipp zu denen, die er sich nicht unbedingt mit Staubsauger und Putzutensilien vorstellen will, genausowenig, wie er sie überhaupt in Verbindung mit Staub und Schmutz und den sichtbaren Folgen ausgelebter Männerphantasien bringen möchte. Der verschlissenen Cargo-Hose mit den Fäden ziehenden, kleinen Rissen und Löchern, die schon seit Tagen an ihm herumhängt, schämt er sich weniger. Schließlich gönnt er sich täglich ein frisches T-Shirt, was ihn in diesem Moment beruhigt. Wenigstens wird er so nicht Gefahr laufen, einen üblen Geruch zu verbreiten. Sein flanellenes, tiefrotes Hemd, das er über der Hose trägt und nur mit zwei Knöpfen oberhalb seines Gürtels geschlossen hält, hat er zwar schon den vierten Tag übergeworfen, aber er weiß, dass es zu ihm passt und ihn sogar etwas jünger erscheinen lässt.

Das erwartete Unwetter hat eingesetzt. Philipp und Penelope beobachten es durch die Scheiben des eine halbe Treppe tiefer gelegenen Fensters.

Sturm, Hagel, das ganze Programm, registriert Philipp nicht ohne eine kleine Faszination. Schon ist die riesige Kastanie auf dem Vorplatz, deren ausladende Krone bis zu ihm in den sechsten Stock reicht, nur noch zu erahnen. Es fröstelt Philipp hier draußen im Treppenhaus, wo es inzwischen so dunkel geworden ist, dass er auf den erleuchteten Lichtschalter neben seinem Klingelknopf drückt. Er möchte zurück in sein Atelier, vor seine Fensterfront, in die Behaglichkeit seiner Gasheizung. Warum verabschiedet sie sich nicht?

„Sie haben wirklich schöne Hände“, hört er sie plötzlich sagen, und das trifft ihn nun beinahe noch unvermuteter als diese ganze Begegnung hier am Mittag in seinem Hausflur, und seiner ungastlichen Stimmung.

Als hätte sie ihn mit diesen Worten dazu aufgefordert, wagt er jetzt einen offenen, geradezu intensiven Blick über ihre ganze Gestalt. Zweifellos, sie ist noch sehr jung, aber geschminkt und deshalb schwer zu schätzen. Das knappe schwarze Wintermäntelchen liegt eng an ihrem mädchenhaft schmalen Körper. Sie trägt schwarze, hohe, eng anliegende Lackstiefel. Bis zum Saum ihres Mantels und eines darunter zu vermutenden sehr kurzen Rockes sind ihre kleinen Knie und ein faszinierend großer Teil ihrer geraden, fast endlos erscheinenden Oberschenkel in seidig glänzenden Strümpfen sichtbar.