Mich kriegt ihr nicht

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WARUM ICH IMMER DER HÄRTESTE SEIN WOLLTE

Eigentlich bin ich schon lange tot. Ich bin als Kleinkind im Iran gestorben, an einer nicht behandelbaren Infektion, ausgelöst durch eine verunreinigte Spritze. Aber meine Mutter hat das nicht akzeptiert. Sie hat mein, ihr, unser Schicksal in die Hand genommen und es geändert. Sie hat dafür gesorgt, dass ich überlebe. »Mein Kind kriegt ihr nicht«, hat sie gedacht.

Ich wurde 1984 in Teheran geboren, mitten während des ersten Golfkriegs zwischen dem Iran und dem Irak unter Saddam Hussein. Mein Vater war Pilot und fiel im Krieg, sodass meine Mutter mit mir und meinem vier Jahre älteren Bruder Pasha auf einmal auf sich allein gestellt war. Auf sich allein gestellt stimmt nicht ganz: Im Iran ist Familie das Allerwichtigste und kommt vor allen anderen Dingen im Leben. Meine Mutter verfügte über eine große Zahl an Verwandten, die uns beistanden und versuchten, ihr in dieser schweren Zeit nach dem Verlust ihres Ehemannes zu helfen. Aber bald sollte sich herausstellen, dass selbst unsere ganze Verwandtschaft meiner Mutter bei dem, was ihr bevorstand, nur wenig würde nützlich sein können.

Natürlich kann ich mich selbst überhaupt nicht daran erinnern, aber ich habe die Geschichte tausendmal gehört. Das Fieber, das ich als Baby bekam, und das einfach nicht sinken wollte. Der Kinderarzt, der mir eine fiebersenkende Spritze in den Bauchnabel verabreichte, die zunächst zu wirken schien. Die Rückkehr des Fiebers nach zwei Wochen, verbunden mit dem Auftauchen einer eitrigen Blase auf meinem rechten Knie. Als meine Mutter noch einmal den Kinderarzt aufsuchte, schnitt er die Blase ganz einfach auf, entfernte den Eiter und schickte sie mit der wenig beruhigenden Diagnose nach Hause, dass es sich um irgendeine Entzündung handle, die sicher von alleine verschwinden werde.

Bald stellte meine Mutter fest, dass die Entzündung nicht nur nicht verschwand, sondern sich auch auf andere Teile meines Körpers ausbreitete, weitere Eiterblasen auf Arm und Schulter bildete. Gerade hatte sie ihren Ehemann verloren, und jetzt war auch noch ihr kleinerer Sohn an einer mysteriösen Infektion erkrankt, die im Iran der 80er-Jahre niemand vernünftig diagnostizieren konnte. Natürlich setzte meine Mutter alle Hebel in Bewegung, suchte mit Hilfe unserer Verwandtschaft nach anderen, besseren Ärzten. Aber die Zeiten im Iran waren alles andere als leicht, das Land hatte einen Krieg hinter sich und meine Familie hatte außerdem den Ruf, dem Regime kritisch gegenüberzustehen, was das Leben für uns noch weiter komplizierte.

Als mein Zustand sich nicht verbesserte, fasste meine Mutter eines Tages einen mutigen und folgenreichen Entschluss. Sie entschied sich dafür, all unser Hab und Gut zu verkaufen und alles daranzusetzen, mit mir und meinem Bruder in die USA auszuwandern. Sie hatte nämlich erfahren, dass die USA flüchtenden Persern zu dieser Zeit politisches Asyl gewährten. In Amerika, so dachte meine Mutter, gab es die besten Ärzte und damit die besten Chancen, doch noch eine zutreffende Diagnose und eine passende Behandlung für meine Erkrankung zu bekommen.

Aber natürlich konnten wir uns nicht einfach in ein Flugzeug setzen und direkt in die USA fliegen. Das wäre von der Regierung als eine Art Landesverrat aufgefasst worden, meine Mutter wäre statt über den großen Teich direkt ins Gefängnis gewandert. Ihr Plan sah daher vor, sich zunächst bis in die Türkei durchzuschlagen, um von dort aus über Europa schrittweise nach Amerika zu gelangen. So bezahlte sie eines Tages, als sie alles verkauft hatte, einen Schlepper, der meine Mutter, mich und meinen Bruder mit einem Muli als Lastträger für unser Gepäck über die Berge in die Türkei bringen sollte.

Es gibt noch genau ein Foto von dieser Reise, der Schlepper selbst hat es aufgenommen: Meine Mutter trägt mich, während mein Bruder, der damals sechs Jahre alt war, den Weg schon selber zu Fuß zurücklegen musste. Es war in den Bergen verdammt kalt, und meinem Bruder fror auf dieser Reise eine Zehe ab. Aber das war nicht das einzige Opfer, das wir bringen mussten.

Kurz nachdem er das Foto gemacht hatte, überredete der Schlepper meine Mutter, ihm all ihr Bargeld und ihre Wertgegenstände zu übergeben, weil wir an der Grenze kontrolliert würden und es gefährlich sei, wenn etwas davon bei ihr gefunden werde. Meiner Mutter blieb nichts anderes übrig, als zu tun, was er ihr sagte. Tatsächlich brachte er uns wie vereinbart über die Grenze, aber gleich darauf verschwand er – das ganze Geld, all unsere Ersparnisse und Wertsachen, behielt er selbstverständlich bei sich.


Wir hatten es also in die Türkei geschafft, aber wir waren gestrandet, mittellos. Für meine Mutter muss diese Zeit ungeheuer hart gewesen sein, denn sie war an ein Leben in Armut überhaupt nicht gewöhnt. Ich weiß, in Europa gibt es viele Idioten, die glauben, dass die Menschen im Nahen und Mittleren Osten alle verlauste Kameltreiber sind, die von der Hand in den Mund leben und für die Armut deshalb eine Art natürlicher Dauerzustand ist. Aber das ist völliger Unfug. Meine Mutter entstammte einer wohlhabenden Familie aus Teheran, und solange mein Vater am Leben gewesen war, der gut verdient hatte, führte unsere Familie ein bürgerliches Leben in Wohlstand. Damit war es in der Türkei auf einen Schlag vorbei, und auch unsere im Iran verbliebenen Verwandten konnten uns jetzt nicht mehr beistehen.

Ich weiß nicht, wie es meine Mutter geschafft hat, für uns eine Wohnung in Istanbul aufzutreiben und Arbeit zu finden, die es ihr schließlich ermöglichte, Flugtickets nach Frankreich zu besorgen, von wo aus wir in die USA weiterfliegen wollten. Ich weiß nur, dass es nichts nutzte: Kaum landeten wir in Frankreich, wurden wir verhaftet und direkt in die Türkei zurückgeschoben. Alle Beteuerungen meiner Mutter, dass wir nicht vorhatten, uns in Frankreich niederzulassen, sondern nur auf der Durchreise waren, nutzten nichts.

Mein gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich inzwischen weiter, aber meine Mutter war einfach nicht bereit, mich aufzugeben. Die USA waren meine Überlebenschance, und sie wollte nichts unversucht lassen, um mich zu retten. Zurück in Istanbul arbeitete sie daher wieder in irgendwelchen Aushilfsjobs, sparte sich den Lohn vom Mund ab und kaufte erneut Flugtickets für uns. Diesmal versuchten wir es über Kopenhagen. Aber es war dasselbe Lied, wir wurden wieder verhaftet und in die Türkei deportiert.

Noch einmal probierten wir es dann über Bulgarien, wo wir sogar eine ganze Woche im Gefängnis zubrachten, bis uns die Behörden zurück in die Türkei überstellten. Das muss für meine Mutter der absolute Wahnsinn gewesen sein: Mit zwei Kindern, eines davon sterbenskrank, im Gefängnis eines fremden Landes! Ich weiß wirklich nicht, wo meine Mutter die Kraft hergenommen hat, um das alles zu überstehen. Aber sie machte einfach weiter, ließ sich nicht abbringen von ihrem Plan.

Inzwischen war mein Zustand kritisch geworden. Die Eiterblasen hatten sich vermehrt, das Fieber war mit Verstärkung zurück. Es sah nicht gut aus. Meine Mutter beschloss, es noch ein letztes Mal zu versuchen. Sie buchte drei Flugtickets, für mich, meinen Bruder und sich selbst nach Wien. Vielleicht würde ein Wunder geschehen und wir könnten von Wien aus die USA erreichen.

Als wir in Wien landeten, muss es mir schon so schlecht gegangen sein, dass es auch für die Behörden sichtbar war. In jedem Fall gelang es meiner Mutter offenbar, der österreichischen Polizei begreiflich zu machen, dass eine Rückschiebung in die Türkei meinen Tod bedeuten würde. Ich habe in meinem Leben mit der Polizei nicht viele gute Erfahrungen gemacht. Aber an diesem Tag, zu dieser Stunde, als wir in Wien ankamen, muss unter der Uniform ein Mensch hinter dem Schalter gesessen sein. Es ist seltsam, dass das Leben oder Nicht-Leben manchmal von solchen Zufällen abhängt: Ein anderes Land, oder ein anderer Beamter, oder irgendeine andere ganz belanglose Verschiebung, und ich wäre vielleicht gestorben, ohne dass meine Mutter überhaupt jemals erfahren hätte, unter welcher Krankheit ich eigentlich litt.

Ich wurde direkt ins Krankenhaus nach Speising gebracht, während meine Mutter und mein Bruder im Flüchtlingsheim in Traiskirchen aufgenommen wurden. Meine Mutter stellte allerdings keinen Asylantrag und sie dachte sich auch keine Lügengeschichten von politischer Verfolgung aus. Sie sagte wahrheitsgemäß, dass sie meiner Krankheit wegen geflüchtet war und dass wir, sobald mein Gesundheitszustand es ermöglichte, in die USA weiterreisen wollten.

In den folgenden Wochen und Monaten sah ich meine Mutter so gut wie gar nicht. Sie hatte kein Geld, sprach kein Wort Deutsch, kannte sich mit den Abläufen und Gepflogenheiten in dem ihr fremden Land überhaupt nicht aus und hatte daher kaum die Möglichkeit, mich regelmäßig zu besuchen. Eine meiner allerersten Erinnerungen an meine Kindheit ist die an das Gewand der Klosterschwester, die mich im Krankenhaus in Speising betreute. Ich hatte schlimme Schmerzen, aber ich merkte: Wenn die Frau im Nonnengewand kam, dann wurden die Schmerzen weniger, weil sie mir ein Schmerzmittel verabreichte.

Die Klosterschwestern im Spital in Speising waren wie Ersatzmütter für mich, insbesondere die Stationsschwester kümmerte sich aufopfernd um mich und setzte den Kampf um mein Überleben fort, den zuvor meine Mutter gekämpft hatte. Ich glaube, diese frühkindlichen Erinnerungen sind einer der Gründe, warum ich heute eine so starke Abneigung dagegen habe, wenn Menschen aggressiv gegen andere Religionen auftreten. Ich bin Moslem, komme aus einem muslimischen Land, aber es waren christliche Klosterschwestern, die mich in Österreich gepflegt haben. Deshalb werde ich nie akzeptieren können, wenn Menschen ihrer Religion wegen beschimpft oder verfolgt werden. Es gibt wenig, was mich so wütend machen kann wie das.

 

Die Klosterschwestern sorgten dafür, dass sich mein Zustand wieder stabilisierte, und bald wurde von den Ärzten auch eine Diagnose gestellt: Ich litt unter Osteomyelitis, einer sehr seltenen, infektiösen Blutkrankheit. Der Kinderarzt im Iran, der mir die fiebersenkende Spritze in den Bauchnabel verabreicht hatte, musste eine verunreinigte Nadel verwendet und mich so infiziert haben. Danach hatte das Virus begonnen, meine Knochen anzugreifen, in meinem Fall vor allem die linke Schulter und das rechte Knie. Mein Knie war dabei dauerhaft geschädigt worden, was unter anderem dazu führte, dass mein rechtes Bein in den folgenden Jahren nicht ordentlich mitwuchs. Ich musste mich in meiner Kindheit und Jugend insgesamt fünf Beinverlängerungen unterziehen, die nicht nur sehr schmerzhaft, sondern auch jedes Mal mit längeren Spitalsaufenthalten verbunden waren. Zwischendurch durfte ich aber auch manchmal zu meiner Mutter und meinem Bruder, die immer noch in Traiskirchen untergebracht waren.


Nach meiner ersten Operation hatte ich an beiden Beinen einen Gips, dazwischen einen Stock, damit die Beine fixiert waren und ich sie nicht bewegte. Der Gips ging nach oben weiter bis zur Brust und hatte nur unten in der Mitte ein Loch, damit ich mein Geschäft erledigen konnte. Irgendwann wachte ich in unserem Zimmer in Traiskirchen auf und hörte Geräusche aus dem unteren Stockwerk. Wie alle kleinen Kinder war ich neugierig und wollte wissen, was dort unten vor sich ging. Meine Mutter und mein Bruder waren nicht da, also wand ich mich irgendwie aus meinem Bett und schaffte es mühsam trotz des Gipses, der meinen halben Körper umfasste, aus dem Zimmer hinaus und bis zur Treppe zu gelangen. Von der Treppe aus sah ich, dass unten eine Hochzeit stattfand, es wurde getanzt und gesungen. Ich wollte die Treppe hinunter, um mehr zu sehen, aber das ging mit dem Stock zwischen den Beinen nun wirklich nicht. Ich stolperte, fiel die gesamte Treppe hinunter und schlug mir insgesamt drei Löcher in den Kopf. Zum Glück wurde ich rasch gefunden und verarztet. Das Ergebnis dieses kleinen Unfalls verheilte rasch, die Infektion in meinem Bein sollte mich hingegen noch viele Jahre plagen und weitere Operationen nach sich ziehen.

Aber hey, immerhin, ich hatte überlebt. In Österreich war man in der Lage, meine Erkrankung zu behandeln, und meiner Mutter gelang es, verschiedene Aushilfsjobs zu bekommen, zuerst als Tellerwäscherin in persischen Lokalen, später bei einer Firma in einer Lagerhalle, die Pressplatten herstellte, wobei sie ein Fingerglied verlor, und schließlich als Verkäuferin bei der Firma Michelfeit. Deshalb und weil ich weiterhin behandelt werden musste, bekamen wir eine Aufenthaltserlaubnis in Österreich, die allerdings Jahr für Jahr neu bewilligt werden musste. Mein Bruder besuchte die Volksschule und lernte dort bereits Deutsch, und Österreich erschien meiner Mutter damals als ein schönes, gastfreundliches Land mit freundlichen Menschen, in dem man ihr und ihrem kranken Sohn geholfen hatte, als niemand sonst bereit war, es zu tun. Sie beschloss zu bleiben, wenn wir die Möglichkeit dazu haben sollten. In dieser Zeit bekamen wir auch von der Caritas viel Unterstützung, nicht nur in Form von Kleidung, sondern vor allem auch für die Bewältigung der zahlreichen Amtswege, die meine Mutter zurückzulegen hatte und die sie, ohne Deutsch zu sprechen, alleine kaum geschafft hätte.

Als ich schließlich aus dem Spital entlassen wurde, fremdelte ich natürlich ziemlich, ich hatte meine Mutter über ein Jahr lang nur selten gesehen, die Klosterschwestern waren mir vertrauter als sie. Und ich hatte all mein Persisch verlernt, sprach dafür aber schon ganz gut Deutsch. Das führte zu der merkwürdigen Situation, dass meine Mutter sich mit mir eine Zeit lang kaum verständigen konnte. Zum Glück gab es meinen Bruder, der als Einziger in der Familie beide Sprachen beherrschte und für uns dolmetschte. Immerhin wurde meine Mutter so dazu angeregt, selbst schneller Deutsch zu lernen, um wieder direkt mit mir kommunizieren zu können. Umgekehrt habe ich erst deutlich später, mit etwa zehn Jahren, wieder richtig Persisch sprechen gelernt. Meiner Mutter war es natürlich wichtig, dass ich meine Muttersprache wieder ordentlich beherrschte, auch damit ich mit unseren Verwandten am Telefon sprechen konnte. Aber sie arbeitete unglaublich viel während meiner frühen Kindheit und konnte ganz einfach nicht genug Zeit mit mir verbringen, um mir Sprachunterricht zu geben.

Was ich selbst manchmal vergesse, wenn ich an diese Zeit zurückdenke: Meine Mutter war gerade einmal 26 Jahre alt, als sie sich als Witwe mit zwei kleinen Kindern auf den Weg nach Europa machte. Heute sehe ich viele junge Frauen auf meinen Konzerten, die ungefähr in diesem Alter sind. Dann muss ich immer an den Unterschied zwischen dem Leben meiner Mutter und dem Leben dieser Mädchen denken. Meine Mutter wird immer eine ganz besondere Position in meinem Leben haben, weil sie alles aufgegeben, ihren Wohlstand geopfert und ihr Leben aufs Spiel gesetzt hat, um mein Leben zu retten und mir und meinem Bruder eine bessere Zukunft zu ermöglichen.


Gerade weil sie so viel arbeiten musste, um uns über Wasser zu halten, war es dann in meiner Kindergarten- und Volksschulzeit eine andere Frau, die sich tagsüber wie eine Mutter um mich kümmerte. Elfi war eigentlich die Nachmittagsbetreuerin meines Bruders im Theresianum, aber sie erlaubte ihm bald, mich in die Nachmittagsbetreuung mitzunehmen, weil er in Abwesenheit meiner Mutter eigentlich meine Aufsichtsperson war und auf mich achtgeben sollte. In der Folge freundete sich auch meine Mutter mit Elfi an und war froh, dass sie ihr mich und meinen Bruder anvertrauen durfte, während sie arbeitete. Elfi hatte keine eigenen Kinder, ich verbrachte viel Zeit mit ihr, durfte auch oft bei ihr übernachten und betrachte sie auch heute noch als eine Art zweite Mutter.

In dieser Zeit werden meine Erinnerungen farbiger und intensiver. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass meine Mutter mit uns damals in unsere erste eigene Mietwohnung im fünften Wiener Gemeindebezirk zog: 27 Quadratmeter und eine absolute Bruchbude, aber das Beste, das wir bekommen und uns leisten konnten. Wenn man die Wohnung betrat, war da zuerst eine kleine Küche und links davon ein ebenso kleines Zimmer. Das war das Wohn- und Schlafzimmer für uns alle drei. Immer wieder wunderte ich mich darüber, warum meine Mutter in dieser Wohnung nachts oft auf einem an die Wohnungstür gelehnten Sessel zu schlafen schien. Immer wenn ich sie fragte: »Mama, warum schläfst du auf diesem Sessel?«, antwortete sie: »Das ist gut für meinen Rücken.«

Erst Jahre später fand ich heraus, dass unsere Wohnungstür verbogen war und nicht richtig schloss. Wir hatten einen Nachbarn, der Alkoholiker war und meine Mutter offenbar mehrmals bedroht hatte. Sie hatte Angst, dass dieser Nachbar die Gelegenheit nutzen und in der Nacht in unsere Wohnung eindringen würde – deshalb schlief sie auf dem Sessel bei der Tür, weil sie sich nicht anders zu helfen wusste.

Wer kein Ausländer, Zugereister oder Neo-Staatsbürger, sondern ein sogenannter echter Österreicher ist, der fragt sich jetzt vielleicht ganz verblüfft: Aber warum hat die gute Frau denn nicht einfach die Polizei gerufen, anstatt ihre Nächte auf einem unbequemen Sessel zu verbringen? Dann muss ich euch vielleicht einmal etwas erklären: Meine Mutter hätte sich niemals von sich aus an die Polizei gewendet, und auch ich würde das noch heute nicht tun, solange es sich irgendwie vermeiden lässt. Als Ausländer, oder als einer, den man aufgrund seines Aussehens für einen Ausländer halten könnte, willst du eines auf keinen Fall: negativ auffallen. Nur keine Probleme machen. Und du lernst auch schnell, dass die Polizei nicht unbedingt dein Freund ist. Wenn du die Polizei rufst, dann machst du aus Sicht der Polizisten damit Schwierigkeiten. Wenn du der Polizei Schwierigkeiten machst und nicht ordentlich Deutsch sprichst, dann ist das doppelt scheiße. Und wenn der Typ, wegen dem du die Polizei gerufen hast, auch noch ein echter Österreicher ist, dann kannst du dir schon vorher ausrechnen, bei wem die Polizei die Schuld suchen wird. Solange du einen Aufenthaltstitel hast, der jedes Jahr verlängert werden muss, gibt es nichts Unangenehmeres für dich, als Schwierigkeiten mit der Polizei zu bekommen. Deshalb rufen Ausländer, oder Menschen, die wie Ausländer aussehen, nicht gerne die Polizei, sondern regeln ihre Probleme lieber anders – alles klar?

Das WC unserer ersten Wohnung befand sich im Stiegenhaus, Dusche hatten wir gar keine. Stattdessen fuhren wir zweimal pro Woche ins Amalienbad, um dort zu duschen. An Kleidung hatten wir nur das Allernötigste. Meine Mutter wusch unsere wenigen Kleidungsstücke jeden Tag händisch im Waschbecken (natürlich hatten wir auch keine Waschmaschine), damit mein Bruder und ich in der Schule beziehungsweise im Kindergarten keinen schlechten Eindruck machten. Es war ihr immer ungeheuer wichtig, dass wir nicht negativ auffielen, nicht ungepflegt aussahen oder gar schlecht rochen, damit wir nicht anders waren als die anderen Kinder. Natürlich waren wir trotzdem anders, aber dazu komme ich gleich.

Nachdem wir etwa zwei Jahre in dieser Bruchbude gelebt hatten, ich ging inzwischen in die Volksschule, bekam meine Mutter eine Gemeindewohnung im zehnten Bezirk im Karl-Wrba-Hof, wo ich meine ganze übrige Kindheit und Jugend verbringen sollte. Die Zeit dort war für mich auf jeden Fall ausgesprochen prägend, denn wir kamen als eine der allerersten Ausländerfamilien in diesen riesigen Gemeindebau, dessen österreichische Bewohner überwiegend zur Arbeiterschicht gehörten oder arbeitslos waren. Mein Bruder und ich hatten es in den Senfbauten anfangs extrem schwer, weil es dort natürlich viele Jugendliche gab, die von ihren Eltern eine ordentliche Portion Rassismus mitbekommen hatten, den sie jetzt an uns ausleben konnten. Ich erinnere mich, dass ich erst damals so richtig verstand, dass wir Ausländer waren, anders waren als die alteingesessenen Österreicher. Ich selbst hatte ja keinerlei Erinnerung daran, jemals anderswo als in Österreich gelebt zu haben. Und wenn ich mit Elfi auf der Mariahilferstraße spazieren ging, dann bekam sie für mein fremdländisches Aussehen meistens Komplimente.

»Was für ein schöner Bub und wie herrliche schwarze Locken der hat!«, sagten die alten österreichischen Damen, streichelten mir dabei den Kopf und beglückwünschten Elfi, die wahnsinnig stolz war, weil die Leute sie natürlich für meine echte Mutter hielten. Noch heute erzählt mir Elfi das immer wieder, ebenso wie davon, wie die Stimmung sich später verändert hat. Erst im Karl-Wrba-Hof verstand ich, dass es auch Menschen gab, die es gar nicht gut fanden, dass wir hier waren, und die auch Lust dazu hatten, uns das jeden Tag spüren zu lassen.

Die ersten paar Monate mussten Pasha und ich uns eigentlich ständig mit jemandem prügeln, um zu erreichen, dass man uns in Ruhe ließ. Ein ganzes Jahr lang musste ich, bevor ich nach der Schule bei unserer Station aus der Straßenbahn ausstieg, meine Schuhe fest zubinden und so schnell ich konnte nach Hause rennen, weil mein Bruder länger Schule hatte als ich und ich alleine keine Chance gegen die anderen Buben im Hof gehabt hätte. Manchmal erwischten sie mich und verpassten mir eine Abreibung, dann musste mein Bruder später, wenn er nach Hause kam, nach draußen gehen, um es ihnen heimzuzahlen.

Irgendwann, nach ein paar Jahren, wendete sich das Blatt. Es gab in unserem Hof ein Jugendzentrum, das viel von türkischen Jugendlichen aus der Umgebung aufgesucht wurde, weil es dort Musik gab und es einfach ein cooler Ort war, um sich zu treffen. Für Pasha und mich wurde das zu einer super Zeit, weil wir als Ausländer auf einmal nicht mehr allein waren und richtig zusehen konnten, wie sich das Verhalten der österreichischen Jugendlichen uns gegenüber änderte, als sie plötzlich nicht mehr so deutlich in der Mehrheit waren. Plötzlich hörten wir keine Sprüche wie »Scheiß Kanaken« und »Scheiß Tschuschn« mehr, weil jetzt stattdessen die Österreicher in unserem Gemeindebau aufpassen mussten und auf einmal ganz freundlich waren – die gleichen Typen, die mir und meinem Bruder vorher jahrelang Schwierigkeiten gemacht hatten.

 

Noch ein weiteres Erlebnis gab es, das mir vor Augen führte, wie Anderssein funktioniert und was es bedeutet. Während des Jugoslawienkrieges wurde an unserer Schule eine Gruppe von Kindern aufgenommen, die mit ihren Eltern aus dem Kosovo geflüchtet waren. Irgendjemand veranlasste, dass draußen vor der Schule Container aufgestellt wurden, in denen die Kinder aus dem Kosovo erst einmal Deutschunterricht bekommen sollten, bevor sie in die Klassen aufgeteilt wurden. Das war auf jeden Fall das Dümmste, was man im Hinblick auf deren Integration machen konnte. Denn für uns Kinder hätte es erst einmal überhaupt keinen Unterschied gemacht, wo diese anderen Kinder herkamen. Erst dadurch, dass diese Flüchtlingskinder von allen anderen separiert wurden, und das auch noch sichtbar, in einem verdammten Container, war auf einmal für alle klar: Die sind anders. Die sind Ausländer. Dabei geht es in der Volksschule doch noch nicht darum, dass du Mathematiker oder NASA-Experte oder was weiß ich was wirst. Es ist die verdammte Volksschule, Leute! So wurden diese Kinder, die von ihren Kriegserfahrungen noch dazu sehr verängstigt waren, von Anfang an anders behandelt, konnten sich nur schwer integrieren und brauchten sehr lange, um ordentlich Deutsch zu lernen. Hätte man sie einfach neben uns gesetzt, dann wäre nichts einfacher für sie gewesen, als von uns Deutsch zu lernen.


Meine Mutter jedenfalls versuchte immer, uns vor solchen Erfahrungen zu bewahren. Obwohl unsere Familie muslimisch war, schickte sie uns ganz selbstverständlich in den christlichen Religionsunterricht. Erstens wollte sie nicht, dass wir unsere Zeit sinnlos in einer Supplierstunde absaßen und von den anderen Kindern separiert wurden. Zweitens, und das war ihr ebenso wichtig, fand sie es gut, dass wir im Religionsunterricht etwas über die Bibel und das Christentum lernten. Das hat uns selbstverständlich alles andere als geschadet, und gerade als Kind machten die fabelartigen Geschichten aus der Bibel, etwa wie Moses das Meer teilt, großen Eindruck auf mich. Ich glaube, dass der Besuch des Religionsunterrichts in der Volksschule mich gemeinsam mit meinen frühkindlichen Erlebnissen mit den Klosterschwestern in Speising sehr stark geprägt hat. Respekt gegenüber allen Religionen wurde dadurch zu einer Selbstverständlichkeit für mich, die ich bis heute immer und überall einfordere. Mein Bruder und ich sind Menschen, die in unserem Umfeld mit niemandem wegen seiner Herkunft ein Problem haben, mit keiner Religion und keiner Ethnie. Das Einzige, was mich auf die Palme bringt, ist Rassismus – ganz egal, von wem er kommt und gegen wen er sich richtet, ob gegen Afrikaner, Iraner oder Österreicher.

In der Volksschule wurde ich von den Kindern in meiner Klasse übrigens nicht bei meinem persischen Vornamen, Ardalan, gerufen, weil unsere Lehrerin meinte, dass das für die Kinder (und wohl auch für sie) zu schwierig sei. Stattdessen wurde ich Andi genannt, und mein Bruder Pasha bekam den Namen Peter. Das waren in der Volksschule ganz einfach unsere neuen Namen, und auch wenn mir das im Rückblick schon ein bisschen komisch vorkommt, muss ich gestehen, dass es mir als Kind ziemlich scheißegal war. Ich wollte einfach dazugehören.

Leider war es mit der Anpassung nicht meine gesamte Schulzeit lang so einfach. Das begann schon damit, dass mir meine Volksschullehrerin den Aufstieg ins Gymnasium nicht bewilligen wollte, obwohl ich recht gute Noten hatte. Auf jeden Fall bessere Noten als mein bester Freund, der Österreicher war und ganz selbstverständlich ins Gymnasium aufsteigen sollte. Wieder hatte ich es meiner Mutter zu verdanken, dass ich nicht in die Hauptschule musste. Sie empfand es als ungerecht, dass ihr Sohn nicht in ein Gymnasium kommen sollte und ging bis zum Stadtschulrat, wo ihr schließlich bestätigt wurde, dass meine Noten ausreichend waren und einem Aufstieg ins Gymnasium nichts im Wege stand.

Auch im Gymnasium Ettenreichgasse waren meine schulischen Leistungen nicht schlecht, wie ich überhaupt meine ganze Schullaufbahn lang nie Probleme mit dem Lehrstoff hatte. Auch mein Deutsch war gut, nur mit der Rechtschreibung hatte ich große Probleme, die mich bis heute begleiten. Ich hatte das Pech, dass meine Deutschlehrerin im Gymnasium eine echte Rechtschreibfanatikerin war, die meine Grammatik und mein Wortschatz nicht interessierten. Das Maß aller Dinge war für sie alleine die Rechtschreibung, und da ich auf diesem Feld bei jedem zweiten Wort einen Fehler machte, schrieb ich in Deutsch ganz schlechte Noten. Vielleicht meinte die Lehrerin es letzten Endes gut mit mir und wollte ganz einfach, dass ich richtig schreiben lernte. Aber sie ging so weit, dass sie mich bei den anderen Lehrern, in deren Fächern ich gute Leistungen brachte, anschwärzte und versuchte sie zu überreden, mir ebenfalls schlechte Noten zu geben.

Der erste richtige Bruch in meiner Schullaufbahn kam dann aber in der zweiten Klasse Gymnasium. Wir hatten einen Biologieprofessor, der anscheinend einmal schlechte Erfahrungen mit Ausländern gemacht hatte, oder aber vielleicht einfach Rassist war. In jedem Fall schikanierte er mich von der ersten Stunde an, stellte mich bei jeder Gelegenheit bloß und ging einmal sogar so weit, im Unterricht über meine Mutter zu schimpfen. In typischer pubertärer Dummheit und Naivität sah ich natürlich sofort rot und war überzeugt davon, dass ich die Ehre meiner Mutter gegen dieses Schwein verteidigen musste. Also stand ich auf, ging zum Lehrerpult und versenkte meine rechte Faust im Gesicht des Biologieprofessors. Ich war zwar erst 13 Jahre alt, aber es reichte doch dafür, ihm ein paar Zähne auszuschlagen.

Selbstverständlich wurde ich sofort von der Schule verwiesen. Als meine Mutter erfuhr, was passiert war, bekam ich von ihr eine Tracht Prügel der Sonderklasse. Sie hatte immer alles gegeben, um mir ein besseres Leben zu ermöglichen, und ich war auf dem besten Weg, mit meinem überzogenen Stolz und meiner Aggressivität alles kaputtzumachen. Der geregelte Schulbesuch war für mich ohnehin nicht einfach, weil ich immer wieder monatelang zu den Beinverlängerungen ins Spital musste. Damit verpasste ich nicht nur den Anschluss im Unterricht, sondern ich kam auch mit Krücken zurück in die Schule, was meinen Außenseiterstatus weiter zementierte.

An meiner neuen Schule nach meinem Verweis aus der Ettenreichgasse behandelten mich manche Lehrer aufgrund meiner körperlichen Probleme sogar besonders gut, was mich bei meinen Mitschülern nur noch unbeliebter machte. Ich war sowieso schon vom Turnunterricht befreit und hatte als einziger Schüler den Schlüssel für den Schulaufzug bekommen, weil ich die Stiegen mit meinen Krücken nur mühsam hinauf- und hinunterkam. Wenn die anderen sahen, dass ich bei Prüfungen geschont wurde oder die Lehrer mir in der Pause halfen, Versäumtes aufzuholen, dann verstärkte das nur den Eindruck meiner Mitschüler, dass mit mir etwas nicht stimmte und man sich lieber nicht mit mir anfreundete.

Die Krücken waren es auch, die an meinem zweiten Schulverweis infolge eines Wutausbruchs entscheidend beteiligt waren. In einer Supplierstunde fing eine serbische Mitschülerin an, Witze über meine Herkunft und meine Mutter zu reißen, ging dann sogar zur Tafel, an die sie ein Schwein malte und meinte, dass es sich dabei um meine Mutter handelte. Völlig kindischer Blödsinn natürlich, aber mit einem Hass und einer selbstverständlichen Verachtung vorgetragen, die mich rotsehen ließen. Ich hätte das natürlich einfach ignorieren oder sie nur anschreien können. Aber es betrachteten mich sowieso schon alle als Schwächling, zumindest dachte ich das. Hätte meine Mitschülerin gewusst, wie ich mir meinen ersten Schulverweis geholt hatte, dann hätte sie ihre Beschimpfungsaktion mit Tafelbild vielleicht lieber bleiben lassen. Bei mir knallte jedenfalls wieder die Sicherung durch, ich stand auf und wichste der Schülerin eine meiner beiden Krücken ins Gesicht. Leider brach sie sich dabei die Nase, womit mein Gastspiel an dieser Schule nach weniger als einem Jahr bereits wieder beendet war.

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