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Der scharlachrote Buchstabe

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Kapitel 11
Das Innere eines Herzens

Nach dem letztbeschriebenen Vorfalle war der Verkehr zwischen dem Geistlichen und dem Arzte, wiewohl äußerlich noch der gleiche, doch wirklich von einem anderen Charakter als früher. Roger Chillingworths Verstand hatte jetzt einen Weg vor sich, der klar genug dalag. Allerdings war es nicht gerade der, auf dessen Betretung er sich vorbereitet hatte. So ruhig, sanft und leidenschaftslos er auch schien, besaß der unglückliche alte Mann doch, wie wir fürchten müssen, eine stille, tiefe Bosheit, die bisher geschlummert hatte, jetzt aber zur Tätigkeit gelangte und ihn antrieb, sich eine seelische Rache auszudenken, wie sie noch nie ein Sterblicher an einem Feinde geübt hatte. Er wollte sich zu dem einzigen vertrauten Freunde machen, dem alle Furcht, Gewissensbisse, Qual, wirkungslose Reue, jede Rückströmung sündiger, vergebens verbannter Gedanken mitgeteilt werden sollte. Der ganze sündige Schmerz, der vor der Welt verborgen gehalten wurde, deren großes Herz ihn bemitleidet und ihm verziehen haben würde, sollte ihm, dem Mitleidlosen, ihm, dem Nieverzeihenden, offenbart, alle jene dunkeln Schätze gerade an denjenigen verschwendet werden, welchem nichts anderes so angemessen die Schuld der Rache zu zahlen vermochte!

Die scheue, reizbare Zurückhaltung des Geistlichen hatte diesen Plan zunichte gemacht. Roger Chillingworth war jedoch kaum geneigt, mit der Lage der Dinge weniger zufrieden zu sein, welche die Vorsehung, sich des Rächers und seines Opfers zu ihren eigenen Zwecken bedienend und vielleicht da verzeihend, wo sie am schwersten zu strafen schien, an die Stelle seiner schwarzen Absichten gesetzt hatte. Er konnte beinahe sagen, ihm sei eine Offenbarung zuteil geworden, und für seinen Zweck war es fast gleichviel, ob dieselbe vom Himmel oder aus einer andern Region kam. Mit ihrer Hilfe schien ihm in allen späteren Beziehungen zwischen ihm und Dimmesdale nicht bloß die äußerliche Gegenwart, sondern auch das Innerste von dessen Seele vor die Augen gestellt zu werden, so daß er jede ihrer Bewegungen sehen und begreifen konnte. Er war von da an nicht mehr bloß ein Zuschauer, sondern spielte eine Hauptrolle in der inneren Welt des armen Geistlichen. Er konnte auf ihm spielen, wie es ihm beliebte. Wollte er ihn durch ein Zucken der Qual aufstacheln? Das Opfer lag beständig auf der Folter, er brauchte nur die Feder zu kennen, wodurch die Maschine in Tätigkeit geriet, und der Arzt kannte sie vollkommen. Wollte er ihn durch plötzliche Furcht erschrecken? Wie durch die Bewegung eines Zauberstabes erhob sich ein grausiges Gespenst, drängte sich in vielfacher Gestalt, in der des Todes oder noch entsetzlicherer Schmach, um den Geistlichen und deutete mit den Fingern auf seine Brust.

Alles dies geschah mit so vollkommener Feinheit, daß der Geistliche, wiewohl in beständiger unbestimmter Ahnung, daß ein böser Einfluß über ihm wache, doch nie zur Kenntnis von deren eigentlicher Natur gelangen konnte. Allerdings blickte er voller Zweifel und Furcht, zuweilen sogar mit dem Abscheu und der Bitterkeit des Hasses auf die unförmige Gestalt des alten Arztes. Seine Gebärden, sein Gang, sein grauer Bart, seine gewöhnlichsten und gleichgültigsten Handlungen, ja selbst der Schnitt seiner Kleider waren ihm verhaßt – ein unbedingt zuverlässiges Merkmal einer tieferen Antipathie in seiner Brust, als er sich selber gestehen wollte; denn da es unmöglich war, einen Grund für ein solches Mißtrauen und solchen Abscheu anzugeben, schrieb Dimmesdale in dem Bewußtsein, daß das Gift der einen kranken Stelle sein ganzes Herz angesteckt habe, alle seine Ahnungen keiner anderen Ursache zu. Er warf sich selbst seine Abneigung gegen Roger Chillingworth vor, ließ die Lehre, welche er daraus hätte ziehen sollen, unbeachtet und strengte sich an, sie auszurotten. Obgleich er dies nicht vermochte, setzte er doch grundsatzmäßig den gewohnten vertraulichen Umgang mit dem alten Manne fort und gewährte ihm so beständig Gelegenheiten zur Ausführung des Zweckes, welchem sich der Rächer geweiht hatte, dieses arme, vereinsamte Geschöpf, dessen Unglück noch tiefer als das seines Opfers war.

Während er so an körperlicher Krankheit litt und die schwarze Unruhe seiner Seele an ihm nagte und ihn folterte und er dem Tun seines Todfeindes ausgesetzt war, hatte Dimmesdale in seinem heiligen Amte einen glänzenden Ruhm erworben. Er errang ihn in der Tat zum großen Teil eben durch seine Verzweiflungen. Seine intellektuellen Gaben, seine moralischen Fähigkeiten, seine Kraft, Empfindungen zu fühlen und mitzuteilen, wurden durch den Stachel und die Pein seines täglichen Lebens in einem Zustande nicht mehr ganz natürlicher Tätigkeit erhalten. Sein Ruhm überschattete, obgleich er seinen Gipfelpunkt noch nicht erreicht hatte, doch bereits den weniger glänzenden Ruf seiner Amtsbrüder, so ausgezeichnet auch einige davon waren. Es gab unter ihnen Gelehrte, die auf die Erwerbung abstruser theologischer Kenntnisse eine größere Anzahl von Jahren verwendet hatten als Dimmesdales ganzes Leben umfaßte, und die daher in dergleichen soliden und wertvollen Dingen größere Erfahrung besitzen mußten als ihr jugendlicher Kollege. Es gab ferner Männer von robusterer Geistesart und mit größerem Anteil an gewitztem harten, eisernen und granitenen Verstande, der im gehörigen Gemisch mit einer guten Quantität von dogmatischen Ingredienzen eine höchst achtbare, wirksame und unliebenswürdige Varietät des klerikalen Geschlechtes bildet. Weiter befanden sich unter ihnen wahrhaft heilige Väter, deren Fähigkeiten durch mühsame Arbeit an ihren Büchern, durch geduldiges Denken erweitert und, mehr noch, durch geistliche Verbindung mit einer besseren Welt verfeinert worden waren, in die sie durch die Reinheit ihres Lebens fast schon eingetreten wären, während die Kleidung des Fleischlichen noch an ihnen hing. Ihnen mangelte weiter nichts als die Gabe, welche am Pfingstfeste in Flammenzungen auf die erwählten Jünger herabgestiegen war, was, so will es uns scheinen, nicht die Macht der Rede in fremden und unbekannten Zungen bedeuten soll, sondern die Fähigkeit, das ganze Menschengeschlecht in der dem Herzen angeborenen Sprache anzureden. Diesen in jeder andern Hinsicht so apostolischen Vätern mangelte des Himmels letztes und köstlichstes Zeugnis ihres Amtes, die Flammenzunge. Sie würden sich vergeblich bestrebt haben, wenn ihnen dieses Streben auch nur im Traum eingefallen wäre, die höchsten Wahrheiten durch das bescheidenste Mittel bekannter Worte und Bilder auszudrücken. Ihre Stimmen drangen fern und undeutlich aus den oberen Höhen herab, wo sie ihre Wohnung aufgeschlagen hatten.

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Dimmesdale durch viele seiner Charakterzüge eigentlich zu dieser letztern Menschenklasse gehörte. Er wäre zu den hohen Berggipfeln des Glaubens und der Frömmigkeit emporgeklommen, wenn nicht sein Streben durch die Last, sei es nun des Vergehens oder der Pein, gehemmt worden wäre, unter welcher dahinzuschwanken sein Schicksal mit sich brachte. Sie hielt ihn nieder auf dem gleichen Niveau mit dem Geringsten, ihn, den Mann der sublimen Eigenschaften, auf dessen Stimme sonst die Engel gelauscht und geantwortet hätten. Aber gerade diese Bürde war es, welche ihm ein so inniges Gleichgefühl mit der sündigen Brüderschaft der Menschheit verlieh, so daß sein Herz mit dem ihren gleichgestimmt schlug und ihre Pein in sich selbst aufnahm und seinen eigenen Pulsschlag des Schmerzes in Strömen trauriger, überzeugender Beredsamkeit durch tausend andere Herzen trieb. Am häufigsten sprach er überredend, zuweilen aber auch entsetzlich. Das Volk wußte nicht, durch welche Kraft es so bewegt wurde. Es hielt den jungen Geistlichen für ein Wunder von Heiligkeit. Es glaubte, daß durch seinen Mund der Himmel Botschaften der Weisheit und des Tadels und der Liebe herabsende. In den Augen des Volkes war schon der Boden, welchen er betrat, geheiligt. Die Jungfrauen seiner Gemeinde wurden um ihn her bleich, sie waren die Opfer einer so von religiöser Empfindung gedrängtenLiebe, daß sie diese für nichts als Religion hielten und offen in ihrem weißen Busen als ihr annehmbarstes Opfer vor dem Altare darbrachten. Die bejahrten Mitglieder seiner Herde, welche Dimmesdales Körper so schwach sahen, während sie selbst noch in ihrer Altersschwäche so kräftig waren, glaubten, daß er vor ihnen zum Himmel emporsteigen würde und schärften ihren Kindern ein, daß sie ihre Gebeine direkt bei dem heiligen Grabe ihres jungen Pastors begraben sollten. Und diese ganze Zeit über fragte sich vielleicht der arme Dimmesdale, wenn er an sein Grab dachte, ob je Gras darauf wachsen würde, weil ein fluchbeladener Leichnam darin begraben liegen müsse.

Mit welcher Qual folterte ihn diese öffentliche Verehrung! Es war seine Natur, die Wahrheit anzubeten und alles, was nicht ihre göttliche Wesenheit als das Leben in seinem Leben besaß, für Schatten anzusehen, die gänzlich ohne Wert oder Gewicht seien. Was war er aber? Ein Körper – der nebelhafteste aller Schatten! Er sehnte sich, von seiner Kanzel herab mit voller Kraft seiner erhobenen Stimme zu sprechen und dem Volke zu sagen, was er sei. »Ich, den ihr in diesen schwarzen Priestergewändern erblickt, ich, der ich zu der geheiligten Kanzel emporsteige und mein blasses Gesicht gen Himmel kehre und es auf mich nehme, für euch mit dem Höchsten, dem Allwissenden in Verbindung zu treten; ich, in dessen täglichem Leben ihr die Frömmigkeit eines Henoch erblickt, ich, dessen Schritte, eurem Glauben nach, auf meinem irdischen Pfade einen Schimmer zurücklassen, welcher die nach mir kommenden Pilger nach den Regionen der Seligen führen wird, ich, der ich die Hand der Taufe auf eure Kinder gelegt habe, ich, der ich das letzte Gebet über eure sterbenden Freunde gehaucht habe, denen das Amen nur noch schwach aus einer Welt, die sie verlassen hatten, nachklang, ich – euer Pastor, den ihr so verehrt und dem ihr so innig vertraut, bin nichts als Moder und Lüge!«

 

Mehr als einmal war Dimmesdale in der Absicht auf die Kanzel gestiegen, nicht eher wieder herabzukommen, als bis er Worte wie die obigen gesprochen hätte, mehr als einmal hatte er sich geräuspert und den langen, tiefen, bebenden Atemzug getan, welcher bei seinem Wiederausströmen mit dem schwarzen Geheimnisse seiner Seele belastet hervorkommen sollte. Mehr als einmal, mehr als hundert Male hatte er wirklich gesprochen! Gesprochen, aber wie? Er hatte seinen Zuhörern gesagt, daß er ganz und gar schlecht, ein lasterhafter Genosse der Lasterhaften, der schlimmste aller Sünder, ein Abscheu vor Gott und den Menschen, ein Ding von unerdenklicher Sündhaftigkeit sei, und daß das größte Wunder nur das wäre, daß sie nicht seinen elenden Körper vor ihren Augen durch den glühenden Zorn des Allmächtigen verschrumpfen sähen. Konnte es deutlichere Worte geben als diese? Sollte darauf nicht das Volk, von einem gemeinschaftlichen Antriebe ergriffen, aus seinen Kirchenstühlen aufspringen und ihn von der Kanzel, welche er entweihte, herabschleppen? Aber nicht doch! sie hörten es alle und verehrten ihn nur um so mehr. Sie ahnten nicht, welch tödlicher Sinn in diesen sich selbst verdammenden Worten lauerte. »Der fromme, junge Mann!« sagten sie zueinander. »Der Heilige auf Erden! Ach wenn er in seiner eignen reinen Seele solche Sündhaftigkeit entdecken kann, welches grausige Schauspiel würde er dann in der deinen oder meinen erblicken!« Der Prediger, jener feine, aber reuige Heuchler wußte recht gut, in welchem Lichte sein unbestimmt gefaßtes Bekenntnis aufgenommen würde. Er hatte sich bemüht, sich selbst zu betrügen, indem er das Geständnis eines sündigen Gewissens ablegte, aber nur noch eine weitere Sünde und eine sich selbst gestandene Schande erworben, ohne auch nur die augenblickliche Erleichterung der Selbsttäuschung zu erlangen. Er hatte die volle Wahrheit gesprochen und sie in die größte Lüge umgewandelt. Und doch liebte er von Natur die Wahrheit und verabscheute die Lüge so sehr, wie außer ihm nur wenige. Deshalb verabscheute er vor allen andern Dingen sein elendes Ich.

Seine innere Unruhe trieb ihn zu Gebräuchen, die eher mit dem alten, verderbten Glauben Roms im Einklang standen als mit dem helleren Licht der Kirche, in welcher er geboren und erzogen war. In Dimmesdales Schlafgemach befand sich unter Schloß und Riegel eine blutige Geißel. Oftmals hatte sie der protestantische und puritanische Geistliche gegen seine eigenen Schultern geschwungen und dabei bitter über sich selbst gelacht und wegen eben jenes bittern Lachens um so unbarmherziger zugeschlagen. Er hatte überdies die Gewohnheit zu fasten wie so viele andere fromme Puritaner, aber nicht, um, wie sie, den Körper zu höherer Reinheit zu führen und ihn zu einem passendem Gegenstand himmlischer Erleuchtung zu machen, sondern als einen strengen Akt der Buße, und bis seine Knie unter ihm zitterten. Dann hielt er eine Nachtwache um die andere, zuweilen in völliger Finsternis, zuweilen bei einer schwach schimmernden Lampe und mitunter vor einem Spiegel, in dem er sein eigenes Gesicht bei dem stärksten Lichte, welches er darauf werfen konnte, betrachtete. Auf diese Weise versinnbildlichte er die beständige Selbstschau, womit er sich folterte, aber sich nicht zu reinigen vermochte; bei diesen anhaltenden Vigilien drehte sich ihm oft das Hirn im Kreise und vor ihm schienen Visionen vorüberzuschweben, die er vielleicht zweifelhaft und in einem schwachen, von ihm selbst ausgeströmten Lichte in dem entfernten Düster des Gemaches erblickte, oder die lebhafter und dicht neben ihm im Spiegel zu sehen waren. Bald war es eine Herde diabolischer Gestalten, die den blassen Geistlichen angrinsten und verspotteten und ihm winkten mitzukommen, bald eine Gruppe schimmernder Engel, die schwer, wie kummerbeladen aufwärtsflogen, aber desto ätherischer wurden, je höher sie stiegen. Dann kamen die toten Freunde seiner Jugend und sein weißbärtiger Vater mit fromm gerunzelter Stirn und seine Mutter, die im Vorübergleiten ihr Gesicht abwendete. Der Geist einer Mutter, die körperloseste Phantasie von einer Mutter, sie hätte doch wohl einen mitleidigen Blick auf ihren Sohn werfen können! Und nun glitt durch das Gemach, welches diese gespenstischen Gedanken so schaurig gemacht hatten, Esther Prynne mit Perlchen in ihrem Scharlachgewande und deutete mit dem Zeigefinger zuerst auf den Scharlachbuchstaben an ihrem Busen und dann auf des Geistlichen eigene Brust.

Von diesen Visionen täuschte ihn keine je vollkommen. Er konnte jeden Augenblick mit einer Anstrengung seines Willens Gegenstände durch ihre nebelhafte Körperlosigkeit erkennen und sich überzeugen, daß sie nicht von solider Natur seien, wie jener geschnitzte Eichentisch oder das dicke, viereckige, ledergebundene Buch mit Messingklappen dort. Bei alledem waren sie aber in einem Sinne die wirklichsten und wesenhaftesten Dinge, mit welchen jetzt der arme Geistliche zu tun hatte. Es ist das unnennbare Elend eines so falschen Lebens wie des seinigen, daß es allem Wirklichen, was uns umgibt und was von dem Himmel zur Freude und Nahrung des Geistes bestimmt ist, sein Mark und seine Wesenhaftigkeit raubt. Dem Unwahren ist die ganze Welt eine Lüge, ist ungreifbar, zerfließt in seiner Hand in nichts, und er selbst wird, soweit er sich in einem falschen Lichte zeigt, zu einem Schatten oder hört eigentlich völlig zu existieren auf. Die einzige Wahrheit, welche dem Pfarrer Dimmesdale eine wirkliche Existenz auf dieser Erde zu geben fortfuhr, war die Seelenqual in seinem tiefsten Innern und der unverstellte Ausdruck davon auf seinem Gesicht. Hätte er nur ein einziges Mal die Kraft gefunden zu lächeln und eine heitere Miene zu zeigen, so würde es gar keinen solchen Menschen mehr gegeben haben!

In einer jener häßlichen Nächte, die wir nur angedeutet, uns aber enthalten haben, völlig auszumalen, sprang der Prediger von seinem Stuhle auf. Ein neuer Gedanke hatte sich seiner bemächtigt. Es war möglich, daß er dadurch auf einen Augenblick zu Frieden gelangte. Er kleidete sich mit ebenso großer Sorgfalt wie zum öffentlichen Gottesdienst und genau auf die gleiche Weise an, stahl sich leise die Treppe hinab, öffnete die Tür und trat auf die Straße hinaus.

Kapitel 12
Die Vigilie des Geistlichen

Gewissermaßen in Traumesschatten dahinschreitend und vielleicht auch wirklich unter dem Einflüsse einer Art von Somnambulismus erreichte Dimmesdale die Stelle, wo vor jetzt so langer Zeit Esther Prynne ihre erste Stunde der öffentlichen Schmach durchlebt hatte. Unter dem Balkon des Versammlungshauses stand noch dasselbe Gerüst, schmerzlich und von dem Sturm und Sonnenschein sieben langer Jahre gefärbt und von den Schritten der vielen Sünder, welche seitdem hinaufgestiegen waren, ausgetreten. Der Geistliche erstieg die Stufen.

Es war eine dunkle Nacht zu Anfang des Monats Mai. Der ganze Himmel war vom Zenit bis zum Horizont von einer ununterbrochenen Wolkendecke verhüllt. Wenn jetzt dieselbe Volksmenge, welche Augenzeuge der Strafe Esther Prynnes gewesen war, hätte herbeigerufen werden können, so würde sie auf dem Gerüste kein Gesicht, ja in dem dunklen Grau der Mitternacht kaum die Umrisse einer menschlichen Gestalt wahrgenommen haben. In der Stadt schlief jedoch alles, es war keine Gefahr der Entdeckung. Der Geistliche konnte, wenn es ihm beliebte, dort stehen bleiben, bis der Morgen sich im Osten rötete, ohne weitere Gefahr zu laufen, als daß die feuchte, kalte Nachtluft in seinen Körper drang und seine Glieder mit rheumatischer Steifheit erfüllte und seine Kehle durch Katarrh und Husten heiser machte und dadurch die erwartungsvolle Gemeinde um das Gebet am nächsten Morgen und die Predigt brachte. Kein Auge konnte ihn erblicken, außer dem stets wachenden, welches ihn in seinem Gemach die blutige Geißel hatte schwingen sehen. Warum war er aber dann hierhergekommen? War es bloß die Parodie eines Bußaktes? Allerdings eine Parodie, bei der seine Seele ihrer selbst spottete, eine Parodie, über welche Engel erröteten und weinten, während Teufel mit höhnischem Gelächter jubelten. Er war von der Macht der Reue, die ihn überall verfolgte und deren Schwester und engverbundene Gefährtin die Feigheit war, welche ihn stets mit ihrer zitternden Hand zurückzog, wenn ihn der andere Impuls bis zur Grenze eines Geständnisses gedrängt hatte, hierher getrieben worden. Der unglückliche Mann! Welches Recht hatte eine Schwäche, wie die seine, sich mit einem Verbrechen zu belasten? Das Verbrechen ist für mit eisernen Nerven Begabte, welche die Wahl haben, es entweder zu tragen oder, wenn es zu schwer lasten sollte, ihre wilde, wütige Kraft zu einem guten Zwecke anzuwenden und es mit einem Male von sich zu werfen! Dieser schwache und von seinen Gefühlen beherrschte Geist konnte keines von beiden tun, und doch tat er beständig eines oder das andere, was die Qual dem Himmel trotzender Sünde und vergebliche Reue zu dem gleichen unauflöslichen Knoten verschlang.

Und während Dimmesdale in dieser eitlen Nachäfferei der Sühne auf dem Gerüste stand, bemächtigte sich seiner ein tiefer Schrecken des Geistes, als blicke die ganze Welt auf ein scharlachrotes Zeichen auf seiner nackten Brust gerade über dem Herzen. An dieser Stelle befand sich in der Tat und schon lange der nagende, giftige Zahn körperlichen Schmerzes. Ohne eine Anstrengung seines Willens, ohne Kraft, sich zurückzuhalten, schrie er laut auf, daß es durch die Nacht hallte und von einem Hause gegen das andere geworfen wurde und von dem Hügel im Hintergrund antwortete, als ob eine Gesellschaft von Teufeln so großes Elend und Entsetzen in dem Laute entdeckt habe und ihn zu ihrem Spielwerk gemacht hätte und scherzend hin und her schleudere.

»Es ist vollbracht«, flüsterte der Geistliche und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Die ganze Stadt wird erwachen und herbeieilen und mich hier finden!«

Aber dem war nicht so. Der Schrei war vielleicht mit weit größerer Kraft, als er wirklich besaß, in seinen eigenen erschreckten Ohren erklungen. Die Stadt erwachte nicht, oder wenn sie es tat, so hielten die müden Schläfer den Schrei entweder für einen furchtbaren Traum oder für den Lärm der Hexen, deren Stimmen man zu damaliger Zeit oft über die Niederlassungen und einsamen Hütten hinziehen hörte, wenn sie mit Satan durch die Luft ritten. Da der Geistliche kein Zeichen einer Störung seiner Einsamkeit wahrnahm, entfernte er die Hand, womit er sein Gesicht bedeckt hatte, von den Augen und blickte um sich. An einem von den Kammerfenstern des Herrschaftshauses des Gouverneurs Bellingham, welches in einiger Entfernung in der Linie einer andern Straße stand, bemerkte er die Gestalt des alten Magistratsherrn selbst mit einer Lampe in der Hand, einer weißen Nachtmütze auf dem Kopfe und einem langen, weißen Nachtgewande, das seine Figur einhüllte. Er sah aus wie ein zur unrechten Zeit aus dem Grabe heraufbeschworener Geist. Der Schrei hatte ihn offenbar aufgeschreckt. An einem andern Fenster desselben Hauses zeigte sich überdies die alte Hibbins, die Schwester des Gouverneurs, ebenfalls mit einer Lampe, die selbst in so weiter Ferne den Ausdruck ihres versäuerten, unzufriedenen Gesichtes erkennen ließ. Sie streckte ihren Kopf aus dem Fenster und blickte aufmerksam in die Höhe. Ohne allen Zweifel hatte die ehrwürdige Hexendame Dimmesdales Schrei gehört und ihn mit seinen zahlreichen Widerhallen und Echos für den Lärm der Dämonen und Nachtgespenster gehalten, mit welchen sie bekanntlich Ausflüge in den Wald machte.

Als die alte Dame den Schimmer der Lampe des Gouverneurs Bellingham bemerkte, löschte sie schnell ihr Licht aus und verschwand. Vielleicht fuhr sie hinauf in die Wolken. Der Prediger sah von ihren Bewegungen weiter nichts. Der Gouverneur zog sich nach einigen in die Dunkelheit hinausgeworfenen Blicken, die ihn jedoch nicht tiefer in diese dringen ließen wie in einen Mühlstein, vom Fenster zurück.

Der Geistliche wurde etwas ruhiger. Seine Augen bemerkten jedoch bald ein kleines schimmerndes Licht, welches anfänglich eine weite Strecke entfernt die Straße entlang herankam. Es warf einen Strahl des Erkennens hier auf einen Pfosten, dort auf einen Gartenzaun, da wieder auf eine Fensterscheibe und dann auf einen Brunnen mit seinem vollen Wassertroge und hier endlich auf eine gewölbte, eichene Tür mit einem eisernen Klopfer und einem behauenen Klotze statt der Schwelle. Dimmesdale bemerkte alle diese kleinen Einzelheiten, selbst während er fest überzeugt war, daß das Strafgericht seiner Existenz in den Schritten, die er jetzt hörte, heranschleiche, und daß in wenigen Augenblicken der Strahl der Laterne auf ihn fallen und sein lange verborgen gehaltenes Geheimnis enthüllen würde. Als das Licht näher kam, erblickte er in dem erhellten Kreise seinen Kollegen oder genauer gesagt, seinen geistlichen Vater und hochgeschätzten Freund, den ehrwürdigen Herrn Wilson, der, wie Pfarrer Dimmesdale jetzt vermutete, am Bette eines Sterbenden gebetet hatte. So war es auch. Der gute alte Pfarrer kam direkt aus dem Sterbezimmer des Gouverneurs Winthrop, der in eben jener Stunde die Erde mit dem Himmel vertauscht hatte, und nun begab sich, wie die Heiligen des Altertums mit einer Strahlenglorie umgeben, die ihn mitten in dieser düsteren Nacht der Sünde erhellte, als ob ihm der dahingeschiedene Gouverneur seine Herrlichkeit zum Erbteil zurückgelassen, als ob auf ihn selbst der ferne Glanz des himmlischen Jerusalems gefallen sei, während er emporblickte, um den triumphierenden Pilger in dessen Tore eingehen zu sehen – jetzt begab sich der gute Vater Wilson nach Hause, indem er seine Schritte nach dem Scheine einer Laterne lenkte. Deren Licht gab dem Dimmesdale diese Gedanken ein und er lächelte, ja er lachte sogar fast über sie und fragte sich dann selbst, ob er nicht wahnsinnig werde.

 

Als der ehrwürdige Pastor Wilson unter dem Gerüst vorüber ging und sein Genfer Mäntelchen mit der einen Hand dicht um sich schlang, während er mit der andern die Laterne vor seine Brust hielt, konnte der junge Geistliche sich kaum des Sprechens enthalten.

»Guten Abend, ehrwürdiger Vater Wilson. Ich bitte Euch, kommt herauf und bringt mit mir ein angenehmes Stündchen zu.«

Lieber Himmel! Hatte Dimmesdale wirklich gesprochen? Einen Augenblick glaubte er, daß diese Worte über seine Lippen gegangen seien, sie waren aber nur in seiner Phantasie ausgesprochen worden. Der ehrwürdige Vater Wilson schritt ruhig weiter, blickte vorsichtig auf den schmutzigen Weg zu seinen Füßen und wendete den Kopf nicht ein einziges Mal der Schandbühne zu. Als das Licht der Laterne gänzlich verschwunden war, bemerkte der Prediger an der Schwäche, die sich seiner bemächtigte, daß die letzten Augenblicke eine Krisis furchtbarer Angst gewesen waren, wiewohl sein Geist eine unwillkürliche Anstrengung gemacht hatte, sich durch eine Art von gewitterschwüler Scherzhaftigkeit zu erleichtern.

Bald nachher schlich sich das gleiche grauenhafte Gefühl für das Komische wieder unter die ernsten Phantome seiner Gedanken ein. Er fühlte, wie seine Glieder von der ungewohnten Kälte der Nacht steif wurden, und bezweifelte, daß er imstande sein würde, wieder die Stufen des Prangers hinabzusteigen. Der Morgen mußte bald anbrechen und ihn dort finden. Die Nachbarschaft würde anfangen sich zu ermuntern. Der am zeitigsten Aufstehende würde aus dem trüben Zwielicht auftauchen und eine undeutliche Gestalt hoch auf dem Schandplatz stehen sehen, halb irre zwischen Angst und Neugier von Tür zu Tür eilen und klopfen und alle Bewohner herausrufen, damit sie das Gespenst – denn dafür mußte er ihn halten – eines verstorbenen Sünders anschauen könnten. Ein trüber Tumult würde seine Schwinge von einem Hause zum andern schwingen, dann würden mit dem stärker werdenden Morgenlichte alte Patriarchen hastig in ihren Flanellröcken und Matronen, ohne sich zum Ablegen ihrer Nachtgewänder Zeit zu nehmen, herauseilen. Alle jene anständigen Personagen, die sich bisher noch nie mit auch nur einem verkrümmten Haare ihres Hauptes hatten sehen lassen, würden mit einer Verstörung wie vom Alpdrücken vor die Augen der Menge treten. Der alte Gouverneur Bellingham würde finster und mit verkehrt umgebundener Krause herauskommen, und am Saume des Gewandes der Hibbins würden noch einige Zweige des Waldes haften und jene selbst sauertöpfischer denn je aussehen, da sie nach ihrem nächtlichen Ritt kaum einen Augenblick hätte schlafen können. Auch der gute Vater Wilson würde, nachdem er die halbe Nacht an einem Sterbebette gewesen, sich nicht gern so früh aus seinen Träumen von den Heiligen im Himmel stören lassen. Hierher würden ferner die ältesten der Kirche Dimmesdales und die Jungfrauen kommen, die ihren Prediger so vergötterten und ihm Altäre in ihren weißen Busen errichtet hatten, die sie sich jetzt in ihrer Eile und Verwirrung kaum Zeit gelassen haben würden, mit ihrem Brusttüchlein zu bedecken. Kurz, die ganze Stadt würde aus den Häusern stolpern und ihre erstaunten und entsetzten Gesichter zu dem Pranger erheben. Wen würde man dort mit dem roten Morgenlicht auf seiner Stirn entdecken? Wen anders als Seine Ehrwürden, den Arthur Dimmesdale, der halb erfroren, von Scham niedergedrückt dastand, wo einst Esther Prynne gestanden hatte.

Von dem grotesken Grausen dieses Bildes mit fortgerissen, brach der Prediger unwillkürlich und zu seinem eigenen unendlichen Schrecken in lautes Gelächter aus. Diesem antwortete augenblicklich ein leichtes, lustiges, kindisches Lachen, in welchem er mit einem Beben des Herzens, von dem er nicht wußte, ob er es unendlicher Pein oder ebenso großer Freude zuschreiben sollte, die Stimme Perlchens erkannte.

»Perle, Perlchen!« rief er nach einer momentanen Pause, und dann mit gedämpfter Stimme: »Esther! Esther Prynne! Bist du da?«

»Ja, es ist Esther Prynne«, antwortete sie im Tone des Erstaunens, und der Geistliche hörte, wie sich ihre Schritte von dem Bürgersteig her, auf welchem sie gegangen war, näherten. »Ich bin es mit meiner kleinen Perle.«

»Woher kommst du, Esther?« fragte der Prediger. »Was bringt dich hierher?«

»Ich habe an einem Sterbebette gewacht!« antwortete Esther Prynne, »an Gouverneur Winthrops Sterbebette und ihm das Maß zu einem Leichenkleid genommen, und gehe jetzt heim nach meiner Wohnung.«

»Komm herauf, Esther, du und Perlchen!« sagte Dimmesdale. »Ihr seid beide schon hier gewesen, aber ich war nicht bei euch. Kommt noch einmal herauf, und wir wollen alle drei beisammenstehen.«

Sie erstieg schweigend die Stufen und stellte sich, mit Perlchen an der Hand, auf die Bühne. Der Geistliche faßte nach der andern Hand des Kindes und nahm sie. In dem Augenblicke, wo er dies tat, kam, wie es ihm schien, eine brausende Flut neuen Lebens, anderen Lebens als das seine, wie ein Bergstrom in sein Herz und jagte durch alle seine Adern, als ob Mutter und Kind seinem halb erstarrten Körper die Lebenswärme mitteilten. Die drei bildeten eine elektrische Kette.

»Prediger«, flüsterte Perlchen.

»Was willst du, Kind?« fragte Dimmesdale.

»Willst du morgen mittag mit der Mutter und mir hier stehen?« fragte Perle.

»Nicht so, mein Perlchen«, antwortete der Geistliche, denn mit der neuen Energie des Augenblicks war die ganze Furcht vor öffentlicher Schmach, die so lange die Qual seines Lebens gewesen war, zurückgekehrt, und er zitterte bereits über die Lage, in welcher er sich, wenn auch mit einer seltsamen Freude, gegenwärtig befand.

»Nicht so, mein Kind, wir werden in der Tat noch eines Tages beisammenstehen, aber nicht morgen.«

Perle lachte und versuchte, ihre Hand hinwegzuziehen; der Geistliche hielt diese aber fest. »Einen Augenblick noch, mein Kind!« sagte er.

»Willst du mir versprechen«, sagte Perle, »morgen mittag meine und meiner Mutter Hand zu nehmen?«

»Morgen nicht, Perle«, sagte der Geistliche, »aber ein anderes Mal«.

»Welch anderes Mal?« fragte das Kind von neuem.

»Am großen Tage des Gerichtes!« flüsterte der Geistliche. Und seltsam genug trieb ihn das Bewußtsein, daß sein Amt das eines Lehrers der göttlichen Wahrheit sei, an, dem Kinde so zu antworten. »Dann müssen vor dem großen Richterthrone deine Mutter und du und ich beisammen stehen! Aber das Tageslicht dieser Welt soll unsere Vereinigung nicht bescheinen.«