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Der scharlachrote Buchstabe

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»Liegt die Welt im Umfange jener Stadt, die erst vor kurzem noch nur eine laubige, ebenso einsame Wildnis war, so einsam wie die um uns? Wohin führt jener Waldweg? Zurück zu der Ansiedelung, sagst du. Ja, aber auch vorwärts. Tiefer geht er und immer tiefer in die Wildnis, mit jedem Schritt ist er weniger deutlich zu sehen, bis wenige Meilen von hier die vergilbten Blätter keine Spuren mehr von den Tritten des weißen Mannes zeigen. Dort bist du frei. Eine so kurze Reise würde dich aus einer Welt, in der du elend gewesen bist, in eine andere bringen, wo du noch glücklich sein kannst. Gibt es in diesem ganzen unbegrenzten Walde nicht Schatten genug, um dein Herz vor dem Blicke Roger Chillingworths zu verbergen?«

»Ja, Esther, aber nur unter dem gefallenen Laube«, antwortete der Prediger mit einem trüben Lächeln.

»Dann haben wir noch die breite Straße des Meeres«, fuhr Esther fort. »Sie hat dich hierher gebracht. Wenn du willst, wird sie dich auch wieder zurücktragen. In unserm Heimatlande, sei es nun in einem abgelegenen Dorf oder in dem unermeßlichen London, oder sicherlich dort in Deutschland, in Frankreich, im lieblichen Italien – würdest du seiner Macht und seinem Wissen entronnen sein. Und was hast du mit allen diesen eisernen Männern und ihren Meinungen zu schaffen? Sie haben dein besseres Teil nur zu lange schon in Banden gehalten.«

»Es kann nicht sein!« antwortete der Geistliche, der lauschte, als ob er aufgerufen sei, einen Traum zu verwirklichen. »Ich habe nicht die Kraft zu gehen. So elend und sündig ich auch bin, habe ich doch keinen andern Gedanken gehabt als den, meine irdische Existenz in dem Wirkungskreise, wohin mich die Vorsehung versetzt hat, weiterzuschleppen. So verloren auch meine eigene Seele ist, möchte ich doch für andere menschliche Seelen immer noch tun, was ich kann. Ich wage nicht, meinen Posten zu verlassen, wenn ich auch ein ungetreuer Wächter bin, dessen sicherer Lohn Tod und Schande sein wird, wenn seine traurige Wachtzeit zu Ende geht.«

»Du bist von dieser siebenjährigen Last des Elends erdrückt«, antwortete Esther, fest entschlossen, ihm durch ihre eigne Energie wieder Spannkraft zu verleihen. »Du sollst aber alles hinter dir zurücklassen. Es darf weder deine Schritte hemmen, wenn du auf dem Waldpfad dahinschreitest, noch darfst du das Schiff damit befrachten, wenn du es vorziehst, über das Meer zu gehen. Laß diese Trümmer hier, wo der Einsturz geschehen ist! Kümmere dich nicht weiter darum. Beginne ganz von neuem! Hast du durch das Fehlschlagen dieses einen Versuches alle Möglichkeiten erschöpft? Nicht doch! Die Zukunft ist noch voller Versuche und Erfolge. Es gibt Glück, das du genießen, Gutes, das du tun kannst! Vertausche dein falsches Leben mit einem wahren. Sei, wenn dich dein Geist zu einer solchen Sendung auffordert, der Lehrer und Apostel der roten Männer oder, wie es deiner Natur mehr zusagt, sei ein Gelehrter und Weiser unter den Weisesten und Berühmtesten der gebildeten Welt. Predige! Schreibe! Handle! Tue alles, nur leg dich nicht nieder und stirb! Gib den Namen Arthur Dimmesdale auf und erwirb dir einen anderen und großen, den du ohne Furcht und Scham tragen kannst. Warum willst du auch nur einen Tag in den Qualen verharren, die sich so in dein Leben genagt, die dich schwach in Wollen und Handeln gemacht haben und dich selbst zur Reue unfähig machen werden? Auf, und fort von hier!«

»Esther«, rief Arthur Dimmesdale, in dessen Augen ein durch ihren Enthusiasmus entzündetes, flackerndes Licht aufgelodert und wieder verlöscht war. »Du sagst einem Manne, dessen Knie beben, daß er einen Wettlauf machen solle! Ich muß hier sterben. Ich habe weder die Kraft noch den Mut mehr, mich allein in die weite, fremde und schwierige Welt hinauszuwagen.«

Es war der letzte Ausdruck der Mutlosigkeit eines gebrochenen Geistes. Es fehlte ihm an der Energie, das bessere Glück zu erfassen, welches im Bereich seiner Hände zu sein schien.

Er wiederholte das Wort:

»Allein, Esther!«

»Du sollst nicht allein gehen!« antwortete sie, die Worte flüsternd.

Damit war alles gesagt.

Kapitel 18
Flut von Sonnenschein

Arthur Dimmesdale schaute in Esthers Gesicht mit einem Blick, in welchem wohl Hoffnung und Freude glänzten, dabei aber doch eine Art von Furcht und Schrecken über ihre Kühnheit schimmerten, die das ausgesprochen hatte, was er angedeutet, aber nicht zu sagen gewagt hatte.

Aber Esther Prynne, die einen Geist voll Tatkraft und angeborenen Mutes besaß und eine so lange Zeit der Gesellschaft nicht bloß entfremdet, sondern selbst von ihr geächtet gewesen war, hatte sich an eine Denkfreiheit gewöhnt, wie sie der Geistliche nicht zu fassen vermochte. Sie war ohne Regeln und Führer in einer moralischen Wildnis umhergeirrt, die ebenso unermeßlich verworren und schattig war wie der ungezähmte Urwald, in dessen Dunkel sie jetzt ein Gespräch hielten, welches ihr Schicksal entscheiden sollte. Ihr Verstand und Herz hatten ihre Heimat sozusagen an öden Orten, wo sie ebenso frei wie der wilde Indianer in seinen Wäldern umherschweifte. Seit Jahren hatte sie die menschlichen Institutionen und alles, was Priester und Gesetzgeber festgestellt, aus diesem entfremdeten Gesichtspunkte betrachtet und mit kaum größerer Ehrerbietung beurteilt als ein Indianer für das geistliche Beffchen, das richterliche Gewand, den Pranger, den Galgen, den häuslichen Herd oder die Kirche fühlen würde. Fatum und Fortuna hatten sie freigesetzt. Der Scharlachbuchstabe war ihr Paß für Regionen, welche andere Frauen nicht zu betreten wagten. Schande, Verzweiflung, Einsamkeit waren ihre Lehrer gewesen – und zwar strenge und grimmige. Diese hatten sie stark gemacht, aber auch öfter in die Irre geführt.

Der Geistliche dagegen hatte nie eine Erfahrung durchgemacht, die ihn über den Bereich der allgemein angenommenen Gesetze hinaus hätte führen können, wenn er auch ein einziges Mal eines von den geheiligtsten derselben so furchtbar übertreten hatte. Dies war aber eine Sünde der Leidenschaft und nicht eine des Grundsatzes oder auch nur der Absicht gewesen. Seit jener Unglückszeit hatte er mit krankhaftem Eifer und Berücksichtigung jedes einzelnen nicht bloß seine Handlungen – denn diese zu ordnen war leicht –, sondern jeden Hauch einer Bewegung und jeden Gedanken beobachtet. An der Spitze des sozialen Systems stehend, wie die Geistlichen jener Zeit im allgemeinen, wurde er durch dessen Regulationen, Grundsätze und selbst Vorurteile nur um so enger gefesselt. Als Priester hemmte ihn das Gerüst seines Standes unvermeidlich; als Mensch, der einmal gesündigt, aber sein Gewissen durch das Nagen einer ungeheilten Wunde in voller Tätigkeit und Empfindlichkeit erhalten hatte, wäre zu erwarten gewesen, daß er sicherer innerhalb der Grenze der Tugend sei, als wenn er nie gesündigt hätte.

So schien es, daß, was Esther Prynne betraf, die ganzen sieben Jahre der Ächtung und Schmach fast nichts gewesen waren als eine Vorbereitung auf gerade diese Stunde.

Aber Arthur Dimmesdale: – Was konnte ein solcher Mann, wenn er nochmals fallen sollte, zur Entschuldigung seines Vergehens vorbringen? Nichts, wenn nicht das, daß er durch langes, tiefes Leiden niedergebrochen, daß sein Geist gerade durch die Reue, welche ihn quälte, verdunkelt und verwirrt war, daß das Gewissen es schwer finden mochte, zwischen dem Fliehen als geständiger Verbrecher und dem Dableiben als Heuchler zur Entscheidung zu kommen, daß es nicht mehr als menschlich war, die Gefahr des Todes und der Schande und die unerforschlichen Machinationen eines Feindes zu vermeiden, daß endlich dem armen, schwachen, kranken, unglücklichen Pilger auf seinem traurigen und öden Pfade ein Lichtblick menschlicher Liebe und Teilnahme ein neues und wahres Leben statt des schweren Fluches, unter welchem er jetzt litt, schimmerte. Es ist strenge, traurige Wahrheit, und doch sei sie gesagt, daß der Bruch, den die Schuld einmal in der menschlichen Seele aufgerissen hat, in unserm sterblichen Leben nie wieder geheilt wird. Man mag ihn beobachten und bewachen, damit der Feind nicht wieder in die Zitadelle dringe und bei seinen späteren Angriffen lieber einen andern Zugang als den, wo es ihm früher gelungen war, suche. Aber die zertrümmerte Mauer ist immer noch vorhanden und in ihrer Nähe der schleichende Schritt des Feindes, welcher seinen noch nicht vergessenen Triumph von neuem erringen möchte.

Der Kampf, wenn ein solcher stattfand, braucht nicht beschrieben zu werden. Genug, daß der Geistliche beschloß, zu fliehen, und nicht allein.

›Wenn ich mich in diesen ganzen sieben Jahren‹, dachte er, ›auch nur eines einzigen Augenblicks des Friedens oder der Hoffnung erinnern könnte, so würde ich um dieser Probe der Gnade des Heiles willen noch länger ausharren. Warum sollte ich aber jetzt, wo ich unwiderruflich verdammt bin, nicht nach der Tröstung greifen, die dem verurteilten Verbrecher vor seiner Hinrichtung gewährt ist? Oder wenn dies der Pfad zu einem bessern Leben ist, wie mich Esther überreden möchte, so gebe ich sicherlich keine bessern Aussichten auf, indem ich ihn betrete! Ebensowenig kann ich länger ohne ihre Gesellschaft leben, so kräftig vermag sie aufrecht zu erhalten, so zärtlich weiß sie zu trösten! Du, zu dem ich meine Augen nicht zu erheben wage, wirst Du mir noch verzeihen?‹

»Du wirst gehen«, sagte Esther ruhig, als er ihrem Blicke begegnete.

Sobald der Entschluß einmal gefaßt war, warf eine Glut seltsamer Lust ihren flackernden Schimmer über die Unruhe seines Herzens. Es war die erheiternde Wirkung, welche das Atmen der wilden freien Atmosphäre einer unbebauten, unchristianisierten, gesetzlosen Gegend auf einen eben erst dem Kerker seines eignen Herzens entronnenen Gefangenen macht. Sein Geist erhob sich sozusagen mit einem Sprunge und erlangte einen näheren Blick auf den Himmel als während des ganzen Elends, das ihn im Staube kriechend an die Erde gefesselt hatte. Bei seinem tiefreligiösen Temperamente nahm diese Stimmung unvermeidlich eine andächtige Färbung an.

 

»Fühle ich wieder Freude?« rief er, über sich selbst verwundert, aus. »Ich hatte gedacht, daß ihr Keim in mir erstorben sei. O Esther, du bist mein besserer Engel! Es ist mir, als habe ich mich krank, sündebefleckt und schmerzverdüstert auf dieses Waldlaub niedergeworfen und sei neugeschaffen und mit neuen Kräften wieder aufgestanden, um ihn, der mir Gnade bewiesen, zu verherrlichen! Dies ist bereits das bessere Leben. Warum haben wir es nicht früher gefunden?«

»Wir wollen nicht zurückschauen«, antwortete Esther Prynne, »die Vergangenheit ist dahinten. Warum sollten wir noch bei ihr verweilen? Sieh! Mit diesem Symbole lege ich alles von mir ab und mache es wie nie geschehen.«

Mit diesen Worten löste sie die Spange ab, womit der Scharlachbuchstabe befestigt war, nahm ihn von ihrem Busen und warf ihn von sich unter das verwelkte Laub.

Das mystische Zeichen fiel auf das diesseitige Ufer des Baches. Wäre es nur eine Handbreit weiter geflogen, so würde es in das Wasser gefallen sein und dem kleinen Bache außer der unverständlichen Geschichte, von welcher er immer noch murmelte, ein weiteres Weh zu tragen gegeben haben. Aber da lag der gestickte Buchstabe, schimmernd wie ein verlorenes Juwel, und ein unglückseliger Wanderer konnte ihn vielleicht aufheben und von dem Augenblicke an durch seltsame Gespenster der Sünde, Herzensbeklemmung und unerklärliches Unglück verfolgt werden.

Sobald das Brandmal fort war, holte Esther einen langen, tiefen Seufzer herauf, mit welchem die Last der Scham und Pein von ihrer Brust entfloh. O die köstliche Erleichterung! Sie hatte die Last nicht eher gekannt, als bis sie die Befreiung fühlte. Mit einem zweiten Antriebe nahm sie die förmliche Haube ab, welche ihr Haar umschloß, und dunkel und reich, mit zugleich einem Schatten und einem Lichte in seiner Üppigkeit rollte es herab auf ihre Schultern und erteilte ihren Zügen den Zauber der Milde. Um ihren Mund spielte und aus ihren Augen strahlte ein zärtliches, frohes Lächeln, welches aus dem innersten Herzen der Weiblichkeit hervorzuquellen schien. Auf ihren solange so bleich gewesenen Wangen brannte eine purpurne Röte. Ihr Geschlecht, ihre Jugend und der ganze Reichtum ihrer Schönheit kamen aus dem, was die Menschen die unwiderrufliche Vergangenheit nennen, zurück und drängten sich mit ihrer jungfräulichen Hoffnung und einer bis jetzt unbekannt gewesenen Glücklichkeit in den Zauberkreis dieser Stunde. Und als ob das Dunkel der Erde und des Himmels nur der Ausfluß dieser beiden sterblichen Herzen gewesen wäre, verschwand es ebenfalls mit ihrem Schmerze. Der Sonnenschein brach plötzlich wie ein Lächeln des Himmels durch die Wolken, ergoß eine wahre Lichtflut in den düsteren Wald, erhellte jedes grüne Blatt, verwandelte das gelbe, abgefallene Laub in Gold und schimmerte auf den grauen Stämmen der feierlich ernsten Bäume. Die Gegenstände, welche bisher das Dunkel gemacht hatten, verkörperten jetzt das Licht; auch die Bahn des kleinen Baches war durch dessen munteres Glitzern tief in das geheimnisvolle Herz des Waldes, dessen Geheimnis eines der Freude geworden, zu verfolgen.

In solcher Sympathie stand die Natur, die wilde heidnische, nie von menschlichen Gesetzen unterjochte, nie von höherer Wahrheit erleuchtete Natur des Waldes mit der Seligkeit dieser beiden Geister. Die Liebe, gleichviel ob sie neugeboren oder aus einem Totenschlafe erwacht ist, muß stets einen Sonnenschein erzeugen, der das Herz so strahlend erfüllt, daß er auf die äußere Welt überströmt. Selbst wenn der Wald in seinem Düster verharrt hätte, würde er in Esthers und Arthur Dimmesdales Augen heiter gewesen sein.

Esther blickte ihn noch mit dem Schauer einer andern Freude an.

»Du mußt Perle kennenlernen«, sagte sie, »unser Perlchen! Du hast sie gesehen – ich weiß es! – aber du wirst sie jetzt mit andern Augen betrachten. Sie ist ein seltsames Kind! Ich begreife sie kaum, aber du wirst sie innig lieben, gleich mir, und mir raten, wie ich sie behandeln soll«.

»Denkst du, daß das Kind erfreut sein wird, mich zu kennen?« fragte der Geistliche etwas verwirrt. »Ich bin seit langem vor Kindern zurückgeschreckt, weil sie oft ein gewisses Mißtrauen, eine Abneigung, sich mir anzuschließen, bewiesen. Ich habe sogar die kleine Perle gefürchtet.«

»Ach, das war traurig«, antwortete die Mutter. »Aber sie wird dich lieben und du sie ebenfalls. Sie ist nicht weit, ich will sie rufen. Perle! Perle!«

»Ich sehe das Kind«, sagte der Geistliche. »Dort steht es in ziemlicher Entfernung in einem Streifen von Sonnenschein auf der andern Seite des Baches. Du denkst also, daß mich das Kind lieben wird?«

Esther lächelte und rief abermals Perle, die, wie es der Geistliche beschrieben hatte, in einiger Entfernung wie eine glänzende Erscheinung in einem Streifen von Sonnenschein sichtbar war, der durch ein Laubgewölbe auf sie niederfiel. Der Strahl zitterte hin und her und machte ihre Gestalt undeutlich und unbestimmt, bald wie die eines wirklichen Kindes, bald gleich der eines Kindergeistes, je nachdem der Glanz kam oder verschwand. Sie hörte die Stimme ihrer Mutter und näherte sich langsam durch den Wald.

Für Perle war die Stunde, während welcher ihre Mutter mit dem Geistlichen beisammen gesessen hatte, nicht langweilig gewesen. Der große schwarze Wald, so finster er auch denen erschien, welche die Schuld und Qual der Welt in seinen Schoß mitbrachten, wurde zum Spielkameraden des einsamen Kindes, so gut er es verstand. Trotz seiner Dunkelheit legte er doch sein heiterstes Kleid an, um sie willkommen zu heißen; er bot ihr Mitschellabeeren, die im vergangenen Herbst gewachsen, aber erst im Frühling gereift waren und jetzt rot wie Blutstropfen auf dem welken Laube schimmerten. Perle pflückte sie und erfreute sich an ihrem wilden Waldgeschmacke. Die kleinen Bewohner der Wildnis nahmen sich kaum die Mühe, ihr aus dem Wege zu gehen. Zwar lief ihr ein Rebhuhn mit einer Brut von zehn Jungen drohend entgegen, bereute aber bald seinen Zorn und gluckte seinen Jungen zu, daß sie nichts fürchten möchten. Eine auf einem niedrigen Zweige allein sitzende Taube ließ Perlchen bis dicht unter sich kommen und stieß einen Ton der Begrüßung sowohl wie der Besorgnis aus. Ein Eichhörnchen schwatzte von seinem hohen Wohnsitze im Baume zornig oder lustig herab, denn das Eichhörnchen ist eine so cholerische und launische kleine Person, daß es schwer ist, einen Unterschied zwischen seinen verschiedenen Stimmungen zu machen, es schwatzte zu dem Kinde herab und warf ihm eine Nuß auf den Kopf. Es war eine Nuß vom vergangenen Jahre und von seinem scharfen Zahne bereits angenagt. Ein durch ihren leichten Schritt auf den Blättern aus dem Schlafe geweckter Fuchs schaute Perlchen forschend an, als sei er ungewiß, ob es besser wäre, davonzuschleichen oder sein Schläfchen auf derselben Stelle fortzusetzen. Ein Wolf, so erzählt man sich – aber hier gleitet die Geschichte unzweifelhaft ins Unwahrscheinliche ab –, kam herbei und schnupperte an Perlchens Kleid und bot seinen rauhen Kopf ihrer Hand zum Tätscheln dar. Was aber wahr zu sein scheint, ist, daß der mütterliche Wald und die wilden Wesen, denen er Nahrung bot, alle eine verwandte Wildheit in dem Menschenkind wiedererkannten.

Und Perle war hier sanfter als in den grasumsäumten Straßen der Ansiedlung oder der Hütte ihrer Mutter. Die Blumen schienen es zu wissen und flüsterten ihr, als sie vorüberging, zu: Schmücke dich mit mir, du schönes Kind, schmücke dich mit mir! Und um ihnen den Gefallen zu tun, pflückte Perle die Veilchen und die Anemonen und Mohnblumen und einige Zweige vom frischesten Grün, die ihr die alten Bäume vor die Augen hielten. Mit diesen zierte sie ihr Haar und ihren jungen Leib und wurde ein Nymphenkind oder eine junge Dryade oder was sonst in der engsten Sympathie mit dem altertümlichen Walde stand. Auf diese Weise hatte sich Perle geschmückt, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte und langsam zurückkam.

Langsam – denn sie sah den Geistlichen.

Kapitel 19
Das Kind am Bache

»Du wirst sie sehr lieben«, wiederholte Esther Prynne, als sie und der Geistliche Perle beobachteten; »findest du sie nicht schön? Sieh nur, mit welchem natürlichen Geschick sie die einfachen Blumen zu ihrer Zierde verwendet hat! Wenn sie im Walde Perlen und Diamanten und Rubinen gesammelt hätte, so könnten sie ihr nicht besser anstehen. Sie ist ein herrliches Kind. Aber ich weiß, wessen Stirn sie hat.«

»Weißt du, Esther«, sagte Arthur Dimmesdale mit einem unruhigen Lächeln, »daß dieses liebe, stets an deiner Seite dahintrippelnde Kind mir manche Besorgnis verursacht hat? Ich dachte – o Esther, welch ein Gedanke! und wie entsetzlich, es zu fürchten! daß sich meine eignen Züge teilweise in ihrem Gesicht abspiegelten und so auffallend, daß es die Welt sehen könne! Aber sie gehört zum größten Teile dir an!«

»Nein, nein! nicht zum größten Teil«, antwortete die Mutter mit einem zärtlichen Lächeln; »nur noch ein wenig länger und du brauchst nicht mehr zu fürchten, wenn man sieht, wessen Kind sie ist. Aber wie eigentümlich schön sie mit jenen wilden Blumen in ihrem Haare aussieht. Es ist, als ob eine von den Feen, die wir in unserm lieben Alt-England zurückließen, sie für uns geschmückt habe.«

Mit einem Gefühle, welches keines von beiden bisher empfunden hatte, saßen sie und betrachteten die langsam näherkommende Perle. In ihr war das Band, welches sie verknüpfte, sichtbar. Sie war seit sieben Jahren der Welt als die lebende Hieroglyphenschrift dargeboten worden, in welcher sich das Geheimnis, das sie so eifrig zu verbergen suchten, offenbarte, in diesem Symbol war alles geschrieben, alles offenkundig – wenn es einen Propheten oder Zauberer gegeben hätte, der imstande gewesen wäre, die Flammenzeichen zu lesen. Und Perle war die Einheit des Wesens beider. Was auch das vorhergegangene Übel sein mochte, nie konnten sie bezweifeln, daß ihr irdisches Leben und zukünftiges Geschick verknüpft war, wenn sie die zugleich materielle Verbindung und geistige Idee erblickten, in welcher sie sich vereinigten und unsterblich zusammen leben sollten. Gedanken wie diese und vielleicht noch andere, die sie sich selbst nicht gestanden oder klarmachten, umgaben das Kind mit Feierlichkeit, als es sich näherte.

»Laß sie nichts Seltsames, keine Leidenschaftlichkeit oder Begier in der Art sehen, wie du sie empfängst!« flüsterte Esther. »Unsere Perle ist manchmal ein launischer und phantastischer kleiner Elf; besonders mag sie nur selten innere Bewegung leiden, wenn sie das Warum und Weshalb nicht vollkommen einsieht. Aber das Kind ist starker Neigungen fähig. Es liebt mich und wird dich lieben.«

»Du kannst dir kaum vorstellen«, sagte der Geistliche, mit einem Seitenblick auf Esther, »wie mein Herz dieses Zusammentreffen fürchtet und sich doch nach ihm sehnt. In Wahrheit aber, wie ich dir schon sagte, werden Kinder mit mir nicht leicht vertraut, sie klettern nicht auf meine Knie, plaudern nicht in mein Ohr, antworten nicht auf mein Lächeln, sondern stehen abseits und schauen mich seltsam an. Selbst Säuglinge weinen bitterlich, wenn ich sie auf meine Arme nehme. Und doch ist Perle zweimal in ihrem kurzen Leben freundlich gegen mich gewesen! Das erste Mal, weißt du noch. Das letzte Mal, als du sie nach dem Hause jenes strengen alten Gouverneurs führtest.«

»Und du so wacker für mein Kind und mich sprachst!« antwortete die Mutter. »Ich erinnere mich des Umstandes und Perlchen soll es auch. Fürchte nichts! Anfangs mag sie wohl fremd und schüchtern sein, bald aber wird sie dich lieben lernen.«

Perle war jetzt an den Rand des Baches gelangt und stand auf dessen anderer Seite, von wo sie stumm auf Esther und den Geistlichen blickte, die noch auf dem bemoosten alten Baumstamme saßen und sie erwarteten. Gerade, wo sie stehen geblieben war, bildete der Bach zufällig eine so glatte und ruhige Stelle, daß er ein vollkommenes Bild ihrer kleinen Figur mit ihrer ganzen malerischen Schönheit in ihrem Schmucke von Blumen und Laubgewinden abspiegelte, welches aber ätherischer und geistiger als die Wirklichkeit war. Dieses der lebenden Perle so sehr gleichende Bild schien dem Kinde selbst etwas von seiner Schattenhaftigkeit und Körperlosigkeit mitzuteilen. Es war seltsam, wie Perle dastand und sie so fest durch die trübe Luft des dunklen Waldes anblickte, während sie selbst mit einer Glorie von Sonnenschein umgeben war, den sie durch eine gewisse Sympathie angezogen zu haben schien. Unter ihr in dem Bache stand ein zweites Kind, ein anderes und doch dasselbe, gleichfalls mit seinem Strahle goldenen Lichtes. Esther fühlte sich auf eine undeutliche, quälende Weise von Perle entfremdet, als ob sich das Kind bei seiner einsamen Wanderung durch den Forst aus der Sphäre, in welcher es mit seiner Mutter zusammen lebte, verirrt habe und nun vergebens in dieselbe zurückzukehren suche.

 

Der Eindruck enthielt sowohl Wahrheit wie Täuschung. Das Kind und die Mutter waren einander entfremdet, aber nicht durch Perlens Schuld, sondern durch die Esthers. Seit das Kind von ihrer Seite hinweggegangen war, hatte die Mutter einen andern Genossen in den Kreis ihrer Gefühle aufgenommen und deren ganzes Aussehen so verändert, daß Perle, die zurückkehrende Wanderin, ihren gewohnten Platz nicht wiederfinden konnte und kaum wußte, wo sie war.

»Es kommt mir seltsamerweise so vor«, bemerkte der sensible Geistliche, »daß dieser Bach die Grenze zwischen zwei Welten ist und daß du nie wieder mit deiner Perle zusammenkommen kannst. Oder ist sie ein elfischer Geist, der, wie uns die Märchen unserer Kindheit gelehrt haben, nicht über ein fließendes Wasser gehen darf? Bring sie schnell herbei, denn dieser Verzug hat meine Nerven bereits zum Zittern gebracht.«

»Komm, liebstes Kind!« sagte Esther aufmunternd und ihre beiden Arme ausstreckend. »Wie langsam du bist! Wann bist du je so träge gewesen? Hier ist ein Freund von mir, der auch dein Freund werden muß, du wirst von nun an doppelt so viel Liebe haben, als deine Mutter allein dir geben kann! Spring über den Bach und komm zu uns. Du kannst springen wie ein junges Reh.«

Perle blieb, ohne irgendwie auf diese Schmeichelreden zu antworten, auf der andern Seite des Baches. Bald heftete sie ihre glänzenden, wilden Augen auf ihre Mutter, bald auf den Geistlichen, und bald umfaßte sie beide mit dem gleichen Blicke, wie um sich die Verbindung, in welcher sie miteinander standen, zu erklären. Aus irgendeinem unbegreiflichen Grunde stahl sich die Hand Arthur Dimmesdales, als er die Augen des Kindes auf sich fühlte, mit der ihm so gewohnt gewordenen, unwillkürlichen Bewegung nach seinem Herzen. Endlich nahm Perle eine eigentümliche gebieterische Miene an, streckte ihre Hand mit offenbar nach der Brust ihrer Mutter deutendem Zeigefinger aus, und unten in dem Spiegel des Baches war das blumenumgürtete, sonnige Bild der kleinen Perle und deutete ebenfalls mit seinem kleinen Zeigefinger.

»Du sonderbares Kind, warum kommst du nicht zu mir?« rief Esther.

Perle deutete immer noch mit ihrem Zeigefinger auf sie, und auf ihrem Gesicht zog sich ein zorniger Ausdruck zusammen, der das kindische, ja fast säuglingshafte Aussehen der Züge nur um so eindrucksvoller machte. Als die Mutter fortfuhr, ihr zu winken und ihr Gesicht in ein ungewohntes lächelndes Feiertagsgewand kleidete, stampfte das Kind mit noch befehlenderen Blicken und Gebärden auf den Boden. Wieder war im Bache die phantastische Schönheit der Gestalt mit ihrem zornigen Gesichtsausdruck, ihrem ausgestreckten Finger und der gebieterischen Gebärde zu sehen, die dem Anblick der kleinen Perle Nachdruck verlieh.

»Beeile dich, Perle, sonst werde ich auf dich böse!« rief Esther Prynne, die zwar an ein solches Benehmen des Elfenkindes gewöhnt war, aber doch eine artigere Aufführung gewünscht hätte. »Spring über den Bach, du garstiges Kind, und lauf hierher! Sonst muß ich zu dir kommen.«

Perle, durch die Drohungen ihrer Mutter ebensowenig erschreckt wie durch ihre Bitten erweicht, brach aber jetzt in einen Zornesanfall aus, gestikulierte heftig und verzerrte ihre kleine Gestalt auf das gewaltsamste. Dies begleitete sie mit durchdringenden Schreien, die im Walde widerhallten, so daß es, wenn sie auch in ihrem kindischen, unverständigen Zorne allein war, schien, als ob eine verborgene Menge sie mit ihrer Sympathie unterstützte.

Auch im Bache spiegelte sich Perlens zorniges Bild, das zwar mit Blumen gekrönt und umgürtet war, aber mit dem Fuße stampfte, wild gestikulierte und dabei mit seinem kleinen Zeigefinger auf Esthers Busen deutete.

»Ich sehe, was dem Kinde fehlt –«, flüsterte Esther dem Geistlichen zu und erbleichte trotz einer kräftigen Anstrengung, ihre Unruhe und ihren Ärger zu verhehlen. »Kinder können nicht die geringste Veränderung in dem gewohnten Aussehen der Dinge, die sich täglich vor ihren Augen befinden, ertragen. Perle vermißt etwas, was sie mich stets hat tragen sehen!«

»Ich bitte dich«, antwortete der Prediger, »wenn du imstande bist, das Kind zu beruhigen, es sofort zu tun. Außer dem giftigen Groll einer alten Hexe wie der Frau Hibbins«, fügte er mit einem Versuch zu lächeln hinzu, »wüßte ich nichts, was ich nicht lieber ertragen möchte als diesen Zorn eines Kindes. Er macht in Perlens junger Schönheit eine ebenso übernatürliche Wirkung wie in der runzeligen Häßlichkeit der Hexe. Bring sie zur Ruhe, Esther, wenn du mich lieb hast.«

Esther wendete sich mit dunklem Erröten und einem befangenen Seitenblick auf den Geistlichen und dann mit einem schweren Seufzer wieder Perlen zu. Ehe sie aber noch zu sprechen vermochte, verwandelte sich die Röte in eine leichenartige Blässe.

»Perle!« sagte sie trübe; »schau zu deinen Füßen, dort – vor dir – auf dieser Seite des Baches!«

Das Kind wendete seine Augen nach dem angedeuteten Punkte, und dort lag der Scharlachbuchstabe so dicht am Rande des Baches, daß sich die Goldstickerei darin widerspiegelte.

»Bring es her!« sagte Esther.

»Komm du und heb es auf!« antwortete Perle.

»Hat man je ein solches Kind gesehen?« bemerkte Esther beiseite gegen den Geistlichen. »Oh, ich habe dir viel über sie zu sagen. Aber sie hat wirklich in bezug auf dieses verhaßte Zeichen recht. Ich muß seine Qual noch ein wenig länger ertragen, nur noch wenige Tage – bis wir diese Gegend verlassen haben und hierher wie nach einem Lande, von dem wir geträumt, zurückblicken werden. Der Wald kann es nicht verbergen! Der Ozean soll es aus meiner Hand nehmen und für immer verschlingen.«

Mit diesen Worten schritt sie auf den Rand des Baches zu, hob den Scharlachbuchstaben auf und befestigte ihn wieder an ihrem Busen. So hoffnungsvoll Esther vor einem Augenblicke davon gesprochen hatte, ihn in das tiefe Meer zu schleudern, so wurde sie doch von einem Gefühle bedrückt, als ob sie ihren Urteilsspruch nie wieder von sich abwälzen könne, als sie dieses tödliche Symbol wieder aus den Händen des Geschickes annahm. Sie hatte es in den unendlichen Raum geworfen! Sie hatte eine Stunde lang frei Atem geschöpft! – und schon glänzte wieder das scharlachene Elend an seinem alten Platze.

So aber ist es immer. Eine böse Tat bekleidet sich mit dem Charakter des Unabwendbaren, ob sie nun durch ein solches Zeichen oder nicht zur Erscheinung kommt. Sodann sammelte Esther wieder ihre schweren Haarflechten und verbarg sie unter ihrer Haube. Als ob in dem Buchstaben ein versengender Zauber gelegen habe, verschwanden ihre Schönheit, die Wärme und Fülle ihrer Weiblichkeit ebenfalls wie verbleichender Sonnenschein, und ein grauer Schatten schien sie umschleiert zu haben.

Sobald die traurige Veränderung bewirkt war, streckte sie ihre Hand gegen Perlen aus.

»Kennst du jetzt deine Mutter, Kind? Willst du jetzt über den Bach kommen und deine Mutter anerkennen, seit sie ihre Schande an sich trägt, seit sie traurig ist?« fragte sie vorwurfsvoll, aber mit verhaltenem Ton.

»Ja, nun will ich es«, antwortete das Kind, indem es über den Bach sprang und Esther mit ihren Armen umfaßte; »jetzt bist du meine wahre Mutter, und ich bin deine kleine Perle.«

Mit einer Zärtlichkeit, die bei ihr nicht gewöhnlich war, zog sie den Kopf ihrer Mutter nieder und küßte sie auf die Stirn und beide Wangen, dann aber hob Perle, von einer Art von Notwendigkeit getrieben, welche dieses Kind stets zwang, jeden Trost, den es etwa gewähren mochte, mit einem Tropfen von Pein zu vermischen, ihren Mund und küßte auch den Scharlachbuchstaben.