Teilzeitküsse

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„Ach, Arthur. Wenn das so leicht wäre.“

„Wie ist das mit den beiden überhaupt auseinandergegangen?“

„Ist schon ewig her. Fast ein Jahr mittlerweile.“

„Und hat er Schluss gemacht oder sie?“

„Sie wollte eine offene Beziehung, was er sofort abgeblockt hat. Später hat sich dann herausgestellt, dass sie sowieso schon einen Anderen hatte.“

„Armer Jan.“

„Ihre Doofheit war mein Glück.“ Ich zwinkere ihm vielsagend zu.

„Auch wieder wahr. Hat sie sich denn mit der Trennung abgefunden?“

„Offiziell vielleicht, aber sie ist seit damals Single. Jan sagt, weil sie nicht der Typ für eine feste Bindung ist, aber manchmal frage ich mich schon, ob nicht vielleicht er der Grund dafür ist und sie nicht gerade traurig darüber ist, in Neo eine Möglichkeit zu haben, Jan nicht aus den Augen zu verlieren“, ich schlucke, „und auf eine neue Chance zu warten.“

„Aber er würde sich doch nicht darauf einlassen, oder?“

„Natürlich nicht“, antworte ich etwas zu schnell. „Ich meine … er liebt mich. Und ich glaube ihm. Also eigentlich. Wenn ich nicht gerade wieder voller Selbstzweifel bin.“

„Selbst wenn du ihm trauen kannst: Diese Tussi nervt ja sogar mich und ich kenne sie nicht mal. Es muss doch eine Möglichkeit geben, das alles anders zu regeln.“

„Glaube mir, ich wäre die Erste, die es wüsste, wenn es einen Weg gäbe.“

„Die Hoffnung stirbt zuletzt.“

Der Windzug der Bürotür durchfährt unsere Unterhaltung.

„Wie weit sind Sie mit dem Kluger-Auftrag?“ Kösters Frage kommt eher in unserem Büro an als er selbst. „Ich hatte ihn eben am Telefon.“

Unsere Finger landen hektisch auf den Tasten, als hätten sie nie woanders gelegen, während Köster mit hochrotem Kopf neben unserem Schreibtisch steht.

Arthur beginnt zu stammeln. „Ich wollte erst noch das Sachbuch …“

„Kluger ist wichtiger“, fällt ihm Köster ins Wort. „Ich verlasse mich auf Sie. Sie schaffen das.“

So schnell, wie er gekommen ist, verschwindet er wieder in seinem Zimmer.

Arthur wirft ihm einen Luftkuss durch die geschlossene Tür zu. „Ja, Chef. Alles, was Sie wollen, Chef.“

Kapitel 4

Es ist immer dasselbe: Wenn man Single ist, wünscht man sich nichts sehnlicher, als endlich den Mann der Träume zu finden. Der Mann, der das Leben perfekt und uns selbst wunschlos glücklich macht – zumindest sind das unsere naiven Illusionen. Wenn er dann endlich am Haken hängt, der Traummann, sonnt man sich höchstens ein paar Tage, vielleicht auch einige Wochen im Liebesglück – aber früher oder später kommen sie doch wieder ans Tageslicht, die kleinen und großen Probleme des Lebens. Sorgen im Job, Angst um die Beziehung, Stress mit der Familie – irgendwas ist immer.

Bei Jan und mir jedoch warte ich bereits seit drei Monaten vergebens darauf, dass irgendein Problem am Horizont auftaucht. So sehr ich mich auch anstrenge, jede potenzielle Schwierigkeit verblasst, sobald ich die Wohnungstür hinter mir schließe und ihn in der Küche stehen sehe, während er gerade Karotten für einen Gemüseauflauf schnippelt, mit dem er mich überraschen will.

Und überhaupt ist Jan alles andere als ein Durchschnittskerl. Er lässt sich nicht bekochen – und wenn, dann nur, wenn er mich dafür am nächsten Tag bekochen darf. Er liest es mir von den Augen ab, wenn mich etwas bedrückt – und er ist der beste Liebhaber, den sich eine Frau wünschen kann. Wäre ich eine meiner Freundinnen und müsste mir ständig anhören, wie perfekt er ist, wäre ich sicher genervt und würde nicht mal die Hälfte davon für wahr halten. Aber es ist wahr, jedes einzelne Detail.

Die einzige negative Schlagzeile in der Daily Jan ist und bleibt Katja. Und mal ehrlich: Wirklich vorwerfen kann man es ihm nicht. Schließlich hat er sich diese Situation ebenso wenig ausgesucht wie ich. Und die Tatsache, dass er seinen über alles geliebten Neo nicht aufgeben würde, lässt ihn in meiner ganz persönlichen Traummann-Skala nur noch weiter nach oben steigen.

Meine Mutter scheint das ähnlich zu sehen, nicht nur in Sachen Jan, sondern auch, was den Hund betrifft. Nicht nur, dass sie vom ersten Moment an von Neo entzückt war, sie scheint in ihm so etwas wie ein haariges Enkelkind zu sehen. Deshalb ist es auch selbstverständlich für sie, dass er unter dem riesigen runden Kirschbaumtisch im Esszimmer liegen und sich mit einem Kauknochen vergnügen darf, den sie extra für ihn besorgt hat.

„Nun sag mal, Jan“, sie schiebt einen Teller mit Apfelkuchen zu ihm herüber, „wie läuft es auf der Arbeit?“

„Alles wie immer, Martha. Die Leute kommen und gehen, beschweren und freuen sich. Von allem etwas, wie immer im Leben.“

„Aber es macht dir doch Spaß, oder?“

„Sicher, sonst wäre ich nicht schon über sechs Jahre dort.“

„Wie schön. Das freut mich.“

Manchmal glaube ich, dass meine Mutter noch mehr in Jan verliebt ist als ich.

„Anna hat erzählt, ihr wart gemeinsam mit deinen Kollegen essen?“

Jan nickt höflich. „Mein Chef hatte spontan entschieden, dass auch die Partner mitkommen dürfen. Eine tolle Möglichkeit, Anna mit den Menschen bekanntzumachen, die ich Tag für Tag um mich habe.“

Nun bekomme auch ich mein Stück Kuchen, den Blick wendet sie jedoch nicht von Jan ab.

„Allerliebst“, jubelt sie, als hätte sie soeben erfahren, dass sie Großmutter wird.

Für eine Weile betrachte ich sie mit stillem Interesse. Sie hat ein wenig zugenommen, ihr weinrotes Shirt spannt leicht über dem Bauch. Ihr kaffeebraunes Haar sitzt jedoch wie immer perfekt und umspielt ihr schmales Kinn.

Neun Jahre ist es her, dass wir Papa an den Krebs verloren. Mittlerweile ist Mama 53, noch immer alleinstehend und der festen Überzeugung, dass sie keinen anderen Mann mehr in ihrem Leben braucht. Ob das der Grund ist, warum sie co-verliebt in Jan ist?

„Es war nur ein Abendessen“, ich stochere in meinem Kuchen, „kein Grund, gleich auszuflippen, Mama.“

„Ich flippe nicht aus.“ Sie hebt die Augenbrauen. „Ich freue mich nur, dass du nun auch Teil dieses Bereiches in Jans Leben bist.“

„Anna ist ein Teil aller Bereiche“, antwortet Jan diplomatisch, während er seine Hand auf meine legt.

„Das ist schön zu hören“, antwortet sie mit dem Grinsen eines Honigkuchenpferdes.

Seltsam. Jedes Mal, wenn wir bei meiner Mutter eingeladen sind, komme ich mir vor wie auf einem Basar, dessen Ziel es ist, mich an den Mann zu bringen. Scheinbar hat meine Mutter noch immer nicht begriffen, dass Jan und ich bereits zusammen sind und nicht erst miteinander verkuppelt werden müssen.

„Und? Wann folgt der nächste Schritt?“ Sie gießt Jan etwas Kaffee nach.

„Mama!“, fauche ich entsetzt.

„Der nächste Schritt?“, fragt er.

Süß, dass er nicht ahnt, worauf sie hinauswill. Umso schlimmer, dass sie es ihm gleich sagen wird.

„Na ja, wie auch immer der nächste Schritt aussehen mag“, antwortet sie. „Zusammenziehen, Hochzeit, Kinder.“

Wenn man meiner Mutter zuhört, könnte man meinen, ich wäre Mitte vierzig und nicht siebenundzwanzig. Sie hat meine biologische Uhr schon ticken gehört, als ich das erste Mal verliebt war – und das hat sich bis heute nicht geändert.

Ich schaue nervös zu meiner Mutter, deren schmaler Hals mich förmlich dazu einlädt, meine Hände schreiend darum zu legen – und ich schaue zu Jan, der sich selbst von solchen Fragen nicht aus der Ruhe bringen lässt.

„Ach, weißt du, Martha.“ Seine Hand liegt noch immer auf meiner. „Anna ist so oft bei mir, dass wir praktisch schon zusammenwohnen – und was den Rest betrifft: Ein paar Geheimnisse musst du uns schon noch eingestehen. Wie sollen wir dich denn sonst jemals überraschen?“

Mama wirft hysterisch kichernd die Hände vor den Mund.

Typisch, Jan. Wenn es jemand schafft, sie wenigstens für einen Moment zu besänftigen, dann er.

„Du weißt aber schon, dass wir erst drei Monate zusammen sind“, sage ich zu ihr, „und nicht drei Jahre?“

Mama zuckt mit den Schultern, als würde für ihr Leben eine andere Zeitrechnung gelten. „Welche Rolle spielt das, wenn man weiß, dass man die perfekte andere Hälfte gefunden hat? Dein Vater hat mir bereits nach einem Monat einen Antrag gemacht. Wir wussten es einfach.“

Danke, Mama. Danke, dass du Jan in meinem Beisein die Pistole auf die Brust setzt.

Ich schlucke meine Vorwürfe herunter. Das Einzige, das schlimmer ist, als derart bloßgestellt zu werden, ist, darauf anzuspringen.

„Sollte es in unserem Leben jemals etwas derart Wichtiges zu verkünden geben“, antworte ich schließlich mit erzwungener Beherrschung, „wirst du die Erste sein, die es erfährt.“

Jan legt seine Hand mit sanftem Lächeln an meine Schulter. Instinktiv werde ich ruhiger.

Wahrscheinlich sind Mütter einfach so. Und meine Mutter ganz besonders.

*

„Deine Mutter ist einmalig.“

Diese Feststellung in Kombination mit Jans Arm an meinem Rücken und den entspannten Schritten durch den Park, den wir auf unserem Heimweg durchqueren, hat etwas Surreales. Ja, sie ist einmalig, aber irgendwie passt Jans Grinsen nicht zu der Einmaligkeit, die ich im Sinn habe, wenn ich an sie denke.

„Es tut mir leid, dass sie dich so überfallen hat. Ehrlich, ich hätte das kommen sehen müssen, immerhin kenne ich sie nicht erst seit gestern. Aber selbst wenn – die einzige Möglichkeit, solchen Diskussionen aus dem Weg zu gehen, wäre, gar nicht mehr bei ihr aufzutauchen.“ Ich senke verlegen den Blick. „Sie ist einfach unverbesserlich.“

 

Neben einer Parkbank bleibt er stehen und nimmt meine Hände, während sich Neo neben uns setzt und uns schwanzwedelnd beobachtet.

„Ganz ehrlich, Anna. Es gibt Schlimmeres als die Vorstellung, eines Tages mit einem halben Dutzend Kindern und der schönsten Rothaarigen der Welt unter einem Dach zu leben.“

Mein Herz macht einen doppelten Salto. „Das hast du … ähm … schön gesagt.“

„Solange deine Mutter nicht täglich bei mir anruft und nach einem Hochzeitstermin fragt, ist also alles im grünen Bereich.“

Er beugt sich für einen Kuss herunter. Ein Kuss von der Sorte, die einen gedanklich direkt in das nächste Brautmodengeschäft katapultiert.

Gerade als ich mich frage, ob wir uns schon in einer Viertelstunde nackt in seinen Laken suhlen werden, ertönt das Handy in seiner Jackentasche.

Nur widerstrebend löst er sich von mir und schaut aufs Display.

„Katja“, murmelt er, als er ihr Foto aufblinken sieht.

Für einen Moment frage ich mich, ob das Foto auch schon vor einem Jahr für ihre Kontaktdaten auf seinem Handy hinterlegt war. Nur dass sie damals noch aus anderen Gründen angerufen hat. Schatz, bringst du noch Brot mit?

Ich schüttele die Gedanken mit einem leichten Kopfschütteln ab.

Reiß dich zusammen, Anna. Du bist jetzt die Frau an seiner Seite. Nicht sie.

„Hallo Katja …

Bin gerade unterwegs …

Ja …

Wirklich?

Das ist ja blöd …

Nein, das ist kein Problem …

Ja …

Wir kriegen das schon irgendwie hin, mach dir keine Gedanken …

Ja, dann bis Freitag …

Tschüß!“

Jan schiebt das Handy zurück in seine Jacke und lässt sich auf die Bank fallen. Neo legt seinen Kopf auf seinen Schoß, während Jan ihn gedankenverloren streichelt.

„Alles okay?“

„Ja, schon. Katja hat nur gerade gesagt, dass sie morgen keine Zeit hat, auf Neo aufzupassen. Eine kurzfristige Dienstreise. Und ausgerechnet für morgen hatte ich meinem Chef versprochen, eine Doppelschicht zu schieben. Du weißt schon, der hohe Krankenstand.“ Er überlegt. „Ich werde ihm sagen, dass sich kurzfristig etwas anderes ergeben hat.“

Ich setze mich neben ihn. „Das verstehe ich nicht. Wieso ist es so wichtig, dass ausgerechnet Katja mit Neo spazieren geht?“

„Na ja, es ist nicht wichtig, dass sie es macht, aber sie hatte es angeboten und da habe ich dankend angenommen. Warum sollte ich nicht auch mal einen Vorteil aus dieser Teilzeithund-Vereinbarung haben?“

„Ich meinte ja nur, ich bin doch auch noch da. Lass mich doch mit ihm gehen.“

„Echt? Aber du bist noch nie mit ihm allein unterwegs gewesen.“

„Traust du mir das etwa nicht zu?“

„Doch … sicher … aber wir treffen uns doch sonst immer erst bei mir, wenn ich auch zu Hause bin und da dachte ich“, er gerät ins Stammeln, „keine Ahnung, vermutlich wollte ich dich einfach nur nicht überfallen.“

Dass er zuerst Katja gefragt hat, verletzt mich mehr, als ich angenommen hätte. Ich versuche, mir meine Kränkung nicht anmerken zu lassen.

„Ich kann gegen vier bei ihm sein, dann kann ich mit ihm in den Park gehen oder in den Wald. Ich würde mich freuen. Wirklich.“

„Na, wenn das so ist“, ein dankbares Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus, „dann nehme ich deinen Vorschlag natürlich gerne an.“

Sein Dankeschön hat etwas Förmliches. Allein der Gedanke an den sensationellen Kuss vor dem Handyklingeln hilft mir dabei, meine Kränkung zu verdrängen.

„Schön“, antworte ich, während mich Neo anhechelt, als hätte er ganz genau verstanden, worum es geht.

Kapitel 5

Der weiche Stoff meines cremefarbenen Sommerkleides umspielt meine Knie, während ich den von Birken gesäumten Feldweg entlangschlendere – neben mir an der Leine ein überglücklicher Neo, für den jeder Spaziergang so aufregend ist wie eine Mondlandung.

Aufgeregt beschnuppert er Steine und Büsche, buddelt mit seiner Pfote Maulwurfshügel auf und freut sich seines unbeschwerten Hundelebens.

Für den Moment scheint seine Unbeschwertheit auf mich abzufärben. Mit jedem Schritt, den ich die Wohnsiedlung hinter mir lasse und mich in Richtung Wald und Felder bewege, fühle ich mich ein Stück freier.

Warum bin ich nicht vorher schon mal mit Neo allein spazieren gegangen? Wir sind das perfekte Team. Keine Ablenkung, keine Probleme – nur wir beide und die Maulwurfshügel. Doch ehe ich mich voll und ganz in der friedlichen Idylle fallen lassen kann, reißt mich eine grelle Stimme hinter mir aus dem Tagtraum.

„Anna! Na sowas.“

Ich drehe mich widerwillig um und schaue noch widerwilliger in ein Gesicht, das ich seit beinahe zehn Jahren nicht mehr gesehen habe.

„Veronika?“ Ich starre sie entgeistert an. „Meine Güte, das ist ja ewig her.“

„Nicht zu fassen, oder? Und ich habe dich trotzdem sofort erkannt. Du hast noch immer genau denselben“, sie neigt den Kopf zur Seite und grinst, „Gang.“

„Denselben Gang?“

„Was auch immer“, sie fällt mir kichernd um den Hals, „ich habe dich jedenfalls sofort wiedererkannt. Ich wusste gar nicht, dass du hier wohnst.“

„Ich wusste auch nicht, dass du … ähm … hier wohnst.“

„Oh nein.“ Sie löst sich aus der Umarmung. „Ich wohne nicht hier, bin nur bei meiner Schwester zu Besuch und war gerade auf der Suche nach ein paar Feldblumen für Trockensträuße. Wir dekorieren das Haus für den Geburtstag meiner entzückenden Nichte. Sie wird elf.“

Ich mustere sie wortlos. Dieselben unnatürlich hellblonden Haare wie damals, die kirschroten Lippen und das gekünstelte Dauergrinsen, mit dem sie schon als Teenager über den Schulhof stolzierte, um den Schein des perfekten netten Mädchens von nebenan zu wahren, während sie hinter nahezu jedem Rücken lästerte. Ein Rücken davon war meiner. Wobei es vielmehr mein damals noch breiter Hintern als mein Rücken war, der sie zum Lästern brachte.

Neo zieht ungeduldig an der Leine. Die Unterhaltung scheint ihn noch mehr zu nerven als mich.

„Tut mir leid, Veronika, aber mein Hund wird langsam nervös. Und wir zwei sind heute zum ersten Mal allein unterwegs, deshalb …“

„Ach, er ist ja allerliebst“, sie tätschelt ihm die Stirn mit den Fingerspitzen.

„Ja, und deshalb …“

„Und sonst so?“ Meine Eile scheint sie nicht die Bohne zu interessieren. „Was macht die Liebe? Das Leben? Der Job?“

„Alles bestens.“ Neos Ziehen wird stärker. „Tut mir wirklich leid, Veronika. Aber ich …“

Doch ehe ich den Satz beenden kann, löst sich Neo von einem Moment auf den anderen aus seinem Hundegeschirr. Mit der Leine in der Hand, die noch immer an dem Geschirr befestigt ist, schaue ich panisch um mich. Auf dem nahegelegenen Feld sehe ich ihn davonlaufen und wenige Meter vor ihm auch den Grund für seine Ungeduld: Ein Reh.

Na toll. Das hat mir gerade noch gefehlt.

„Neo“, rufe ich ihm aufgebracht nach. „Komm sofort her!“

Doch er entfernt sich weiter und weiter von mir.

„Na, das ist ja ein ganz Schneller!“ Veronika verschränkt die Arme vor der Brust und schaut ihm sensationslustig hinterher. „Warum kommt er denn nicht, wenn du ihn rufst? Müsste das nicht das Erste sein, was ein Hund zu lernen hat?“

„Boah, Veronika, kannst du mich jetzt bitte in Ruhe lassen?“ Ich fahre besorgt mit den Fingern durchs Haar. „Du bist noch genauso oberflächlich wie damals.“

„Also, Anna. Ich bin entsetzt.“

„Erzähl das deinen Trockensträußen, okay?“ Wie vom Blitz getroffen stürme ich aufs Feld, obwohl mir dort nur umso deutlicher wird, dass ich ohnehin keine Chance habe, ihn einzuholen.

Neo ist schnell, das Reh ist verdammt schnell – und ich bin nichts von beidem.

„Neo!“ Seine sich beinahe überschlagenden Beine werden mit jedem Meter, den er sich von mir entfernt, langsam zu fast unsichtbaren Punkten auf dem Feld.

„Neeeeeeoooooo!“

Doch ehe ich ein weiteres Mal nach ihm rufen kann, sehe ich, wie er hinter einem Hügel verschwindet.

„So eine verfluchte Scheiße.“ Seufzend lasse ich meine Arme sinken.

Ich spiele mit dem Gedanken, Jan anzurufen, doch noch im selben Moment verwerfe ich die Idee wieder. Da verwende ich so viel Energie, um ihn davon zu überzeugen, dass ich genauso gut mit Neo spazieren gehen kann wie Katja und dann läuft er mir schon beim ersten Versuch weg. Jan wird so enttäuscht von mir sein.

Wie konnte mir das überhaupt passieren? Ich habe das mit dem Geschirr doch genauso gemacht wie Jan. Da kann man doch eigentlich gar nichts falsch machen.

„Neeeeeeoooo!“

Kalter Schweiß läuft mir den Nacken herunter. Was, wenn er bis zur Bundesstraße läuft und von einem Auto angefahren wird?

Mir wird schlecht.

Mit ungeschickten Schritten laufe ich in Richtung Hügel, doch nirgends ist auch nur die Spur von ihm zu sehen.

„Neeeeeeoooo!“

Mein Hals schnürt sich langsam zu, mir wird heiß und kalt zugleich. Doch wie ich es auch drehe und wende: Ich muss es Jan sagen, bevor es noch schwieriger wird, den Hund zu finden. Auf seine Rufe wird Neo hören. Ganz sicher.

Kapitel 6

Der Blick, mit dem er die Wagentür hinter sich zuschlägt, lässt mich für einen Moment erstarren. Klar, er ist um Neo besorgt, doch in diesem kurzen Augenblick überkommt mich zum ersten Mal eine Ahnung, wie es sein muss, wenn er wirklich wütend auf mich ist.

„Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.“ Er schaut mich nur flüchtig an und lässt seinen Blick sofort in Richtung Feld schweifen.

„Bekommst du jetzt Ärger auf der Arbeit?“, frage ich nervös.

„Wo genau ist er dir denn abgehauen?“, ist seine einzige Reaktion.

„Ähm.“ Ich nicke zum Weg herüber. „Da vorne. Plötzlich hatte ich das Hundegeschirr in der Hand. Ich … ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte.“

„Du musst es falsch angebracht haben“, antwortet er hektisch. „Das Geschirr, meine ich.“

Ich möchte etwas antworten, doch es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden.

Er tritt auf das Feld und schiebt seine Finger in den Mund. Ein greller Pfiff erstreckt sich über das Feld.

„Neeeeeeooooo!“, ruft er und schiebt danach sofort wieder die Finger in den Mund.

Noch ein Pfiff – und noch ein Schwung Schuldgefühle, der mich wie ein Tornado überkommt.

„Jan, ich …“

„Wo bleibt sie denn bloß?“ Er schaut auf seine Uhr.

„Wer?“

„Na, Katja. Ich habe sie angerufen. Neo kennt unsere beiden Stimmen nun mal am besten. Es macht am meisten Sinn, wenn einer von uns hier am Weg bleibt, wo er entlaufen ist und der andere auf dem Feld nach ihm sucht.“

Ich schlucke mein Erstaunen herunter. Sicher hat er recht, aber ist ihm nichts Besseres eingefallen, als mich vor seiner Ex dermaßen bloßzustellen?

Doch mir bleibt keine Zeit, mich mit der Situation vertraut zu machen, denn schon im nächsten Moment sehe ich ihren roten Polo am Straßenrand parken.

Mit hastigen Schritten kommt sie auf uns zu gerannt.

„Oh mein Gott“, sie legt ihre Hände an Jans Arme. „Habt ihr ihn schon irgendwo gesehen?“

„Bisher noch nicht“, antwortet Jan.

„Und er ist dir hier weggelaufen?“, fragt sie mich mit einem Blick, in dem sowohl Entsetzen als auch Verzweiflung mitschwingen.

Ich nicke. „Ich dachte, du bist auf Dienstreise.“

„Nur eine Ganztags-Fortbildung in der Stadt“, stellt sie richtig. „Ich bin sofort losgefahren.“

Pah! Als ob Jan den Hund nicht ohne sie finden würde.

„Neeeeeeeeooooo!“, ruft er erneut.

„Neeeeeeeeooooo!“, steigt nun auch sie in die Rufe ein.

„Ich dachte, es wäre das Beste“, sagt er schließlich zu Katja, „wenn du in Richtung Feld gehst und ich hier den Weg entlanglaufe.“

Alles klar. Und die Hundegeschirr-Versagerin starrt in der Zwischenzeit ihre Schuhe an.

„Ich denke, dass er bald wieder auftauchen wird“, sagt Jan mehr zu Katja als zu mir. „Er wird nicht lange mit dem Reh mithalten können.“

Katja seufzt. „Ich hoffe, du hast recht.“

„Ich weiß wirklich nicht, wie das passieren konnte“, mische ich mich kleinlaut ein. „Es tut mir wirklich so leid.“

„Wir werden ihn schon wiederfinden“, sagt Jan, schaut mich aber noch immer nicht an.

 

Ist er wütend auf mich?

Oder einfach nur nervös?

„Es wäre wohl doch von vornherein besser gewesen, wenn ich die Fortbildung abgesagt hätte“, sagt Katja. „Dann wäre das nie passiert.“

Der indirekte Vorwurf macht mich rasend vor Wut. Am liebsten möchte ich sie bitten, so schnell wie möglich zu ihrer ach so wichtigen Weiterbildung zurückzukehren, doch im letzten Moment beiße ich mir auf die Unterlippe. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für Aufmüpfigkeit, immerhin ist es meine Schuld, dass Neo weg ist – so wie es meine Schuld sein wird, wenn ihm irgendetwas passiert.

Schnell wische ich den Gedanken beiseite. Jan wird ihn finden. Ganz sicher.

Katja geht ein Stück aufs Feld hinaus. Jan folgt ihr, während ich wie ein ungebetener Gast hinterherschlurfe.

„Neeeeeeoooo!“, rufen sie nun gemeinsam. „Neeeeeeeoooo.“

„Warum hast du sie nur mit ihm gehen lassen?“, fragt sie ihn so leise, dass sie glaubt, ich könne es nicht hören.

„Sie wollte es nun mal. Und warum auch nicht? Ich habe mir nichts dabei gedacht.“

„Was dabei rauskommt, sieht man ja.“

Er murmelt irgendetwas, das ich nicht verstehen kann. Doch es spielt keine Rolle.

„Sag mal, glaubst du etwa, ich habe das mit Absicht gemacht?“, fauche ich sie von hinten an. „Ich habe auf ihn aufgepasst wie auf meinen Augapfel. Aber dann …“

„Wenn Wild auftaucht, herrschen einfach andere Gesetze“, sagt Jan schlichtend, vermutlich weil er ahnt, dass ein Streit zwischen zwei aufgebrachten Frauen in der Luft hängt.

„Genau deshalb muss man eben doppelt so gut aufpassen“, antwortet Katja, ohne sich zu mir umzudrehen. „Wenn du dich mit Hunden auskennen würdest, dann wüsstest du das.“

„Ja natürlich, du bist ja die Einzige, die weiß, wie man mit Tieren umgeht. Ich vergaß.“

Jan bleibt stehen. „Anna, bitte.“

„Anna, bitte?“ Meine Stimme zittert. „Nimmst du sie etwa in Schutz?“

„Ich nehme niemanden in Schutz. Ich will einfach nur Neo finden, okay?“ Er klingt nervös.

„Ich dachte, du wolltest am Weg bleiben“, sagt Katja zu Jan. „Ich kann auch allein weitergehen.“

„Ich wollte nur ein kleines Stück mitkommen“, antwortet er. „Irgendwie hatte ich im Gefühl, dass es eine gute Idee sein könnte …“

Kaum hat er den Satz ausgesprochen, kommt hinter dem Hügel ein grauer Schatten auf uns zugelaufen.

„Neeeeeoooo!“, ruft Jan voller Erleichterung. „Komm her, mein Junge. Herrchen ist hier. Neeeeooo!“

Und tatsächlich. Er ist es wirklich.

„Neeeeeoooo!“, ruft auch Katja noch mal.

Den überglücklichen Vierbeiner auf die beiden zulaufen zu sehen, lässt einen zentnerschweren Stein von meinem Herzen fallen. Doch schon im nächsten Moment wird mein Herz von einem neuen Gefühl überschattet: Dem Schmerz, zwei ehemals Verliebte derart vertraut nebeneinander zu sehen, während sie beide in die Hocke gehen, um ihren gemeinsamen Liebling willkommen zu heißen.

„Da bist du ja wieder.“ Jan legt seine Hände um Neos Kopf, während Katja sich von der anderen Seite glücklich an den Vierbeiner schmiegt.

„Gott sei Dank“, sage ich leise.

Doch niemand hört mich.