Der Bastard, mein Herz und ich

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Kapitel 8

18. August 2001

Mama, Papa,

ich lebe noch. Das ist es doch, was ihr euch fragt, wenn ich mich länger als zwei Tage nicht melde, richtig? Die Sorgen aller Eltern, die Gott sei Dank (meistens) unbegründet sind.

Die Wahrheit ist: Ja, es ging mir besser. Und der Abstand tut mir auch nach wie vor gut, aber ich weiß jetzt auch, dass ich vor etwas davongelaufen bin. Etwas, das nun schmerzhaft in mir hochkriecht wie eine heimtückische Krankheit, die ich erfolglos bekämpfen wollte.

Vielleicht ist es nur ein unwichtiges Detail, das im Nachhinein keine Rolle mehr spielt, und sicher würdet ihr alles versuchen, um mir auch diese Schuldgefühle auszureden. Aber die Wahrheit ist, dass dieses Detail bis heute diesen tragischen Abend umso schlimmer für mich macht. Noch kann ich euch nicht davon erzählen. Noch bin ich nicht stark genug.

Letztendlich muss ich allein damit fertigwerden, ganz egal, wie sehr ihr versuchen würdet, mir zu helfen.

Ich werde versuchen, beim nächsten Mal nicht wie ein verwirrter Professor zu schreiben. Das ist vermutlich dein Einfluss auf mich, Papa. Mama sagt oft, dass ich genauso klinge wie du. Viel zu hochtrabend, aber auch viel zu durcheinander für mein Alter. Jetzt merke ich es irgendwie selbst.

Alles, was ihr wissen müsst: Ich kämpfe mich durch, lese viel, lenke mich ab – und schon bald werde ich hoffentlich über alles reden können.

Bitte gebt mir noch etwas Zeit.

Euer Alwin

*

Die abendliche Aussicht von meinem Balkon lässt das Meer nur erahnen. Von hier oben aus kann man Felder sehen und das Dach einer alten Scheune – die Ostsee jedoch zeigt sich nur in ihrem typischen Geruch und dem geheimnisvollen Rauschen. Beides hängt vom Wind und dessen Richtung ab.

Ich umklammere mein Rotweinglas, während ich meine Füße auf dem Klappstuhl vor mir übereinanderschlage.

Habe ich wirklich über vier Stunden schlafend in diesem Bootshaus verbracht? Mit einem Mann, den ich kaum kenne?

Trotzdem schleicht sich allein bei der Erinnerung, dass ich mit dem Kopf in seiner Armbeuge aufgewacht bin, ein verträumtes Lächeln auf meine Lippen.

„Und du hast echt kein Bier im Haus?“ Sanjo betritt den Balkon mit einem Alster in der Hand.

„Wenn du Bier willst, solltest du dich vorher anmelden, Bruderherz. Oder dir selbst welches mitbringen.“

„Eigentlich hätte ich gedacht, dass du immer auf meinen Besuch vorbereitet bist.“

„Nun setz dich schon hin und hör auf zu jammern.“

Missmutig zieht er einen der Stühle von dem kleinen runden Tisch ab und setzt sich ans andere Ende des Balkons.

„Ich verzeihe dir nochmal.“ Er stellt seine Flasche auf den Rand des Balkons. „Wenn du mir sagst, warum du schon seit meiner Ankunft wie ein debiles Honigkuchenpferd grinst.“

Ich spüre das Blut in meinen Kopf schießen. „Ich? Wie ein Honigkuchenpferd? Selten so einen Blödsinn gehört.“

Sanjo nimmt einen Schluck aus seiner Flasche und mustert mich mit wissendem Grinsen. „Ja genau, Schwesterchen. Das bilde ich mir selbstverständlich nur ein.“

Ich versuche, seinen durchleuchtenden Blick zu ignorieren und nippe an meinem Glas. „Keine Ahnung, was du dir da wieder einredest. Ich hatte einfach nur einen langen Tag.“

„Ein langer Tag, so so. Sag schon, wie heißt er?“

Manchmal bin ich dann doch lieber von Leuten umgeben, denen ich ein Rätsel bin.

„Hör auf, Sanjo.“

„Womit? Damit, mir Sorgen um meine Schwester zu machen?“

Bei diesem Satz muss ich unweigerlich an Alwin und das tragische Schicksal seiner kleinen Schwester denken.

„Es ist nichts“, antworte ich mit dünner Stimme. „Echt nicht. Ich hatte einfach nur einen erfolgreichen Arbeitstag, das ist alles.“

„Ach ja richtig.“ Plötzlich scheint es ihm wie Schuppen von den Augen zu fallen. „Die Vorbereitungen für das Porträt dieses Hotelgurus, oder?“

„Er heißt Alwin Teschner – und er ist kein Guru.“

„Dann ist er also der Grund für dein Dauergrinsen!“ Seine Antwort ist mehr eine Feststellung als eine Frage.

„Sanjo.“

„Komm schon, Sina, wie lange wollen wir noch so tun, als wüsstest du nicht, dass ich längst weiß, was Sache ist? Du konntest noch nie lügen, zumindest nicht in meiner Gegenwart.“

Er hat recht. Er hat immer recht, wenn es um so etwas geht.

„Also gut.“ Ich ziehe meine Füße vom Klappstuhl und stelle das Glas auf den Tisch. „Bevor du mich noch den ganzen Abend damit nervst: Ja, ich mag ihn. Und er mag mich. Zufrieden?“

„Ho ho, na sieh mal einer an. So schnell wird aus dem Frauenhelden und Macho der tollste Typ der Welt.“

„Ich sagte nicht, dass er der tollste Typ der Welt ist. Ich sage nur, dass wir einen netten Tag hatten. Außerdem ist er kein Frauenheld. Es gab für alles eine Erklärung.“

Eine Erklärung, die zwar so richtig keine war, aber das behalte ich lieber für mich.

„Eine Erklärung.“ Er legt seine Stirn in Falten. „Verstehe.“

„Mir egal, ob du es verstehst. Wir hatten eine gute Zeit, das ist alles.“

Vielleicht ist es besagtes Honigkuchenpferdgrinsen, das mich verrät oder die Tatsache, dass ich imaginäre Haarsträhnen hinter mein Ohr schiebe, wie ich es immer tue, wenn ich nervös werde.

„Oh mein Gott.“ Er legt seine Hand auf meine. „Ihr hattet Sex!“

Ich schweige verlegen.

„Sina.“ Er springt auf. „Was zum Teufel ist denn mit dir plötzlich los?“ In seinen Worten liegt viel eher Staunen als Empörung. „Du lässt dir doch sonst ewig Zeit, bevor du einen Kerl auch nur deine Hand halten lässt.“

„Also, weißt du, zum Händchenhalten hatten wir nicht wirklich die … ähm … Gelegenheit.“ Ich kichere.

Mit ungläubigem Grinsen lässt er sich wieder zurück auf seinen Stuhl fallen. „Ich glaube es nicht. Ausgerechnet meine dramatisch-romantische Schwester lässt sich auf ein Abenteuer mit einem Kerl ein, den sie kaum kennt.“

„Na, und wenn schon.“ Ich zucke mit den Schultern. „Wir hatten unseren Spaß. Du sagst doch selbst immer, dass ich viel zu spießig bin. Ich hatte einfach die Nase voll davon, immer erst alles zu zerdenken und stundenlang zu grübeln, bevor ich auch nur den nächsten Schritt in Erwägung ziehe. Das mit Alwin und mir, das hat einfach gepasst.“

„Und wann ist es passiert? Heute?“

„Heute Mittag. Und dann, dann sind wir irgendwie eingeschlafen.“

„Nicht zu glauben.“ Er hält sich an seiner Flasche fest, als könnte sie ihm dabei helfen, die Frau zu verstehen, die vor ihm sitzt und die so wenig mit seiner Schwester gemeinsam hat wie sein Alster mit Bier.

„Und wo ist er jetzt?“, will er wissen.

„In seinem Elternhaus. Er ist heute Abend mit seinem Bruder und seinen Eltern zum Essen verabredet. Er hat sogar gefragt, ob ich mitkommen möchte, aber das fand ich dann doch etwas zu früh.“

„Zu früh? Heißt das, du planst schon weiter?“

„Ich … ich plane gar nichts, okay? Ich sage nur, dass ich … na ja … dass wir unseren Spaß hatten. Und das meine ich nicht nur aufs Körperliche bezogen.“

„Oh Mann.“ Sanjo nimmt einen endlosen Schluck, als bräuchte er Hilfe beim Realisieren. „Wer hätte gedacht, dass es dir noch gelingen würde, mich zu überraschen?“

Das Handy neben meinem Glas blinkt auf.

Das Vorhaben, möglichst gelassen auf das Display zu schauen, halte ich jedoch nur wenige Sekunden durch.

ALWIN:

Meine Mutter hat gerade Vanilleeis zum Nachtisch serviert – dabei ist mir eingefallen, dass du mir noch eine Antwort schuldig bist.

Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Er scheint genau zu wissen, welche Knöpfe er nach diesem besonderen Tag bei mir zu drücken hat. Keine peinlichen Fragen, keine dramatischen Liebesschwüre. Aber vor allem – und das ist der Hauptgrund für mein Grinsen – keine Ignoranz. Verrückt, dass er sich immer noch an die Frage vom Strand erinnern kann.

„Alles okay?“, fragt Sanjo. „Ist er das?“

„Ja, alles okay.“

Mehr sage ich nicht. Mehr gibt es auch nicht zu sagen. Zumindest nicht zu Sanjo.

SINA:

Walnuss-Karamell :-)

Kapitel 9

Er kommt sich vor wie ein Schuljunge, als er erneut ihre Worte vom Vorabend auf seinem Handy betrachtet:

Walnuss-Karamell.

Noch immer treibt ihm diese simple Antwort ein Grinsen aufs Gesicht.

Durch das angewinkelte Fenster drängen sich die Sonnenstrahlen eines idyllischen Sommermorgens und malen Rechtecke auf das Parkett. Fast kommt es ihm so vor, als würden sie ihn hinauslocken wollen in einen Tag voller Überraschungen.

Aber noch fühlt er sich nicht bereit, sich aus seinem Tagtraum loszureißen.

Noch immer spürt er ihre weiche Haut unter seinen Fingern, ihr langes Haar, das sanft auf seinen Bauchnabel fällt, während sie seine Brust küsst. Allein der Gedanke daran weckt erneut die Erregung in ihm.

Doch dieses Mal ist es etwas anderes als nur körperliche Erregung, wie er sie von seinen Beziehungen mit anderen Frauen kennt. Sicher hat ihn stets die Hoffnung begleitet, dass auch etwas Ernstes aus einer Affäre hätte werden können, aber irgendwie war er mit keiner der Frauen dauerhaft auf einer Wellenlänge. Sina ist die erste Frau, bei der er von Anfang an gespürt hat, dass es anders sein würde.

 

Er kann es kaum erwarten, sie erneut in seine Arme zu nehmen und sich vom blumigen Duft ihres Haars verzaubern zu lassen.

Reiß dich zusammen, Alwin. Du bist ein Mann und kein Weichei.

Doch die Wahrheit ist, dass er über sich selbst lachen muss. Was auch immer sich das Schicksal dabei gedacht hat, diese Frau auf der Bildfläche auftauchen zu lassen, es muss einen ganz besonderen Grund dafür gehabt haben.

Er schiebt seine Hand unter den Nacken, um das Handy noch besser sehen zu können. Und während er beginnt, eine Nachricht zu schreiben, heckt er einen Plan aus, den sie hoffentlich genauso lieben wird wie er.

Lust auf eine Überraschung? Halb zwei vorm Hotel?

*

Die Straße vor dem Wismarer Redaktionsgebäude der Tagesbrise-Zeitung ist wie immer zugeparkt. Ganze zwei Parallelstraßen entfernt finde ich endlich einen Parkplatz. Eine Tatsache, die mich unter anderen Umständen stören würde, an diesem Morgen jedoch kann selbst das meiner Laune nichts anhaben.

Während ich über das Kopfsteinpflaster des Marktplatzes eile, kommt mir erneut die Nachricht in den Sinn, die er mir vor zwei Stunden geschrieben hat.

Lust auf eine Überraschung? Halb zwei vorm Hotel?

Sollte ich Angst haben?

Nicht, wenn du Überraschungen magst.

Als ich die gläserne Schwingtür durchquere, steht die Tür von Herrn Cramer am Ende des Ganges offen.

„Anabell“, ruft er der Blondine hinter dem Empfangstresen zu, „wenn Sina Ritter kommt, schicken Sie sie bitte gleich zu mir durch. Sie müsste jeden Moment kommen.“

„Wenn man vom Teufel spricht“, flöte ich fröhlich durch den Flur.

Doch Herr Cramer, der in seiner offenen Bürotür steht, scheint meine gute Laune nicht zu teilen.

Seine Halsschlagader pulsiert, sein rundes Gesicht ist rot wie das einer Pute und lässt den kläglichen Rest des grauen Haarkranzes fast verschwinden.

„Frau Ritter. Das trifft sich gut. Kommen Sie bitte gleich zu mir.“

„Aber natürlich. Haben Sie meinen Artikel bekommen?“ Ich weigere mich, mir das Lächeln von seinem Schuldirektortonfall austreiben zu lassen.

„Genau darum geht es.“

„Gibt es ein Problem?“ Ich setze mich auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch, während er die Tür schließt. „Wenn es um die Fotos geht, die reiche ich nach. Ich muss sie nur noch sortieren und mich an die Bildunterschriften setzen.“

„Vergessen Sie die Bilder.“ Er setzt sich auf seinen Ledersessel und greift nach den Ausdrucken, die vor ihm liegen. „Frau Ritter, ich bin ehrlich gesagt etwas enttäuscht.“

„Enttäuscht? Aber warum?“ Nun verschwindet mein Lächeln doch. „Ich habe bis in die Nacht hinein daran gearbeitet.“

Dass ich vorher damit beschäftigt war, meinen viel zu neugierigen Bruder rauszuschmeißen, behalte ich natürlich für mich.

„Der Artikel an sich ist okay“, antwortet er. „Sie haben alles erfasst. Über das erste Hotel der Familie, wie er selbst zum Kopf des Ganzen wurde, die besondere Atmosphäre und die Liebe zum Detail im Möwenzauber. Vielmehr stört mich, was nicht im Artikel steht.“

„Ich verstehe nicht ganz.“

„Frau Ritter.“ Er nimmt seine Brille ab und schlägt einen etwas gedämpfteren Tonfall an. „Sie wollen mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass Sie nichts von dem persönlichen Drama der Familie Teschner wissen.“

„Oh.“ Langsam dämmert es mir. „Sie reden vom Unfall der Tochter.“

„Es ist ein offenes Geheimnis hier in Wismar, in Rerik – jeder, der die Familie und ihre Hotels kennt, weiß auch von der Geschichte mit Jessica Teschner. Es wäre sozusagen eine Enttäuschung für den Leser, wenn dies nicht einmal am Rande erwähnt würde.“

Augenblicklich stürmen die unterschiedlichsten Antworten auf mich ein, die ich ihm entgegenschmettern möchte.

„Herr Cramer“, beginne ich schließlich bemüht bedachtsam, „bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber die Familie selbst hat mich persönlich auf das Thema angesprochen und ich habe ihnen zugesichert, dass ich dieses private und durchaus bedauernswerte Schicksal für mich behalten und nicht in dem Artikel verarbeiten werde. Ich habe es Herrn Teschner zugesichert, auch und gerade aus Respekt vor seiner verstorbenen Schwester.“

„Die Familie hat also von allein mit dem Thema angefangen?“

„Gewissermaßen, ja. Aber …“

„Dann verstehe ich Ihre Rückhaltung nicht. Man hat Ihnen sogar eine Brücke gebaut und Sie schlagen sie ab, ohne sie zu überqueren.“

„Nein, so war das nicht. Die Familie hatte Angst, dass wir es im Artikel erwähnen und der Vater sowie auch der Sohn haben mir mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass es ihnen am liebsten wäre, wenn wir es ganz weglassen.“

„Frau Ritter.“ Er räuspert sich wichtigtuerisch. „Bei allem Respekt: Sie sind Journalistin, keine Kindergärtnerin. Sie sollen interessante Geschichten erzählen und keine Händchen tätscheln. Wenn sich Ihnen eine emotionale und lebhafte Story bietet, dann müssen Sie danach greifen und nicht davor weglaufen. Es erstaunt mich ehrlich gesagt, dass ich Ihnen das sagen muss.“

„Nun, das sehe ich anders, Herr Cramer. Nur weil sich die Sensationsgier heutzutage mehr und mehr unter den Leuten ausbreitet, heißt das doch nicht, dass man sich dem beugen muss.“

„Doch, Frau Ritter, ganz genau das heißt es.“

Ich sehne mich danach, aufzuspringen und ihm wortlos den Rücken zuzudrehen – doch gerade noch rechtzeitig fällt mir ein, dass ich damit 90 Prozent meiner Aufträge verlieren würde.

„Es tut mir leid, Herr Cramer, aber ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie sich meinen Entwurf noch mal genau anschauen. Vielleicht findet er ja doch Ihre Zustimmung. Und sobald Sie auch die Fotos haben, werden Sie sehen, dass das Gesamtpaket durchaus lesenswert sein wird.“

Er ist es gewohnt, dass ich nicht sofort klein beigebe – und es ist nicht unüblich, dass er hin und wieder meiner Einschätzung traut, obwohl er anfangs anderer Meinung war.

„Also schön“, die Falte zwischen seinen Augen schiebt sich tief in seine Haut, „wir reden ein anderes Mal darüber. Melden Sie sich so bald wie möglich mit den Fotos, dann sehen wir weiter. Es gibt ja eh noch keinen festen Termin für die Veröffentlichung.“

Es erstaunt mich ein wenig, dass er so schnell nachgibt. Aber streng genommen ist es ja nur ein Aufschub.

„Danke, Herr Cramer.“ Ich stehe auf und reiche ihm die Hand. „Wir hören voneinander.“

„Das werden wir.“ Sein Lächeln wirkt schon etwas sanfter. „Ich hoffe, Ihre Fotos überzeugen mich.“

„Tun Sie das nicht immer?“, frage ich mit einem Augenzwinkern.

„Machen Sie’s gut. Und arbeiten Sie ein wenig an Ihrem dicken Fell.“

„Ich werde es versuchen.“

Kapitel 10

Der Seewind umspielt meine Nase und schleicht sich in jede meiner Poren.

Mit geschlossenen Augen stehe ich an der Reling des Sonnendecks und genieße die Gewissheit, dass ich von der endlosen Weite des Meeres umgeben bin, das sich in weichen Wellen am Rumpf des Schiffes teilt. Eine nicht unbekannte und doch immer wieder aufs Neue beruhigende Klarheit.

Als ich die Augen wieder öffne, steht er noch immer direkt neben mir. Mittlerweile hat er jedoch den Blick vom Wasser abgewandt und begonnen, mich mit einer Aufmerksamkeit zu betrachten, die mir augenblicklich die Bilder vom Bootshaus ins Gedächtnis zurückruft.

Für einen Moment ist alles wieder da. Seine Zunge auf meiner nackten Schulter. Meine Lippen in seinem Nacken. Seine Hand an meinem Oberschenkel.

„Und?“, fragt er. „Ist mir die Überraschung gelungen?“

„Und ob“, antworte ich mit einem Strahlen, das von Herzen kommt. „Ich habe das letzte Mal mit sechzehn eine Schifffahrt von Rerik zur Insel Poel gemacht, aber niemals hatte ich dabei das ganze Schiff für mich allein.“

Die Erleichterung in seinem Blick ist nicht zu übersehen.

„Wie hast du das nur geschafft?“, frage ich.

„Ich kenne den Besitzer des Schiffs und hatte noch was gut bei ihm. Diese Fahrt findet nur für uns statt.“

„Noch was gut bei ihm?“

„Frag lieber nicht.“ Er zwinkert mir zu und schaut erneut aufs Meer hinaus.

„Ich habe heute übrigens die ersten Fotos zu meinem Redakteur geschickt“, sage ich. „Die restlichen bekommt er heute Abend oder morgen. Ich glaube, das wird ein wirklich gutes Porträt.“

„Sollte ich mich freuen oder fürchten?“

„Ein bisschen von beidem ist wohl immer angebracht.“ Ich lächele. „Aber im Ernst, du wirst es ganz sicher mögen, da bin ich sicher.“

„Und wann erscheint es?“

„Das ist noch nicht ganz raus. Vielleicht in der nächsten Wochenendausgabe, ich denke aber eher, dass es das Wochenende darauf wird.“

Die Fischerdörfer am Ufer ziehen wie ein Daumenkino an uns vorbei. Alles ist so vertraut und doch scheint allein Alwins Anwesenheit und die Tatsache, dass wir bis auf den Kapitän allein auf diesem Schiff sind, meinen Blickwinkel komplett zu ändern.

„Kann ich dich etwas fragen?“, beginne ich schließlich nach einem kurzen Schweigen.

„Schokoeis“, antwortet er.

Ich puffe ihm lachend in die Hüfte. „Ich meine es ernst.“

Sein Lachen weicht einem durchdringenden Blick. „Frag mich, was immer du willst.“

„Wie konnte das, ich meine, das mit uns … wie konnte das einfach so passieren?“

Die Frage klingt ausgesprochen viel dämlicher als in meinem Kopf.

„Wie das passieren konnte?“ Sein Grinsen hat etwas Spitzbübisches. „Du meinst, das im Bootshaus?“

„Nicht nur das. Ich meine, das alles. Dass ich es zugelassen habe, dass du mich an meiner Wohnungstür küsst. Dass du überhaupt dort aufgetaucht bist. Das im Bootshaus. Und“, ich mache eine kreisende Bewegung mit dem Zeigefinger, „das hier. Wir kennen uns doch kaum.“

Er schaut mich fragend an.

„Versteh mich nicht falsch“, fahre ich schnell fort, „ich meine damit nicht, dass du daran schuld bist. Ich habe mich ja mehr oder weniger bewusst darauf eingelassen. Es ist nur so, dass ich“, ich senke den Blick auf meine Hände, „na ja, dass ich mir nicht erklären kann, wie etwas einfach so geschehen kann, ohne dass man es in Frage stellt. So etwas habe ich noch nie erlebt. Und ehrlich gesagt irritiert es mich ein wenig. Ich habe ständig das Gefühl, irgendetwas nicht bedacht, irgendetwas vergessen zu haben, was wir ganz dringend klären müssen, bevor wir uns wiedersehen. Und dann“, ich schaue wieder auf, „dann weiß ich im selben Moment plötzlich, dass es gar keine andere Option gibt als die, dass wir uns wiedersehen. Immer und immer wieder.“

Die Irritation in seinem Blick schwindet langsam und macht Platz für ein warmes Lächeln.

„Ich weiß nicht, ob das ein Trost ist“, er streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht, „aber mir geht es ganz genauso. Vom ersten Augenblick an habe ich eine so seltsame Bindung zu dir gespürt, dass ich gar keine Wahl hatte, als den Kontakt zu dir zu suchen. Und auch auf die Gefahr hin, mich dadurch verletzbar zu machen“, er hält einen Moment lang inne, „ich mag dich, Sina. Ich mag dich sehr.“

Er legt die Hand seitlich an meinen Hals und beugt sich ein Stück zu mir herunter, um mich zu küssen.

Eine seltsame Bindung. Ja. Seltsam und gleichzeitig elektrisierend.

Ich spüre seine Finger an meinem Hals, sanft und warm.

Als er seine Arme wieder sinken lässt, sieht er fast verlegen aus. So viel Selbstbewusstsein und doch so viel Verletzbarkeit in seinen Augen.

„Ich mag dich auch“, sage ich. „Auch wenn ich nicht mal genau weiß, warum.“

Eine Falte schiebt sich zwischen seine Augen.

„So war das nicht gemeint.“ Ich grinse. „Was ich damit sagen will, ist, dass ich einfach nur sehr verwirrt bin. Und ich möchte nicht, dass du denkst, ich würde so etwas öfter tun.“

So etwas?“

„Na ja, das im Bootshaus. Das hier. Einfach alles. Ich weiß zwar, dass ich ein Vertrauen zu dir spüre, aber ich weiß nicht, woher es kommt, welche Basis es hat. Und diese Unwissenheit macht mich irgendwie nervös.“

Ich warte darauf, dass er mir sagt, dass diese Erfahrung ebenfalls neu für ihn ist und er für gewöhnlich auch nicht am ersten Abend mit einer Frau im Bett landet. Stattdessen berührt er meine Wange mit seinen Fingern und küsst mich erneut. So warm und fordernd, dass ich vergesse, worüber wir gerade gesprochen haben.

 

Seine Stirn ruht an meiner, als er sich von meinen Lippen löst.

„Manche Dinge weiß man einfach“, sagt er. „So wie man weiß, dass man atmen muss.“

„Vielleicht hast du recht.“

„Ich verstehe es doch selbst nicht. Und wer weiß, vielleicht ist das sogar das Schöne daran – dass wir nicht kapieren, wie das alles überhaupt möglich ist. Ich meine, wenn es nur um schnellen Sex ginge, dann wären wir sicher nicht die Ersten, die sich schon nach einem Tag um den Hals fallen. Aber es ist irgendwie mehr, sehr viel mehr.“ Lachend fasst er sich gegen die Stirn. „Oh Mann, ich klinge schon wie Hugh Grant.“

„Du kennst Hugh Grant?“ Nun bin ich diejenige, die lachen muss. „Sag mir sofort, aus welchem Film.“

Das Lachen auf seinen Lippen weicht einem nachdenklichen Blick. „Jessica“, antwortet er knapp. „Ich habe sie immer damit aufgezogen, wenn sie Filme mit ihm geschaut hat.“

Er blickt nachdenklich über die Reling. „Sie wäre heute dreißig.“

Ich lege meine Hand auf seine Schulter. „Das verfolgt dich bis heute, oder?“

„Es wird mich immer verfolgen. Aus so vielen Gründen.“

Er scheint sich plötzlich daran zu erinnern, dass er mich erst kürzlich gebeten hat, das Thema nicht anzusprechen. Wie angeknipst beginnt er wieder zu lächeln, wenn auch sehr wehmütig.

„Wir sollten uns mit der Gegenwart beschäftigen“, sagt er. „Ich habe dich nicht eingeladen, um dir die Laune zu versauen, sondern um dir eine Freude zu machen.“

Und da stehen wir nun, nebeneinander auf dem Deck, den Blick auf das Wasser gerichtet.

„Ich komme mir vor, als wäre ich zum ersten Mal hier“, sage ich.

Sein Blick verliert sich auf den Wellen. „Das geht mir genauso.“

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