Der Bastard, mein Herz und ich

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Kapitel 6

Achtundzwanzig Jahre.

Die Augenringe der Frau im Spiegel, die von einer schlaflosen Nacht erzählen, lassen mich jedoch glattweg für 40 durchgehen. Während das Herz, das sich seit gestern Abend in meinem Innersten in ein unentwegt ratterndes Hamsterrad verwandelt hat, einer 17jährigen gehört.

Ich greife nach meinem Concealer, um die dunklen Schatten unsichtbar zu machen. Doch noch während ich ihn unter meinem rechten Auge ansetze, lasse ich den Arm entmutigt sinken.

Soll ich wirklich ins Hotel fahren? So tun, als sei nichts geschehen? Oder geht es gerade darum, eben nicht so zu tun, als sei nichts passiert? Was erwartet Alwin von mir? Und was erwarte ich eigentlich von ihm?

Aber natürlich werde ich fahren. Abgemacht waren zwei Tage und welche Rolle spielen persönliche Gefühle bei einem großen Auftrag wie diesem?

Während ich mich meinem anderen Auge zuwende, wandern meine Gedanken zu Nicholas. Siebzehn Monate ist es her. Und neun Monate, dass ich das letzte Mal wegen ihm geheult habe. Nicht aus übermächtiger Sehnsucht, nein. Vielmehr aus Wut, weil ich mich so in ihm getäuscht hatte. Und selbst heute noch dreht sich mir der Magen um, wenn ich darüber nachdenke, dass er ganze zwei Monate zweigleisig gefahren ist.

Fast noch schlimmer als die Erkenntnis, dass er sich heimlich mit einer Kollegin aus seiner Drogerie vergnügt hat, sind aber bis heute die Worte, die er mir kurz vor unserer Trennung an den Kopf warf. Noch immer hängen sie wie ein schallendes Echo über mir.

Du siehst die Dinge manchmal so schrecklich ernst, Sina. Wenn du deine Kamera in die Hand nimmst, dann mutierst du zu einem wandelnden Gefühl. Alles wird analysiert. Bei jedem einzelnen Farbton geht es darum, welche Emotionen er auslöst. Ganz ehrlich, das kann echt nerven. Manchmal will ich eben auch mal – wie sagst du so schön – oberflächlich sein dürfen. Ich wüsste nicht, was schlecht daran sein soll, einen Sonntag auf dem Sofa zu verbringen und Videospiele zu spielen.

Einen Sonntag. Ha! Das hat er immer gesagt. Dabei war es jedes Mal das ganze Wochenende.

Warum habe ich ihn damals eigentlich nicht abgesägt und darauf gewartet, dass er mich betrügt? Und wurmt mich das vielleicht noch mehr als der Betrug an sich?

Mit einem hatte er allerdings recht: Ich sehe die Dinge zu ernst. Immer und immer wieder, obwohl ich das eigentlich gar nicht will.

Ich stecke die Kappe zurück auf den Concealer und betrachte mein müdes Gesicht im Spiegel, während mir Oskar schnurrend um die nackten Waden streicht.

„Willst du etwas Katzenmilch?” Ich bücke mich, um ihn zu streicheln, dann mustere mich ein letztes Mal im Spiegel.

Nein. Ich bin nicht mehr dieselbe Frau wie damals.

Und welche Rolle spielt schon die Vergangenheit und ein unreifer Kerl wie Nicholas? Viel wichtiger ist doch die Gegenwart.

Meine Güte, ist das wirklich wahr? War er wirklich an meiner Tür?

Er hat mich geküsst. So sanft, dass es auch ein Windhauch hätte sein können, aber – er hat mich geküsst.

*

Das Foyer erstrahlt im warmen Licht der Morgensonne, das sich im glänzenden Parkett spiegelt. Jemand hat die Treppengeländer mit getrocknetem Lavendel dekoriert, an den Wänden reihen sich floristische Gemälde aneinander.

Ich lasse den mächtigen Empfangstresen aus Kirschbaumholz hinter mir. Mir ist nicht nach einem Gespräch, nicht mal nach einem kurzen. Früher oder später wird Alwin mich hier schon von allein aufsuchen, auch ohne dass ich ein Lebenszeichen bei der mechanisch grinsenden Brünetten am Empfang hinterlasse.

Stattdessen nehme ich auf einem der Rattansessel an der Terrassentür Platz. Von hier aus hat man einen unverstellten Blick auf das Meer und die Leute, die auf der Terrasse frühstücken.

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche. Kurz vor neun. Ob er pünktlich sein wird?

Ich lasse meinen Blick durch das Foyer wandern. Bis auf einen älteren Herrn, der im gegenüberliegenden Sessel Zeitung liest, ist kein weiterer Hotelgast in der Nähe.

Was sage ich bloß, wenn Alwin auftaucht? Überlasse ich die ersten Worte ihm oder ergreife ich die Initiative?

Himmel, nun komm wieder runter, Mädel. Es war nur ein Kuss. Kein Grund, gleich auszuflippen.

Doch bevor ich noch nervöser werden kann, richtet der Mann mit der Zeitung das Wort an mich.

„Entschuldigen Sie“, er faltet die Zeitung zusammen, „ich habe Sie nicht gleich bemerkt.“

„Das macht doch nichts. Lesen Sie ruhig weiter.“

„Sina? Sina Ritter, richtig?“

Erst jetzt nehme ich ihn wirklich wahr. Das fast komplett ergraute, aber volle Haar. Der Bauchansatz unter dem senfgelben Pullunder.

„Entschuldigung.“ Ich beuge mich ein Stück vor. „Kennen wir uns?“

„Wie dumm von mir.“ Er reicht mir mit sanftem Lächeln die Hand. „Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Klaus Teschner. Freut mich.“

„Sie sind … Alwins Vater?“

Klaus nickt. „Sie sind sicher verwirrt, ihn nicht hier vorzufinden. Ich soll Ihnen ausrichten, dass er Sie gern am späten Vormittag am Steg treffen möchte. Er sagte irgendetwas von Fotos?“

„Fotos. Ähm. Ja, natürlich.“

Fotos am Wasser waren nach dem ersten Shooting am Strand eigentlich nicht mehr geplant. Ist es nur ein Vorwand von ihm, um mich in ungezwungener Atmosphäre, vor allem aber ungestört zu sehen? Und was soll das mit seinem Vater?

Klaus erhebt sich von seinem Sessel und schiebt lachend die Hände in seine Hosentaschen. „Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.“

„Das nicht“, ich stehe ebenfalls auf und umklammere den Schultergurt meiner Kameratasche. „Ich bin nur verwirrt, dass ich Sie hier antreffe und nicht Alwin.“

„Alwin hielt es für besser, wenn ich ...“, er schaut sich um, „ich glaube, wir reden lieber woanders weiter.“

Ich bemühe mich um Gelassenheit. „Natürlich.“

Ich folge ihm hinaus auf die Ostseeterrasse und weiter über eine kleine Treppe, die seitlich auf die Strandpromenade führt.

Während wir Imbissbuden, Fischbrötchen-Wagen und tannengrüne Restaurantmarkisen hinter uns lassen, kommen wir langsam ins Gespräch.

„Sie dürfen das Alwin nicht verübeln“, sagt er. „Aber das Thema, das ich mit Ihnen besprechen möchte, geht ihm noch immer viel zu nahe, deshalb habe ich vorgeschlagen, dass ich mit Ihnen darüber rede.“

Neben einer Eisdiele bleibt er stehen und schaut für einen kurzen Moment zu Boden. „Um ehrlich zu sein, es geht unserer ganzen Familie zu nahe, aber während meine Frau, mein Sohn Clemens und ich versuchen, darüber zu reden, um dem Schmerz die Macht zu nehmen, fühlt sich Alwin bis heute schuldig und meidet das Thema größtenteils.“

„Ich verstehe nicht.“

„Der Grund, warum wir überhaupt mit Ihnen darüber reden möchten“, er hebt den Blick wieder, „ist unsere Angst, dass Sie auf anderem Wege davon erfahren könnten. Rerik ist kein großer Ort, hier kennt jeder jeden. Daher wäre es sicher nur eine Frage der Zeit, bis Sie davon erfahren. Wenn Sie es nicht schon längst wissen.“ Er bemüht sich um ein Lächeln. „Na ja, und wenn es schon im Artikel erwähnt wird, dann wäre es uns lieb, wenn es die Wahrheit ist und kein unbeeinflussbares Gebräu aus der Gerüchteküche.“

„Herr Teschner, entschuldigen Sie, wenn ich das so direkt sage, aber ich verstehe kein Wort von dem, was Sie da andeuten. Aber seien Sie sich sicher, dass ich immer genau recherchiere, bevor ich irgendetwas veröffentliche.“

Irgendwo aus einem der Läden ruft jemand einem Kunden hinterher. Eine Fahrradklingel auf der anderen Straßenseite. Das verschwörerische Kichern einer Gruppe von Kindern mit Eistüten in der Hand.

„Es geht nicht um unser mangelndes Vertrauen in Sie“, erklärt er, „sondern darum, dass Sie sich sicher wie die meisten anderen in Ihrem Beruf den Gesetzen des spannenden Journalismus unterzuordnen haben. Und wenn Ihnen da etwas zu Ohren kommt, dann ...“

„Herr Teschner, warum sagen Sie mir nicht einfach, worum es geht? Ich werde damit umgehen können, glauben Sie mir. Das ist mein Job.“

Klaus Teschner holt tief Luft, bevor er langsamen Schrittes weitergeht.

„Es ist jetzt fünfzehn Jahre her“, beginnt er schließlich. „Damals war Alwin gerade achtzehn geworden und dauernd mit seinen Freunden unterwegs, im Sommer vor allem am Strand.“

„Nicht ungewöhnlich, wenn man hier lebt.“

„Nein. Aber in diesem Sommer gab es einen Tag, von dem an sich alles ändern sollte.“ Er geht einen Moment in sich, bevor er weiterspricht. „Sein jüngerer Bruder Clemens war damals nach der Schule in jeder freien Minute in unserem Hotelrestaurant, um alles über das Kochen zu lernen, was es zu wissen gab – auch an jenem Tag. Alwin hingegen war auf eine Geburtstagsparty am Strand eingeladen. Einer seiner Freunde feierte seine Volljährigkeit. Meine Frau und ich“, er schluckt, „wir wussten, dass es eigentlich kein Anlass für eine Fünfzehnjährige ist. Aber da wir uns sicher waren, dass Alwin auf Jessica aufpassen würde, baten wir ihn, sie mitzunehmen. Jessica war eine Außenseiterin, hatte kaum Freunde und hat ihre Nase eigentlich immer nur in Bücher gesteckt. Deshalb hielten wir es“, er holt kurz Luft, „für eine gute Idee.“

„Jessica?“

„Unsere Tochter.“

Eine seltsame Ahnung überkommt mich.

„Alwin war alles andere als begeistert“, fährt er fort. „Er hat getobt und mich angebrüllt, dass ich ihm alle Chancen bei einer gewissen Clarice oder Clarissa vermiesen würde, auf die er schon lange ein Auge geworfen hatte. Und dass nichts der Annäherung mehr schaden würde als eine nervige kleine Schwester, die einem nicht von der Seite weicht. Jessica hat unseren Streit mitbekommen und auf mich eingeredet, dass ich Alwin in Ruhe lassen soll und sie lieber zu Hause bleibt. Es war ihr wohl peinlich.“

 

Sein Blick scheint etwas in der Ferne zu suchen. Eine Antwort. Oder nur die richtigen Worte?

„Meine Frau und ich waren an dem Abend zu Freunden eingeladen und sind dann auch widerwillig gefahren, weil Jessica uns eindringlich zu verstehen gegeben hat, dass sie sich auf etwas Ruhe allein zu Hause freuen würde. Aber die Wahrheit war“, er lächelt wehmütig, „dass ihr Plan ein ganz anderer war. Sie wollte sich an einem der abgelegenen Strände mit einem Jungen treffen.“

„Ihrem Freund?“

„Es war wohl eher so etwas wie ein Schwarm von ihr. Und es war relativ frisch, wie wir später erfahren haben. Die Sache war nur, dass er etwas von ihr wollte, zu dem sie noch nicht bereit war. Naiv von ihr zu glauben, dass ein Junge, der sich am Strand mit einem jungen Mädchen trifft, nur reden möchte, oder?“

Ich schenke ihm ein mitfühlendes Lächeln, bleibe jedoch stumm.

Ich sehe den feuchten Schimmer auf seinen Augen, während er mit dünner werdender Stimme fortfährt. „Jessica und er haben sich gestritten, woraufhin er sie allein zurückgelassen hat. Eine Tatsache, die aufgrund eines mehrfach bestätigten Alibis wohl nicht in Frage gestellt werden darf, weil er viel früher in einem nahegelegenen Bistro gesehen wurde. Ich meine, viel früher als ...“ Wieder verstummt er.

Da ist sie wieder, die unliebsame Ahnung.

Sein Atem ist schwer. „Ich weiß nicht, wie sie darauf gekommen ist, alleine im Dunkeln schwimmen zu gehen. Ob sie so aufgewühlt war, ob sie den Kopf frei bekommen wollte.“ Seine Stimme scheint jeden Moment zu versagen. Ob er wirklich besser damit umgehen kann als Alwin? „Alles, was wir wissen, ist, dass sie sich mit ihrem Kopf an der Kante des Stegs verletzt hat. Und dann …“

„Sie müssen nicht weiterreden, Herr Teschner.“ Ich hebe die Hand. „Bitte. Ich sehe doch, wie nahe es Ihnen geht.“

„Aber ich wollte, dass Sie es wissen. Dass Sie die Geschichte aus unserem Munde gehört haben, bevor Sie die Details unvollständig oder gar falsch von anderer Seite hören.“

„Nein wirklich.“ Ich lege instinktiv die Hand auf seine Schulter. „Bitte tun Sie sich das nicht an.“

Klaus Teschner nickt mir stumm zu. Eine Weile gehen wir schweigend nebeneinander die Promenade entlang. Hier und da dringt aus einer nicht zu greifenden Ferne das Kreischen einer Möwe zu uns durch. Irgendwo verkauft jemand Crêpes am Straßenrand. Doch nichts von alledem kommt wirklich bei mir an.

„Alwin hat das Ganze am härtesten getroffen“, fährt Klaus leise fort. „Er hat es sich nie verziehen, dass er sie an dem Abend nicht mitgenommen hat. Vor allem, weil die Party nicht mal einen Kilometer vom Unglücksort entfernt war. Meine Frau und ich haben das immer anders gesehen. Nie ist uns ein Vorwurf über die Lippen gekommen, weil man einem Achtzehnjährigen nun mal nicht vorwerfen kann, dass er 18 ist. In dem Alter hat man nun mal keine Lust, der ständige Babysitter für seine kleine Schwester zu sein.“

„So schrecklich das alles auch ist, niemand sollte sich deswegen Vorwürfe machen“, sage ich.

„Hören Sie, Frau Ritter.“ An der Gabelung zu einem Parkplatz bleibt er stehen. „Ist es möglich, dass Sie diesen Unfall nur am Rande erwähnen und in Ihrem Artikel nicht ins Detail gehen?“

„Ganz ehrlich? Ich bin nicht der Meinung, dass dieses Ereignis in dem Porträt über Ihren Sohn überhaupt Erwähnung finden sollte.“

„Sie meinen …“

„Dieser Schicksalsschlag ist privat. Und das sollte er auch bleiben.“

Die Wehmut in seinem Blick weicht einem Anflug von Dankbarkeit. Eine Weile stehen wir wortlos da, bis er schließlich langsam die Hände in seine Hosentaschen schiebt und die Erinnerungen mit einem Räuspern abwürgt.

„Sie scheinen eine bemerkenswerte junge Frau zu sein“, sagt er. Und an der Art, wie er dies feststellt, erkenne ich, dass dies nicht der Moment für einen Widerspruch aus Bescheidenheit ist.

Kapitel 7

Die morgendliche Stille am Wasser ist stets eine trügerische. Viel zu einschneidende Dinge geschehen hier Tag für Tag. Heimliche und offizielle Liebschaften, Trennungen und Versöhnungen, Spaziergänge Frischverliebter und emotionale Streitgespräche – kein Schauplatz ist geeigneter für die vielen Facetten des Lebens wie der Strand.

Dennoch genieße ich jedes Mal aufs Neue die Illusion, dass der Strand mir allein gehört, wenn es mich morgens herzieht.

Dass der Morgen langsam in den Vormittag übergeht, erkenne ich an den vereinzelten Joggern hier und da und an den Pärchen, die mir hin und wieder entgegenkommen.

Er hat sich am ersten Rettungsturm mit mir verabredet. Das war es zumindest, was mir sein Vater ausgerichtet hat.

Als ich näherkomme, sehe ich, dass er tatsächlich auf mich wartet, den Blick in die Ferne gerichtet, während er sich gegen einen der Pfähle lehnt.

Mit jedem Schritt, den ich auf ihn zukomme, spüre ich, wie sich die Gefühle in mir abwechseln: Das Bedauern um seinen schweren Verlust vor fünfzehn Jahren, die Enttäuschung darüber, dass er mir zugetraut hat, diese Informationen gegen seinen Willen zu verarbeiten – vor allem aber das leichte Kribbeln in der Magengegend, wenn ich an den Kuss vor meiner Wohnungstür denke.

Er sieht mich nicht sofort. Woran er wohl denkt, während er auf das Wasser schaut? Ob ich Platz in seinen Gedanken habe? Oder ist diese Sache zwischen uns noch viel zu zart, viel zu unwirklich, um überhaupt eine große Rolle zu spielen?

„Hallo“, begrüße ich ihn mit zurückhaltendem Lächeln, während ich wenige Meter neben ihm stehen bleibe.

Er zuckt leicht zusammen, doch schon im nächsten Moment breitet sich sichtbare Freude in seinem Gesicht aus.

„Sina.“ Er kommt einen Schritt auf mich zu, um dann doch kurz vor einer Umarmung innezuhalten. Auch für ihn muss die Situation zweifellos seltsam sein.

Stattdessen schiebt er die Hände beinahe verlegen in seine Hosentaschen. „Schön, dass du es rechtzeitig hergeschafft hast. Ich hoffe, es war keine allzu große Überraschung, meinen Vater an meiner Stelle anzutreffen. Aber ich dachte, es wäre eine gute Idee, wenn du auch mit ihm sprichst.“

„Es war“, ich denke kurz nach, „nett. Wobei nett vermutlich doch nicht das richtige Wort für das Thema ist, über das wir gesprochen haben.“

Alwin schaut zu Boden. Die Anspannung ist ihm deutlich anzusehen.

„Es tut mir leid, Sina“, sagt er, den Blick noch immer auf den Boden gerichtet. „Aber ich rede nicht so gern darüber. Deshalb dachte ich, es wäre besser, wenn ich das in seine Hände übergebe.“

„Es hat mir nichts ausgemacht, mit deinem Vater zu reden“, sage ich. „Er ist ein sehr charmanter Mann.“

Alwin schaut auf.

Ich seufze. „Viel schlimmer finde ich die Tatsache, dass du wirklich geglaubt hast, ich könnte von dieser Geschichte auf anderem Wege erfahren und es ohne dein Wissen in dem Artikel verwenden.“

„Sina, ich …“, er lässt die Arme sinken, „es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen. Aber die Wahrheit ist doch, dass wir uns kaum kennen. Und du machst doch schließlich auch nur deinen Job. Tut mir leid, das war dumm von mir.“

„Verstehe. Du kennst mich also nicht gut genug, um zu wissen, wie ich arbeite, aber gut genug, um spätabends an meiner Tür zu klingeln und mich zu küssen?“

Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Auch Alwin muss bei meinen Worten lächeln.

Langsam kommt er näher, umschließt meine Wangen mit seinen Fingern und legt seine Stirn an meine.

„Ich habe die ganze Nacht an dich gedacht“, sagt er leise.

Irgendetwas in mir sträubt sich gegen seine Annäherung. Auch wenn sich alles in mir danach sehnt, hat er dennoch recht mit dem, was er erst vor wenigen Augenblicken gesagt hat: Wir kennen uns kaum. Das hier kann einfach nicht richtig sein. Aber warum fühlt es sich dann so verdammt richtig an?

„Ich habe auch an dich gedacht“, antworte ich. „Vor allem, weil ich sehr verwirrt bin.“

„Und ist das in diesem Fall etwas Gutes? Verwirrt zu sein?“

„Es fühlt sich zumindest gut an.“

Ihm in dieser Position derart nahe zu sein, erscheint mir noch inniger als unser Kuss vom Vorabend.

Was hat er nur an sich, das mich so unsicher werden lässt? Sollte ich es nicht eigentlich besser wissen?

„Es tut mir leid“, sage ich. „Das mit deiner Schwester, meine ich.“

Er lässt seine Hände sinken und tritt instinktiv einen kleinen Schritt zurück.

„Alles okay?“, frage ich.

„Ja. Ja natürlich. Es ist nur … nach all den Jahren … es weckt noch immer so viel in mir.“

„Dein Vater sagt, er hat dir nie die Schuld daran gegeben.“

Alwin malt mit der Spitze seines Schuhs zarte Linien in den Sand.

„Es hat nie eine Rolle gespielt, was meine Eltern gesagt haben“, sagt er, den Blick auf die Linien im Sand gesenkt. „Ich habe mir immer die Schuld gegeben. Und das wird sich auch nicht ändern. Ich war ihr großer Bruder. Und Brüder passen auf ihre kleinen Schwestern auf. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz, das ich gebrochen habe, weil es mir wichtiger war, ungestört mit einem Mädchen zu sein.“

„Ich kenne die Geschichte nur aus dem Mund deines Vaters, aber für mich klingt dein Verhalten absolut logisch: Du warst ein junger Mann, du hattest einfach andere Dinge im Kopf.“

„Sina“, sagt er etwas zu schnell, etwas zu laut.

„Ja?“, frage ich leicht irritiert.

„Können wir bitte nicht mehr darüber reden?“, entgegnet er, nun etwas leiser.

„Tut mir leid. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“

„Das hast du nicht. Ich habe ja extra dafür gesorgt, dass du davon erfährst. Aber ich selbst, weißt du, ich rede nicht so gern darüber.“

Die Wehmut in seinen Augen weicht einem Lächeln, das er abruft, als sei es eine Art Heilmittel für zu tiefe Wunden, die er vergessen möchte. Langsam kommt er wieder näher und greift nach meinen Händen.

„Mir würden ganz andere Dinge einfallen, über die wir reden könnten“, sagt er.

„Zum Beispiel?“ Meine Hände ruhen in seinen, als hätten sie schon immer dort gelegen.

„Ich würde gern mehr über dich erfahren“, sagt er. „Es gibt sicher unendlich viele spannende Dinge, die ich noch nicht von dir weiß.“

„Spannend? Hm. Was findest du denn spannend? Welche Schuhgröße ich habe?“

„Bevor ich irgendetwas von dir weiß, ist es praktisch unumgänglich, dass ich deine Lieblingseissorte erfahre.“

„Meine Lieblingseissorte?“ Ich lache ungläubig.

„Sicher. Stell dir nur vor, wir haben Streit und ich will mich mit dir versöhnen. Jeder weiß doch, dass man dann mit einer Riesenpackung Lieblingseis nach Hause kommen muss. Das Lieblingseis öffnet Türen, wo jeder Blumenstrauß scheitern würde.“

„Klingt fast so, als hättest du in deinem Leben schon oft Versöhnungseis besorgt.“

Sein Finger streichelt über meine Hand. „Einmal bisher. Und an ihrer Reaktion habe ich gemerkt, dass sie nicht die Richtige für mich ist.“

Seine Antwort bringt mich zum Lachen.

„Ganz ehrlich, Alwin. Wir haben uns gerade erst kennengelernt. Zu diesem Zeitpunkt sollte man vermutlich noch nicht über solche Dinge reden, oder?“

„Du hast recht, war ja auch nur Spaß.“ Seine Augen blitzen übermutig auf. „Vergiss die Eiscreme. Wir sollten uns lieber aufs Küssen konzentrieren.“

Mit dem Kichern eines Schulmädchens puffe ich ihm gegen die Brust, die in genau diesem Moment zu vibrieren beginnt.

Leicht erschrocken zieht er sein Handy aus der Brusttasche seines Sakkos.

„Antonia.“

Ich spüre, wie ich allein beim Erwähnen des Frauennamens zusammenzucke. Und mit einem Schlag sind sie wieder da, meine Zweifel und der erste Eindruck, den ich von ihm hatte.

„Nein, morgen ist es ungünstig“, sagt er, während er mir den Rücken zuwendet. „Da bin ich schon voll mit Terminen … nein, da auch nicht … tut mir leid, Antonia, aber ich habe dir doch gesagt, dass … ja, genau, und das habe ich auch so gemeint.“

Stille breitet sich aus. Ich stehe zu weit weg, um zu hören, was sie sagt. Alles, was ich sehe, ist sein Rücken, der sich wie ein Symbol zwischen unseren gerade erst verstrichenen Moment der zärtlichen Nähe und meine Ahnung stellt, dass er eben doch ein Mistkerl ist.

„Wenn du das so siehst, tut es mir leid“, sagt er selbstbewusst. „Aber es wird dir nicht gelingen, mir ein schlechtes Gewissen einzureden.“

 

Dann ist das Telefon beendet.

So schnell, wie er das Handy aus seiner Brusttasche gezogen hat, schiebt er es wieder zurück.

Nach einem kurzen Räuspern dreht er sich wieder zu mir um, als hätte er sich nur schnell für eine Rolle sammeln müssen, die er mir nun vorspielen möchte.

„Ich hasse es, Leute abzuwimmeln“, sagt er. „Und vor allem hasse ich es, wenn ich es mehrmals tun muss, weil sie es beim ersten Mal nicht begreifen wollen.“

„Mir scheint, als müsstest du vor allem Frauen abwimmeln“, entgegne ich mit reserviertem Lächeln.

„Frauen?“ Er hebt seine Augenbrauen, als wüsste er nicht, wovon ich rede.

„Na ja, ich kenne dich erst seit anderthalb Tagen, aber habe dich jetzt bereits bei der vierten Abfuhr erlebt. Entweder am Telefon oder live in deinem Hotel.“

„Oh, du meinst das mit Tanja gestern?“

„Unter anderem.“ Mein Gesicht versteinert sich.

„Das ist eine lange Geschichte“, antwortet er.

„Dann erzähl sie mir doch. Ich bin gut im Zuhören.“

„Wenn ich darüber reden würde, würde ich ein Versprechen brechen“, antwortet er so ruhig, als unterhielten wir uns über Benzinpreise.

„Verstehe.“ Ich presse meine Lippen aufeinander. „Erst die Sache mit deinem Vater, dann das jetzt. Vermutlich ist es tatsächlich zu viel verlangt, dass du mir schon so früh vertraust.“

Ich suche nach den richtigen Worten, finde aber nur einen kläglichen Ersatz für das, was ich wirklich denke.

„Vielleicht ist es besser“, sage ich schließlich, „wenn ich jetzt heimfahre und mit der eigentlichen Arbeit am Artikel beginne. Ich denke, ich habe jetzt genügend Material zusammen, um ein authentisches Porträt von dir zu erstellen.“

Die plötzliche Abkühlung meiner Stimme scheint ihn zu erschrecken.

„Sina.“ Er kommt näher. „Du, du verstehst da etwas falsch.“

„Weißt du, wenn ich es mir recht überlege, will ich die Details gar nicht wissen.“

Erst jetzt scheint er zu begreifen, worum es mir wirklich geht. Wie erleuchtet schaut er mich an. „Jetzt verstehe ich, was du meinst. Du denkst, all diese Frauen und ich – dass da was läuft, richtig?“

Mein Stolz hindert mich daran, ihm zu antworten.

„Oh Sina.“ Er lacht. „Glaub mir, das könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Das mit diesen Frauen, das ist nur … geschäftlich.“

„Bitte, Alwin, beleidige nicht meine Intelligenz, ja? Diese Frau im Restaurant war so was von verknallt in dich, das hat man schon auf den ersten Blick gemerkt.“

„Kann schon sein, ja. Aber das ist ihr Problem, nicht meins. Ich habe ihr jedenfalls keine falschen Hoffnungen gemacht, weil es in unseren Gesprächen lediglich darum ging, dass … ach Sina, ich habe dir doch gesagt, dass ich ein Versprechen brechen würde, wenn ich darüber rede. Ich habe dich eigentlich für eine Frau der Marke coole Socke gehalten, die über den Dingen steht.“

Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Ach, komm schon, Alwin, glaubst du wirklich, dass es solche ach so coolen Frauen gibt? Niemand von uns ist wirklich cool, wenn es um Gefühle geht. Und wenn, dann eben nur so lange, wie wir uns unserer Sache sicher sind. Oder eben, weil wir wollen, dass es so aussieht, als seien wir die Gelassenheit in Person. Aber egal ob cool oder verunsichert, keine Frau lässt sich gern verarschen. Alles, was ich weiß, ist, dass ich keine von denen sein werde, die dich in ein paar Wochen anrufen und dann ein Du redest mir kein schlechtes Gewissen ein als Antwort bekommen. Dafür bin ich mir zu schade.“

Ich spüre deutlich, dass er mich berühren will, aber vor meiner Selbstsicherheit zurückschreckt.

„Denkst du etwa wirklich, dass ich mit all diesen Frauen etwas hatte?“ Er lacht ungläubig. „Komm schon, Sina. Ich bin vielleicht erfolgreich, aber kein Hugh Hefner.“

„Schon okay, Alwin, es geht mich doch im Grunde gar nichts an. Wir bereiten gemeinsam einen Artikel vor, das ist alles.“

„Ich will aber nicht, dass du diesen Eindruck von mir hast, verdammt.“ Nun greift er doch nach meiner Hand. „Reicht es dir wirklich nicht, wenn ich dir sage, dass du mir vertrauen kannst? Wenn zwischen uns wirklich diese besondere Anziehung ist, von der wir gesprochen haben, muss dir doch klar sein, dass ich es ernst mit dir meine. Oder würdest du dich von einem Arschloch angezogen fühlen, das mehrere Frauen gleichzeitig hat?“

Die Eindringlichkeit, mit der er das sagt, lässt meine Vermutungen von einem Moment auf den anderen lächerlich erscheinen.

Wer bin ich, dass er mir Rechenschaft schuldig ist?

Und wieso überkommt mich dieses vertraute Gefühl, wenn er mich auf diese Weise anschaut? Dieses Gefühl, dass alles gut und echt und rein ist, was uns verbindet?

Ich spüre seinen Atem an meiner Wange, so nah und warm, dass alles andere egal wird.

Was haben mir all meine konfusen Gedanken in vergangenen Beziehungen und Affären schon gebracht? Was, wenn es vielmehr darauf ankommt, ausschließlich auf sein Herz zu hören und endlich einmal etwas zu riskieren?

„Du bist mir nichts schuldig“, sage ich leise.

„Ich will dir aber etwas schuldig sein“, antwortet er. „Mindestens Vertrauen. Und ich vertraue dir. So wie du auch mir vertrauen kannst.“

Ich spüre seine Lippen an meinen Wangen, seine Finger an meinem Hals. Unaufdringlich und doch voller Begehren.

Als sein Mund meinen berührt, weiß ich, dass ich ihn will. Egal, ob wir uns kennen oder nur glauben, es zu tun.

Meine Hände wandern wie von selbst unter sein Hemd, während seine Finger meine Hüften umspielen.

„Wir sollten weniger reden“, sage ich. „Das führt nur zu Missverständnissen.“

„Ich rede gern mit dir.“ Lachend stößt er heißen Atem aus, der meine Lippen streift.

Erst jetzt wird mir bewusst, dass dieser Teil des Strandes tatsächlich so gut wie leergefegt ist. Trotzdem fühle ich mich unbehaglich, mich derart in der Öffentlichkeit gehen zu lassen.

Alwin scheint es ähnlich zu gehen. Er sucht in meinen Augen nach einer Art von Einverständnis.

Innerhalb von Sekunden sind alle Fragen zwischen uns wortlos beantwortet. Er nimmt mich an die Hand und zieht mich sanft am Schilf vorbei einen kleinen Pfad hinauf. Oben angekommen, wo das Schilf am höchsten und die Sicht auf das Wasser beinahe gänzlich verstellt ist, fällt mein Blick auf eine kleine Bootshütte aus abblätterndem blauen Holz.

Alwin hebt die kleine weiße Bank vor dem Haus an und hebt einen Schlüssel auf, der unter einem der Beine liegt.

„Gehört es dir?“

„Meiner Familie. Schon solange ich denken kann.“

Die salzige Meeresluft wirkt wie ein Aphrodisiakum, als er die Tür aufschlägt und wir in Küssen versunken in das Häuschen taumeln.

„Falls du denkst, ich hätte das geplant …“, beginnt er, doch ich lasse ihn augenblicklich in einem noch stürmischeren Kuss verstummen.

Er tritt die Tür hinter sich mit seinem Fuß zu, während ich ihm das Sakko ausziehe und es gedankenlos zu Boden fallen lasse.

Seine Zunge gleitet behutsam und doch leidenschaftlich meinen Hals hinauf, bis ein Kuss daraus wird, der so fordernd ist, dass ich die Konturen seiner Zähne auf meiner Haut spüre. Eine Tatsache, die mich nur noch mehr in Fahrt bringt.

Unter einem der Fenster steht ein Doppelbett, bezogen mit einer kunterbunten Patchwork-Decke. Den kleinen Tisch und den Wandschrank nehme ich nur im Augenwinkel wahr, als wir uns auf das Bett fallen lassen.

Er schiebt mein Shirt hoch und beginnt, meinen Bauchnabel zu liebkosen. Ich fummele an seinem Gürtel, doch er kommt mir zuvor und zieht seine Hose selbst aus. Auch ich kann mich gar nicht schnell genug ausziehen. Plötzlich ist nur eines wichtig: Ihn ganz und gar zu spüren.

In einem Wirrwarr von Klamotten, die auf dem Bett und den Holzdielen liegen, winden sich unsere nackten Körper auf der weichen Decke. Sein Oberkörper ist noch kräftiger, als man es unter seiner Kleidung erahnen kann.

Als er sich über mich rollt, weiß ich es plötzlich: Wir brauchen keine Zeit, keine Worte – das hier ist echt. Egal, was noch passieren wird.