Wo die wilden Maden graben

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Tja, und hier sitzt du nun und wartest, dass du dran bist. Der Wartesaal ist voll. Du warst einer der Ersten heute Morgen, und du bist mit Sicherheit der Einzige, der selbst mit dem Auto hierhergefahren ist. Während der letzten zehn Monate ist keiner Behörde aufgefallen, dass dir irrtümlicherweise dein Führerschein zurückgeschickt wurde.

Nett von Kowalski, dass er dir seinen Kadett geliehen hat. Egal wie das heute ausgehen wird, die Fahrt hierher wird dir noch lange in Erinnerung bleiben: entweder als der Weg zum Schlachtfeld, auf dem du tapfer und erfolgreich um deine Unabhängigkeit und Ehre gekämpft hast, oder aber als die letzte Autofahrt deines Lebens.

Du bist wild entschlossen, die MPU zu schaffen. Du hast dir eine gute Story zurechtgelegt, nach der du die Schnauze voll hast vom Alkohol und außerdem dein Leben jetzt voll unter Kontrolle. Du hast den Kontakt zu deinen alten Freunden abgebrochen, bist deswegen mit deiner Freundin in eine andere Stadt gezogen und hast auch dein Studium wieder aufgenommen, das du in der Zeit vor der alkoholisierten Unfallfahrt eher hast schleifen lassen. Bis auf den Umzug, allerdings aus anderen Gründen, ist nichts davon wahr. Alles erstunken und erlogen. Na ja, eine Kleinigkeit noch, die der Wahrheit entspricht: Du willst kein Idiot sein. Du willst es beweisen, dem TÜV-Psychologen, den Polizisten, deinen Freunden und Eltern, der ganzen Welt, vor allem aber dir selbst: »Ich bin kein Idiot!«

Das Gespräch mit dem Psychologen wird ein Balanceakt zwischen »keine Lust mehr auf Saufen« und »trockener Alkoholiker« werden. Immerhin hast du zwei Monate lang keinen Alkohol getrunken, um heute deine Leberwerte in Ordnung zu haben. Von einem Rückfall mit Benja in Prag mal abgesehen, als du es nicht mehr aushalten konntest. Du warst nicht mehr in Übung, und dummerweise habt ihr noch ein paar Gläser Absinth auf die Wodka-Os gegossen. Vielleicht warst du in deinem ganzen Leben noch nie so betrunken. Als du am nächsten Tag aufwachtest, bekamst du es umgehend mit der Angst zu tun. Seitdem hast du keinen Tropfen mehr angerührt und sogar eine sechstägige Tour mit deiner Band trocken überstanden.

Als erstes wurde dir heute Morgen Blut abgenommen, das genauestens auf eventuelle Kurz- und Langzeitspuren von Alkohol untersucht wird. Dann hast du wieder die üblichen Koordinationstests über dich ergehen lassen. Mit geschlossenen Augen eine gerade Linie laufen, den Finger an die Nasenspitze führen und so weiter.

Der Warteraum ist voller Leute, die alle ihre eigene Version haben, warum sie hier gelandet sind.

»Für mich ist das keine Demokratie mehr!«, empört sich ein rotgesichtiger Mann Mitte fünfzig, Typ Landwirt. »Eine Diktatur ist das! 0,5-Promille-Grenze, und wem haben wir das zu verdanken: Schröder und seiner rot-grünen Bande!«

»Völlig richtig«, sagt die Frau neben ihm. »Und wissense watt: Ich hab denen einen Denkzettel verpasst!«

»Einen Denkzettel?«

»Ja. Ich hab Protest gewählt! NPD! Um denen da oben mal zu zeigen, dass wir nicht alles mit uns machen lassen!«

»Ja richtig, ich stand auch kurz davor.«

Etwa zehn weitere Leute sitzen im Raum. Einige geben hier und da einen Kommentar ab, andere starren wortlos ins Leere. Du gehörst zur letzteren Sorte. Es ist nicht einfach für dich, unter dieser Ansammlung von Vollidioten zu sitzen und dein Maul zu halten. Aber was solltest du diesen Leuten auch sagen. Du kannst sie nicht belehren oder erziehen. Eine Pumpgun wäre das einzig Richtige. Du hoffst inständig, dass alle von ihnen beim Psychologengespräch durchfallen und/oder auf der Stelle tot umfallen.

»Die Frau da am Empfang kann uns auch nicht leiden, wie die guckt!«, bemerkt die Protestwählerin.

»Ach, die ist doch nett!«, entgegnet der Saufbauer.

Die Protestwählerin ist anscheinend sofort umgestimmt: »Stimmt, die ist nett.«

Endlich wirst du zum Reaktionstest aufgerufen. Er verläuft wie in der Fahrschule, nur viel härter. Du sitzt vor einem Bildschirm und sollst auf Kästchen und Bälle in unterschiedlichen Farben und Formen reagieren. Für jedes Symbol gibt es einen eigenen Knopf. Zusätzlich bekommst du über einen Kopfhörer hohe und tiefe Tonsignale, bei deren Ertönen du mit dem linken oder rechten Fuß ein Pedal treten sollst. Im Fachjargon nennt sich diese foltergeeignete Übung »Test für reaktive Stresstoleranz«. Das Ganze dauert mehrere Minuten, die Signale werden immer schneller. Ganz besonders die Geräusche auf den Ohren machen dich wahnsinnig. Neben dir sitzt ein älterer Herr, der schnauft und schwitzt und nach zwei Minuten weinend zusammenbricht.

»Ich pack das nicht! Ich pack das einfach nicht!«, brüllt er und bricht ab. Du versuchst, dich nicht von seinem Gejaule ablenken zu lassen. Für kurze Zeit bist du komplett weggetreten, ohne Gefühl für Raum und Zeit versuchst du nur noch, korrekt zu reagieren und nicht durchzudrehen. Der Test kommt dir endlos vor, aber irgendwie bringst du ihn hinter dich. Ohne Umwege wirst du danach zur letzten Station geschickt, dem Gespräch mit Dr. Hansen.

Der Psychologe sitzt hinter seinem Schreibtisch und liest in deiner Akte. Er ist Mitte bis Ende dreißig, trägt einen Oberlippenbart und schaut nicht mal auf, als du dich ihm gegenübersetzt. Im Kopf versuchst du nochmal deine jüngste Lebenswandlung durchzugehen, bist aber noch viel zu durcheinander von dem gerade absolvierten Test. Dr. Hansen schaut dich skeptisch an und zieht dich ohne irgendeine Begrüßung in den Ring.

»Na, dann legen Sie mal los!«

Du krempelst innerlich die Ärmel hoch und stammelst ein paar einleitende Sätze zu der Situation, in der du mit Alkohol am Steuer erwischt wurdest. Du versuchst, zu dem überzuleiten, was sich seitdem alles verändert hat in deinem Leben. Er will nichts davon hören. Er sitzt nur zurückgelehnt in seinem Chefsessel und eröffnet dir, dass du ja ganz offensichtlich ein kompletter Versager seist, dem man gar nichts glauben könne.

»Führerscheinentzug wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss in der Probezeit! Und dann, kaum ist die Fahrerlaubnis zurück, das Gleiche noch mal! Da muss man sich doch fragen, ob Sie noch ganz richtig im Kopf sind! Wenn das zweimal passiert, und die Dunkelziffer lasse ich mal unerwähnt, warum dann nicht noch öfter?!«

Eine berechtigte Frage, musst du gestehen. Eins zu Null für ihn. Du bist wie gelähmt. Nach gerade mal zwei Minuten hat er dich bereits in eine Ecke gedrängt und beobachtet nun, ob und wie du da wieder rauskommen willst. Du beginnst zu schwitzen. Es ist ein schmaler Grat. Du weißt, dass du ihm einerseits nicht Recht geben kannst, denn dadurch würdest du dich selbst als Deppen darstellen, zu dumm zum Scheißen und zum Autofahren sowieso. Andererseits kannst du aber auch nicht reagieren, wie du es normalerweise tun würdest, wenn dich jemand so blöd anmacht, denn dann müsstest du diesem Arschloch sofort einen guten Schwinger verpassen, wenigstens verbal. Nein, du musst dich beherrschen, ruhig bleiben. Er will ja nur testen, wie du in Extremsituationen reagierst, ob du dich unter Kontrolle hast oder aber gleich völlig ausrastest. Und du hast dich doch unter Kontrolle, oder?

Oder?

Es zieht sich endlos hin. Du redest und redest und weißt selbst nicht so richtig, was.

»Aha, elftes Semester und noch nicht mal das Grundstudium beendet, von der Sorte sind Sie also!«

»Das ist richtig, ich habe es schleifen lassen, aber ich habe selbst die Schnauze voll davon, ich will jetzt vorankommen im Leben, deshalb ja auch mein Umzug in die andere Stadt, denn so geht es nicht weiter!«

Hast du das gerade gesagt? Nicht schlecht! Damit kannst du zum ersten Mal einen Aspekt deiner vorher zurechtgelegten Geschichte anbringen. Er hat ja keine Ahnung, dass du von Anfang an nur an dem Semesterticket und der Sozialversicherung interessiert warst und in den fünfeinhalb Jahren keine einzige Vorlesung besucht hast. Natürlich könntest du von deiner Musik erzählen, wie wichtig sie dir ist, und damit leicht seine Einschätzung widerlegen, dass du jemand bist, der nichts im Leben durchzieht. Schließlich hast du seit etlichen Jahren diese Band, sie bedeutet dir sehr viel, und du spielst nicht nur Gitarre und singst, nein, du bist auch das Booking, Management und die Plattenfirma der Band, alles in einer Person! Aber du hast dich entschlossen, die Band nicht zu erwähnen, zu groß ist deine Angst, dass der bloße Begriff »Rockmusik« Assoziationen zu Alkohol und Drogen in ihm wachruft. Bon Scott, Keith Moon, Sid Vicious, Jimi Hendrix, Kurt Cobain …: Namen, von denen sogar er schon mal gehört haben könnte.

Nachdem du ihn davon überzeugen konntest, dass du ein aktives Interesse an einem Dasein als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft hast (nimm dies, Hansen!), wird er etwas milder. Ihr redet darüber, wie du vermeiden kannst, dass so etwas noch mal passiert. Du sagst, dass du außer einem Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt seit einem Jahr nichts mehr getrunken hast, und wenn du jemals wieder einen Tropfen trinken würdest – das »wenn« und das »würdest« betonst du in diesem Satz besonders –, dann würdest du das Auto von Anfang an stehen lassen. Das hat gesessen. Du spürst, wie Dr. Hansen einknickt.

»Jaja, immer dran denken: Taxis sind auch Autos, nech!«, lacht er. Heiser lachst du mit ihm. Die Stimmung hat sich jetzt deutlich entspannt, und bis hierher hast du dich wirklich gut geschlagen, doch doch, da kann man nichts sagen. Du glaubst schon fast, dass du es geschafft hast, als er nochmal einen Blick in seine Papiere wirft.

»Sagen Sie mal, das sieht hier aus, als ob Sie Ihren Führerschein noch hätten!«

»Ja«, antwortest du, dir wird plötzlich schwindelig, »der wurde mir wohl irrtümlicherweise zurückgeschickt.«

»Also, das kann doch nicht wahr sein, das geht doch nicht, wie geht das denn?«, schnaubt er.

 

»Ich habe mich natürlich auch gewundert, wollte mich aber nicht selbst anschwärzen. Ich liebe das Autofahren, und ich fahre seitdem täglich, nüchtern übrigens.«

Dr. Hansen ist verblüfft. Er sagt, so was hätte er noch nie erlebt. »Ich kann Sie ja durchaus verstehen, aber wenn ich das weitergebe, wenn die Kollegen das sehen, die lassen Sie sofort durchfallen!«

Du glaubst ihm nicht. Der kann dir doch nicht weismachen, dass nicht er allein darüber entscheidet, ob du den Fläppen behältst oder nicht! Zumindest, solange deine Blutwerte in Ordnung sind, liegt das Schicksal deines Führerscheins einzig und allein in der Hand dieses Menschen, das weißt du genau. Du hast das Gefühl, dass er sich nur noch ein bisschen am süßen Duft seiner Macht laben und dich auf die Folter spannen will. Nach kurzem Grübeln setzt er zu seinem Lucky Punch an und macht dir einen Vorschlag: Er lässt dich bestehen, wenn du einer »Nachschulungsmaßnahme für alkoholauffällige Kraftfahrer« zustimmst.

»Das ist ein fünfwöchiger Kurs, pro Woche eine Sitzung.«

Genau der Kurs, den du schon einmal gemacht hast und den du wieder selbst bezahlen müsstest. Kostet mindestens achthundert Mark zusätzlich. Also noch mal so ein beschissener Stuhlkreis mit selbstmitleidigen Versagern und einer Laber-Rhabarber-Psychologin, die euch wie Schulkinder vorrechnen lässt, nach welcher Zeit der Alkoholgehalt von fünfzehn Gläsern Bier und dreiundzwanzig Kurzen im Körper abgebaut ist. Die Vorstellung, das noch mal über dich ergehen lassen zu müssen, macht dich fertig. Andererseits gibt es bei diesem Kurs keine Prüfung. Man fällt nur durch, wenn man gar nicht oder aber betrunken zu den Sitzungen erscheint. Wenn du das Angebot annimmst, hast du den Idiotentest also bestanden. Mit einem bitteren Beigeschmack im Mund willigst du ein.

Dr. Hansen hat nach Punkten gewonnen, dich aber immerhin nicht ausgeknockt.

Als du da raus bist, gehst du schnurstracks zum Wagen. Du hast das Tape schon zurechtgespult. »There’s a sign up ahead, says ›No signs for a while‹ …« »Little Light«, dein Autofahrlied Nummer Eins. Du setzt rückwärts raus und machst dich auf den Weg nach Hause.

Was hier an Catering aufgefahren wird, ist der helle Wahnsinn. Es gibt so ziemlich jedes vegetarische Essen, was man sich vorstellen kann. Gefüllte Paprika. Eingelegte Auberginen. Brotsalat. Couscous. Spaghetti. Reis. Gemüse, Soßen, Brot, Antipasti … Sie stehen zu zehnt in der Küche, alle machen was. Eine kümmert sich um die Salate, einer schneidet Gemüse, eine deckt den Tisch, zwei stehen am Herd … Sie haben einen Ghettoblaster in der Küche, mit dem sie selbstgebrannte Mix-CDs spielen.

Ich erstarre voller Ehrfurcht und weiß nicht, womit wir das verdient haben.

»Womit haben wir das verdient?«, frage ich den Veranstalter, der sich am Getränketischchen einen Kaffee einschenkt. Er lächelt nur.

»Ich meine, ist das Catering immer so reichhaltig bei euch?«

»Na ja«, sagt er, »in der Regel geben sich unsere Küchenleute schon große Mühe, aber heute ist es besonders besonders.«

»Warum das?«

»Weil sich so viele Freiwillige zum Kochen gemeldet haben.«

»Und warum?«, frage ich nochmal, begriffsstutzig, wie ich bin.

»Weil die Leute vom Juz sich seit Wochen auf das Konzert gefreut haben. Die sind alle große Fans von euch. Sie wollen, dass ihr euch an diesen Abend erinnert, und wenn es nur wegen des Caterings ist.«

Das ist ihnen gelungen. Ich habe seit langem nicht so gut gegessen. Ich schaffe es nicht mal, von allem zu probieren. Dann bringen zwei Mädels auch noch eine Schüssel Wackelpudding als Dessert. Mit Vanillesauce.

»Die ist noch warm. Guten Appetit!«

Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht mehr weiter essen kann. Ich bin gerührt. Alle von uns sind es.

Wir dürfen auf keinen Fall vergessen, diesen Leuten heute Abend ein Lied zu widmen. Früher, auf den Hardcore-Konzerten in den AJZs der Republik, war das gang und gäbe – jede einzelne Band hat sich mindestens einmal während des Auftritts artig für die zerkochte Nudelpampe bedankt. Ich fand das immer aufgesetzt und peinlich. Heute dagegen mache ich mir sogar eine Notiz auf der Playlist. »ESSEN: DANKE.« Ein Ansagen-Stichwort auf der Playlist ist zwar extrem uncool, aber ich kenne mich, im Eifer des Gefechts vergesse ich solche Dinge, und das will ich auf keinen Fall riskieren.

Wackelpudding mit Vanillesauce. Wahnsinn. Das habe ich zum letzten Mal gegen Mitte oder Ende des letzten Jahrzehnts von meiner Mutter serviert bekommen.

5.

Ich erkenne ihn nicht gleich, er fällt mir eher wegen seiner komischen Haltung auf. Etwas unbeteiligt und verloren, als warte er auf irgendwas, lehnt er neben unserem Merchandisestand, ohne sich Platten, Shirts oder Buttons anzugucken oder mit irgendwem zu reden. Ein paar Mal kreuzen sich unsere Blicke, aber auch da erkenne ich ihn noch nicht. Dabei hatte die Tourneeleitung ihn schon angekündigt:

»Ey, da draußen am Merch steht dieser eine Typ, den kennst du, der, der aussieht wie ’ne Frau, die wie ein Mann aussieht!«

Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Erst, als ich mich aus meiner Unterhaltung mit einem Typen von der anderen Band gelöst habe, bemerke ich, dass mich jemand direkt anguckt, und als ich den Blick erwidere, hebt dieser Jemand grüßend seine Bierflasche. Ach was, Mäse!, denke ich. Beim Auftauchen seines Namens in meinem Kopf durchzuckt es mich leicht, und als er auf mich zukommt, begrüße ich ihn lieber mit einem unverfänglichen: »Moin Alter, was machst du denn hier!«

Matthias Schneider war eigentlich ein unauffälliger Kleinstadtjunge. Er spielte zunächst mit Matchboxautos, dann mit Playmobil- und Actionfiguren, und schließlich mit seinem Penis. Ungefähr zu dieser Zeit fing er an, nach der Schule mit anderen Jungs aus der Klasse auf dem Spielplatz hinterm Freibad rumzuhängen, wo sie durch das Reißen möglichst schweinischer Witze, das Fachsimpeln über die Brüste ihrer Mitschülerinnen oder das heimliche Rauchen von Zigaretten in der Seilbahnhütte ihre Pubertät auslebten. Fast alle hatten Spitznamen, die sich entweder von ihren Vor- oder Nachnamen ableiteten. Johannes wurde zu Jojo, Kampmann zu Kampo, Schlüter zu Schlüti, Jan zu Janni usw.

Matthias Schneider hatte nun das Pech, dass es außer ihm noch einen anderen Matthias in der Clique gab, der von allen »Matze« gerufen wurde. Dieser Matze war ein halbes Jahr älter und schon länger in der Gang, hatte also so was wie ein Erstgeborenenrecht auf diesen Namen. Matze hatte mal Kampos großem Bruder, also dem richtigen Kampo (Der Junge in der Clique war eigentlich nur »Klein-Kampo«, wurde aber nur zu Unterscheidungszwecken so genannt und intern zu seiner großen Erleichterung auch mit »Kampo« angeredet) mal so deftig in die Eier getreten, dass dieser angefangen hatte zu heulen und geschlagen von dannen ziehen musste. Außerdem erzählte man sich, er sei Lisa Hülsböhmer schon mal unter den Pulli gegangen und habe auch sonst einiges los bei den Weibern.

Der Name Matze war also schon vergeben, und Matze war eine Autoritätsperson, er stand ganz weit oben in der hierarchischen Gliederung der Jungsbande. So einem macht man nicht den Spitznamen abspenstig. Man legt sich am besten gar nicht erst mit ihm an, denn ein Disput mit ihm, und man ist bei allen unten durch. Und dann hat man auf ewig die Arschkarte gezogen, wie der Verlierer Uwe Jankowsky, der alleinstehende Alkoholiker aus dem Dachgeschoss, der manchmal betrunken auf der Wiese im Park lag und von den Kindern mit Abfall und Dreck beworfen wurde.

Weil es in einer coolen Gang aber unmöglich zwei Jungs mit demselben Namen geben konnte, und weil »Matze eins« und »Matze zwei« auf gar keinen Fall in Frage kam (zu lang, zu kompliziert, zu bescheuert), wurde Matthias Schneider von den anderen »Mäse« getauft. Mäse ist ein nicht direkt vulgärer, aber doch etwas grobschlächtiger Ausdruck aus dem Plattdeutschen und heißt: Popo, bzw. Hintern, bzw. Arsch.

Anfangs fand er es noch ganz lustig, so angeredet zu werden. Er sah das Ganze mehr als einen vorübergehenden Scherz. Außerdem war es der mit Abstand originellste aller Spitznamen, origineller jedenfalls als Jojo, Kampo oder Fleckmanns Björn, den alle nur »Flecki« nannten. Dann aber verselbstständigte sich die Sache: Er wurde anderen Jungs als »Mäse« vorgestellt, und schließlich, was noch schlimmer war, nannten ihn auch die ersten Mädchen so. Wenige Wochen später hieß er, außer bei seinen Eltern, Großeltern und Lehrern, überall Mäse. In der Schule, im Fußballverein, sogar sein Nachhilfelehrer nannte ihn Mäse.

Als die ersten Veralberungen seines ohnehin schon albernen Namens aufkamen, machte er noch ein paar halbgare Anläufe, stattdessen mit seinem Nachnamen gerufen zu werden. Aber es war zu spät, der Zug war abgefahren. Vorbei. Basta. Finito. Die letzte Chance auf einen halbwegs würdevollen Spitznamen: Futschikato.

Man nannte ihn beispielsweise gerne »Käse-Mäse« und fand das ungemein witzig. Der Belag seines Schulbrotes wurde im Gegenzug zu »Mäsenkäse«. Jeder Protest war sinnlos, vielmehr spornte er die anderen nur noch weiter an, gab ihnen Munition, provozierte sie zu weiteren Beschimpfungen. Eichelkäse wurde zu Eichelmäse wurde zu Speichelmäse …

Pubertierende Jungs sind erbarmungslose Bestien, die mit Vorliebe ihre salzigen Finger in die Wunden von Schwächeren legen. Also fügte Mäse sich zähneknirschend in sein Schicksal, von nun an und für alle Tage nach dem menschlichen Gesäß benannt zu sein. Selbst als er zwei Jahre später in die nächste Universitätsstadt zog, traf er dort hin und wieder auf Kommilitonen, die ihn und damit auch seinen Spitznamen von früher kannten.

Als du ihn dort zum ersten Mal auf einer Party triffst, wird er dir als Matthias Schneider vorgestellt, und irgendwer redet ihn sogar mit Matze an. Was muss das für ein schönes Gefühl sein, was für eine Erleichterung, was für eine späte Genugtuung! Als er aber schon längst gegangen ist, während du noch versuchst, die Mitbewohnerin des Gastgebers dazu zu bringen, dir ihr Bett und ihren Körper anzubieten, erzählt man dir am Küchentisch Mäses wahre Identität, sein stilles Geheimnis, die Geschichte seines Namens. Du musst sogleich an einen früheren Bekannten von dir denken, der ein ähnliches Problem hat, denn er bekam als Fünfzehnjähriger von seinen Heavy-Metal-Kumpels den Namen »Jesus« verpasst. Es soll da wohl eine gewisse Ähnlichkeit gegeben haben, was aber zweitrangig ist, denn wenn jemand einen Spitznamen hat, dann benutzt man ihn meist ungefragt. Auch Jesus versuchte nach einigen Jahren verzweifelt, seinen Namen wieder los zu werden. Er zog in eine fremde Stadt, wurde sogar Vater, doch immer wenn du ihn triffst, denkst du: »Da ist ja Jesus«, und dann rufst du ihn: »Moin Jesus, lange nicht gesehen!«, und er steht vor dir und schämt sich vor seiner Frau, die ihn fälschlicherweise für »Thomas« hält und schnell weitergehen möchte.

Du landest auf dieser Party tatsächlich im Bett der Mitbewohnerin. Ihr trinkt vorher allerdings all ihre Weinreste auf, hört dazu schlimme Musik und brabbelt lallend pseudophilosophischen Unsinn, der dir in dem Moment unheimlich schlau vorkommt. Als auch der Wein alle ist, findet ihr im Kühlschrank noch etwas Whiskey, Marke: St. Johnston’s Bourbon, Herkunft: Aldi, und mit einem leckeren Mix Whiskey/O-Saft auf dem Nachtschränkchen schlaft ihr schließlich halb angezogen beim Fummeln ein. Erst als du morgens wach wirst, bemerkst du das riesige Pearl-Jam-Poster über ihrem Bett. Du fühlst dich elend und schleichst dich leise davon. Du siehst sie nie wieder.

Mäse dagegen läuft dir in den folgenden Monaten und Jahren immer mal wieder über den Weg, und ihr entwickelt eine lose und unverbindliche, aber von gegenseitigem Wohlwollen geprägte Party-Freundschaft.

Der übliche »Du hier?«-»Ja, wohne jetzt hier!«-»Und was machste so?«-Smalltalk füllt gerade mal zwei oder drei Minuten. Ich bin ziemlich verkrampft, da ich die ganze Zeit an seinen Namen denken muss. Weil ich etwas über ihn weiß, von dem er nicht weiß, dass ich es weiß, ist er in meinem Kopf zu einer Art tragischen Figur geworden, die Mitleid verdient. Die Situation wird nicht gerade einfacher durch die Tatsache, dass wir uns nicht sonderlich viel zu sagen haben. Eine weitere zähe Minute vergeht damit, dass er mir für das gelungene Konzert gratuliert und sich erkundigt, wie lange wir schon und wie lange wir noch unterwegs sind. Ich antworte freundlich aber knapp, denn ich mag es nicht, nach einem Auftritt mit Nicht-Bandmitgliedern darüber zu reden, wie das Konzert war, es sei denn, sie haben spezielle Fragen. Mäse hat keine Fragen. Ich sowieso nicht. Also stehen wir rum und knibbeln an den Etiketten unserer Getränke, zünden uns Zigaretten an und lassen die Blicke durch den nur noch schwach gefüllten Raum schweifen.

 

»Wusstest du, dass Hans jetzt auch hier wohnt?«

»Jaja, neulich noch getroffen.«

»Aber er ist nicht mehr mit Anita …?«

»Nee, lange nicht, lange nicht …«

Mein Gott, sonst wird man am Merch doch immer von irgendwem angesprochen, und wenns nur für ein Autogramm ist. Warum ausgerechnet jetzt nicht! Eine scheinbare Ewigkeit vergeht, bis ich mich traue zu sagen, dass ich mal kurz aufs Klo muss und wir dann bestimmt auch schon bald die Backline einladen. Ich atme innerlich auf, als er sagt, er müsse sich auch verabschieden – »Ich mach dann auch mal ’nen Sittich!« – schließlich müsse er morgen früh raus (gerade hat er noch erzählt, er würde in seinem neuem Job immer erst mittags anfangen) und habe eh schon zuviel getrunken (auf mich macht er einen ziemlich nüchternen Eindruck, damals auf der Fete, da war er wirklich betrunken!) und seine Freunde seien auch gerade gegangen (nach meiner Einschätzung stand er mindestens fünfzehn Minuten alleine am Merch rum).

Wir klopfen uns auf die Schulter: »War schön dich zu sehen.« Das ist sogar ernst gemeint, und doch bin ich so unendlich erleichtert, als wir uns den Rücken zukehren, er zum Ausgang, ich zum Klo. Pinkeln musste ich nämlich wirklich. Und wie.

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