Samuel, der Tod

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Kapitel Fünf

Das schwarze Kostüm bei Carven’s entpuppte sich als langweiliger Fetzen. Alice wollte bereits den Laden verlassen, als ihr ein Kleid auffiel, das etwas unordentlich an einer gesichtslosen Schaufensterpuppe hing. Es hatte kurze Ärmel und war ultraknapp. Beides ein Schnitt, der zurzeit in Paris nicht von Erfolg gekrönt ist. Alice allerdings gefiel das schlichte Kleidchen. Sie zog es dem stummen Mannequin über den Kopf und verzog sich in eine der unzähligen Umkleidekabinen. Es passte der jungen Frau wie auf den Leib geschneidert. Alice bezahlte für das bisschen Stoff, die unglaubliche Summe von 650 Euro, bedauerte es aber nur kurz und verließ mit einem Lächeln auf den Lippen das Geschäft.

Jetzt fehlten ihr zu dem raffinierten Kleid noch die passenden Schuhe. Sie betrat ein renommiertes Schuhgeschäft und suchte sich ein Paar Stiefeletten zum Schnüren und mit flachem Absatz aus. High Heels hätten bestimmt besser zu dem kurzen Kleidchen gepasst, doch Alice geht heute Abend zu keinem Date, sie will sich ihre Konkurrenz vom Hals schaffen, und da ist es wichtig, für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Das beinhaltete auch, in bestimmten Situationen einfach wegzulaufen, was mit hochhackigen Schuhen nur sehr schwer zu bewerkstelligen ist.

Nachdem sie auch die Schuhe bezahlt hat, trifft sie sich an der Metro Station Franklin D. Roosevelt mit einem ihrer ältesten Kunden.

Tomek ist ein Gestaltwandler und bereits von Anfang an ein zuverlässiger Abnehmer von Samento. Früher war er ein großer, starker Kerl, der die Menschen in allen Teilen der Erde jagte. Unerbittlich und grausam ging er dabei zu Werke.

Das ging solange, bis er auf die kleine Alice traf und dem höllischen S verfiel. Heute ist er nur noch ein billiger Abklatsch von einem Wandler. Er konzentriert sich nicht mehr auf Menschen, jagt und tötet nicht mehr. Er interessiert sich eigentlich nur noch für eine Sache: Woher er den nächsten Schuss Samento bekommt und womit er es bezahlen soll.

Alice mag vielleicht schwach aussehen, sie ist es aber nicht. In ihren Geschäftspraktiken ist sie unerbittlich, hart und nicht selten auch grausam. Sollte Tomek sein S nicht bezahlen können, so würde die kleine Werwölfin keine Sekunde zögern, ihm nichts zu verkaufen, völlig egal, wie er betteln und schreien würde. Ware nur gegen Geld, das ist ihr Motto. Sie weiß, dass sie sich damit nicht unbedingt Freunde unter den Anderswesen macht, doch es beschert ihr nicht nur den Ruf, eine gute und knallharte Geschäftsfrau zu sein, es füllt auch ihr Sparbuch. Und Geld ist das Einzige, das die kleine Schwarzhaarige interessiert.

Heute jedoch, möchte sie von Tomek keinen Cent für seine Portion Samento haben. Heute bittet sie vielmehr um seinen Schutz. Zuerst sträubt sich der Gestaltwandler gegen Alices Pläne, als sie ihm aber eine Wochenration höllisches S als Bezahlung in Aussicht stellt, willigt er gierig ein. Sieben Tage lang, nicht ständig auf der Jagd nach Euros zu sein, um seine Drogensucht zu finanzieren, ist für Tomek ein schier unvorstellbarer Traum.

Konzentriert hört er ihren Ausführungen zu, stellt nur hin und wieder eine Frage. Zum Schluss greift er sich rasch das hingehaltene, winzige Fläschchen Sanguinem Medicamento und verschwindet in Windeseile auf dem Herrenklo der Metro-Station.

Alice dreht sich angewidert um und hält nach einem Taxi Ausschau. Inständig hofft sie, dass Tomek in ein paar Stunden noch weiß, was er zu erledigen hat, nicht das er sich mit dem Schuss, den er sich gerade auf der Toilette setzt, sein letztes bisschen Verstand wegspritz. Aber dieses Risiko muss sie eingehen, wenn sie sich auf einen Junkie verlässt.

Als Alice endlich in ihrem Wunderland ankommt, ist es bereits später Nachmittag. Liam steht immer noch nachdenklich hinter der kleinen Verkaufstheke und starrt düster vor sich hin.

»Oh, du bist ja noch am Leben«, begrüßt das Mädchen den Vampir. »Damit hatte ich gar nicht gerechnet.« Sie grinst ihn unverschämt an.

Aber Liam reagiert nicht, er blickt weiter düster vor sich hin. Alice zuckt mit den Schultern, begibt sich durch eine Verbindungstür zum Treppenhaus, und geht in den ersten Stock, in ihre eigene kleine Wohnung.

Sie nimmt ein ausgiebiges Bad, setzt sich, nur in Unterwäsche und mit einem viel zu großen Shirt bekleidet, auf das Sofa und beginnt ihre Waffe zu reinigen. Die Werwölfin ist schon lange im Besitz einer Glock 19. Bisher hat sie die Pistole noch nicht gebraucht, aber sie ahnt, dass heute der Tag sein wird, an dem die kleine Handfeuerwaffe eine bessere Rückversicherung als eine Werwolfverwandlung sein wird. Alfons Martinez wird mit Sicherheit nicht alleine erscheinen, überlegt Alice, er wird seinen Schlägertrupp dabei haben. Das Mädchen schätzt, dass mindestens vier Mann den größten Drogendealer von Paris begleiten und auch beschützen werden.

Tomek ist nur ihr Ass im Ärmel und auch ihre Werwolfgestalt, wird sie lediglich im Notfall einsetzen. Sie traut sich zwar zu, mit fünf Kerlen gleichzeitig fertig zu werden, sollte jedoch nur einer von ihnen entkommen, um ihr Geheimnis in die Welt hinauszuposaunen, dann steht es nicht nur um sie, sondern auch um alle Anderswesen schlecht. Das einigermaßen friedliche Zusammenleben wäre mit einem Schlag vorbei. Die Menschen würde die Anderswesen jagen, sie töten, oder noch schlimmeres mit ihnen anstellen. Das darf einfach nicht geschehen.

Nachdem die Glock gereinigt und geladen ist, zieht sich Alice das neue Kleid und die Schuhe an. Ein paar Mal dreht sie sich zufrieden vor dem Spiegel hin und her.

Die Pistole verstaut sie in ihrer Handtasche und legt auch noch ein Ersatzmagazin dazu.

Alice geht zurück in ihr Geschäft, Liam steht noch in derselben Position da, den Kopf in die Hände gestützt, die Ellenbogen auf der Glasplatte.

Sie schiebt ihm einen kleinen Schlüssel über die Theke, zuerst sieht er auf den Gegenstand, dann in ihr Gesicht.

»Was soll das?«, fragt er scharf.

»Ich gehe heute Abend aus und du wirst den Laden hier alleine schmeißen. Sollte einer nach Samento fragen, wirst du es ihm verkaufen. Hundert pro Fläschchen und lass dich nicht erweichen. Nur Bares ist wahres. Okay?«

»Nein«, erwidert der Vampir empört. »Nichts ist okay. Das … das mache ich nicht. Ich unterstütze deine verdammten Drogengeschäfte nicht. Das habe ich dir schon vor langer Zeit gesagt.«

»Es ist doch nur für heute. Liam, bitte.« Alice sieht ihren Geschäftspartner flehend an. Er weicht ihrem Blick aus.

»Hör auf damit«, meint er ärgerlich. »Das ist furchtbar.«

Alice lächelt gewinnend, sieht sie doch, wie Liam nach dem Schlüssel greift und ihn eingehend betrachtet.

»Du lässt mich also ganz alleine deinen heiligen Laden führen?«, fragt er.

»Sicher«, antwortet sie und zieht sich eine kurze Jacke über die nackten Arme. »Ich vertraue dir. Wenn heute allerdings zu viel los ist, dann hol dir doch Josephine oder Éloise dazu. Die können dir helfen.«

Breit grinsend nickt der Vampir. Die Vorstellung, dass einer der beiden Mädchen ihm zur Hand gehen könnten, weckt in ihm eine ungeheure Gier.

Josephine und Éloise sind eineiige Zwillinge, beide blond, mit endlosen Beinen und einer Figur, die jedes Pariser Model zur Weißglut treibt, und vor Neid erblassen lässt. Und sie sind Vampire.

»Vielleicht frage ich auch beide«, sagt Liam und merkt nicht, dass vor Begierde und Verlangen seine Eckzähne zu spitzen Dolchen werden und in seinen Augen ein teuflisches Feuer wütet.

Alice ignoriert das alles, sie dreht sich um und meint nur:

»Ich wünsch dir viel Spaß. Warte nicht auf mich. Bis dann.«

»Ja, ja. Bis dann.« Liam ist völlig in seiner Vorstellung versunken, in der die Vampirzwillinge eine sehr pikante Rolle spielen.

*

Gerome wäscht sich an einem Brunnen, der mitten im Dorfkern von Cisai-Saint-Aubin steht, das Blut aus seinem Gesicht und von den Händen. Mit einem Taschentuch versucht er, auch seinen Mantel und das Hemd darunter zu reinigen. Doch die dicken Klumpen, die kleinen Fetzen Haut mit spärlichen Haaren daran, wollen sich nicht entfernen lassen. Nach ein paar Minuten gibt er auf, wirft das blutige Taschentuch ins Wasser und sieht zu, wie es langsam versinkt.

Gerome stützt sich am Brunnen ab, schüttelt den Kopf und denkt: Samuel also. Ich hatte jeden in Verdacht, nur ihn nicht. Dabei lag es so nahe, dass er der Verräter ist, nur habe ich es nicht gesehen. Der Sensenmann schlägt voller Wut auf den steinernen Rand. »Verdammt!«, flucht er laut. »Wieso ausgerechnet er?«

Der verzierte Wasserspeier gibt ihm keine Antwort, so verlässt Gerome den Dorfplatz und wendet sich in Richtung Le Bourg.

Kurz vor der A28 wird er einen Wagen anhalten müssen. Wenn der Fahrer Glück hat, wird er nur einen wortkargen Anhalter bis vor die Stadtgrenze von Paris mitnehmen. Wenn er Gerome allerdings reizt, und sei es nur mit einer völlig unverfänglichen Aussage, dann wird der Fahrer einen schrecklichen Tod finden – blutiger und grausamer, als es sein Schicksal je vorausahnen könnte.

*

So glücklich war Alice noch nie über ihre Schuhwahl, wie an diesem Abend. Sie rennt um ihr Leben, läuft wie eine Wildgewordene die Avenue d’léna hinunter, in Richtung Seine.

Fieberhaft überlegt sie, wo sie sich verstecken könnte, wie sie ihren Verfolgern entkommen kann.

Tomek war ihr keine große Hilfe, liegt der Gestaltwandler doch blutend und sterbend am Fuße der George Washington Statue.

Alice ahnte ja bereits, dass Martinez mit seinen vier Lakaien am Treffpunkt auftauchen wird, dass er aber auch noch Leute im Hintergrund platzierte, damit hatte die Werwölfin nicht gerechnet.

 

Also war Paris‘ größter Drogenboss auch nicht nur zu einem kleinen Plausch an ihrem Treffpunkt erschienen. Scheinbar hatte er, genauso wie Alice, vor, seinen schärfsten Konkurrenten aus dem Weg zu räumen.

Noch heute Mittag war Alice der Meinung, dass Martinez nur Heroin, Koks und Pillen an Menschen verkauft. Aber seit einer knappen Stunde weiß sie, dass es ihm irgendwie gelungen ist, ihr Samento nachzumachen. Zuerst dachte sie noch, dass es ein künstlich hergestelltes Zeug ist, aber als Alfons Martinez ihr seine wahre Gestalt offenbarte, da wusste sie plötzlich genau, dass es echt ist und was er von ihr wollte.

Eigentlich war es nicht verwunderlich, dass einer, der schon so lange die Drogenszene beherrschte, ein Vampir war. Das Alices Geschäftspraktiken bis zu ihm durchgedrungen sind, war dann auch keine Überraschung mehr. Nur woher Martinez das Blut eines Werwolfes nahm, war Alice völlig schleierhaft. Hatte sie selbst doch in ihrem ganzen Dasein noch keinen anderen Werwolf getroffen – sie galten als ausgerottet.

Noch bevor Martinez ganz am Ende seiner weitschweifigen Erzählungen und Erklärungen angekommen war, begannen seine versteckten Gorillas damit, das Feuer zu eröffnen. Allerdings nicht auf sie, sondern auf den armen Tomek, der, wie verabredet, sich mit seiner Uzi im Anschlag auf sie zubewegte. Leider verursachte er dabei so viel Lärm, wie eine Pferdeherde, die durch die Camargue prescht.

Alice erinnert sich noch an ihr Entsetzen, und das dieses Treffen einen Verlauf nahm, den sie so nicht geplant hatte.

Sechs Augenpaare verfolgten den sterbenden Tomek, der von unzähligen Kugeln getroffen wurde. Er schaffte es noch bis auf die Stufen der Statue, wo er röchelnd liegenblieb.

Dann schien die Hölle loszubrechen.

Die vier Lakaien zogen ihre Waffen aus den Schulterholstern, gleichzeitig holte Alice die Glock hervor. Für die Männer von Alfons, die im Hintergrund lauerten, stand die Werwolfin zu ungünstig, sie kamen nicht richtig zum Schuss, die Statue von George Washington war zwischen ihnen.

Alice kam dazu, zwei Schüsse abzugeben, bevor sie sich nach links wandte um hinter einem Kiosk Schutz zu suchen. Auch Martinez und seine Bodyguards suchten eine Deckung. Alice feuerte noch einmal, aber dann wurde ihr die Glock aus der Hand geschossen. Sie schrie auf, vor Überraschung, aber auch vor Schmerz. Kurz hielt sie sich die blutende Hand, dann rannte sie einfach los.

Ihr Herz hämmert wild, sie fühlt sich wie ein verfolgtes Kaninchen und ist einer Panik nahe. Dankbar über ihre Schuhwahl läuft sie die Avenue d’léna hinunter, überquert die Albert de Mun, und rennt, unter lautem Hupkonzert, die Avenue des Nations Unies weiter. Endlich tauchen die ersten großen Bäume auf, Alice schießt förmlich in den großen und weitläufigen Park hinein.

Hinter großen Büschen versucht sie wieder zu Atem zu kommen und hält nach ihren Verfolgern Ausschau. Sie braucht nicht lange zu warten, da erscheinen Martinez und seine vier Lakaien. Er schickt seine Männer in einem Abstand von fünf Metern durch den Park. Ganz so wie bei einer Treibjagd, die kleine Werwölfin hat nicht den Hauch einer Chance zu entkommen.

Geduckt läuft sie weiter, in Richtung Straße. Instinktiv hat sie das Gefühl, dass sie sicherer ist, wenn sie im Gewimmel der Autos und Menschen untertauchen kann.

Der Suchtrupp hat sie mit einem Mal tatsächlich überholt, ohne sie zu entdecken. Alice hebt den Kopf, die Kerle sind weiter vorne, am Anfang des Parks und rufen sich etwas zu. Sie kann keine genauen Worte verstehen, aber sie klingen wütend. Einer der Bodyguards dreht sich um, sieht genau in ihre Richtung. Alice duckt sich rasch und versteckt sich hinter einem Ilex Strauch.

Vorsichtig linst sie an dem Busch vorbei, sieht voller Erleichterung, dass der breite Kerl sie nicht entdeckt hat. Er setzt seine Suche nach ihr fort.

Alice entspannt sich ein wenig, überlegt, wie sie jetzt weiter vorgehen soll.

Mit einem Mal hört sie etwas.

»Hey, Psst«, ruft jemand hinter ihr.

Das Mädchen zuckt erschrocken zusammen. Sie haben mich erwischt, schreit es tief in ihr drin.

Voller Panik dreht sie sich um.

*

Charlie schlendert die Avenue Kléber entlang, die Hände tief in den Hosentaschen seiner Jeans vergraben, ist er auf dem Weg zur Seine. An ihrem Ufer möchte er sich auf eine Bank setzten, den Schiffen zusehen und einfach nur die Zeit verstreichen lassen. Der junge Mann ist zutiefst endtäuscht, verletzt und auch wütend. Er weiß nur nicht, ob auf sich selbst, oder auf das Mädchen, das ihn heute sitzenließ.

Nachdem Charlie in Windeseile geduscht, sich rasiert und angezogen hatte, verließ er die Wohnung. Nach ein paar Minuten merkte er, dass er seinen Anorak vergessen hatte. Aber seine Vorfreude, die Erwartungen und seine Angst, zu spät zu kommen, ließen ihm keine Zeit mehr, zurückzulaufen um sich eine warme Jacke zu holen. So hielt er in der Rue du Cháteau ein Taxi an und ließ sich zur Avenue des Champs Élysées ins Le Queen’s fahren.

Als er endlich dort ankam waren es immer noch zehn Minuten bis zum vereinbarten Termin, er war also pünktlich. Nur seine heiße Flamme kam einfach nicht. Es verging eine Stunde und noch eine. Als die dritte Stunde anbrach und Charlie sich an seinem vierten Glas Noilly Prat festhielt, hatte er einfach keine Lust mehr. Er war müde und frustriert. Er bezahlte und begab sich auf den Heimweg. Auf keinen Fall wollte er nochmal ein Taxi nehmen. Zuviel hatte ihn bereits dieses nicht zustande gekommene Date gekostet. Außerdem tat inzwischen der Wermut seine Wirkung. Er wärmt ihn nicht nur, er verleiht ihm auch einen etwas schiefen Gang, der an einen Matrosen auf hoher See erinnert. Er freut sich auf die Seine und die Beleuchtung, wobei der Eiffelturm wie eine hell glühende Kerze aus diesem Lichtermeer heraussticht. Er würde sich einen Moment auf eine Parkbank setzten, die knutschenden Pärchen versuchen zu ignorieren und nur das Licht, die Luft und die Tatsache, dass er am Leben ist, genießen.

Charlie überquert raschen Schrittes die Avenue de New York, atmet erleichtert aus, als er endlich auf dem Fußgängerweg am Ufer der Seine steht.

Was für ein herrliches Panoramabild, denkt er und starrt auf die Lichter und den beleuchteten Eiffelturm in einiger Entfernung. Selbst in diesem Moment, da Charlie verärgert und auch ein wenig deprimiert ist, kann er immer noch nicht nachvollziehen, wieso er vor zehn Jahren sich von La Tour Eiffel in den Tod stürzte. Er ist Samuel zu großem Dank verpflichtet. Verdankt er ihm nicht nur sein Leben, auch gehörten die letzten Jahre eindeutig zu den Besten seines bisherigen Daseins.

Der junge Mann fragt sich gerade, ob sein Kumpel wohl zu Hause sein wird, wenn er endlich dort ankommt. Er hätte große Lust, sich gemeinsam mit Samuel bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken, und über alte Zeiten zu reden, solange seine Zunge ein ordentliches Gespräch zulässt.

Schon überlegt Charlie, wo die nächste Metro Station ist, oder ob er sich doch ein Taxi gönnt. Er will jetzt so schnell es geht nach Hause, sich einen Whisky einschütten, die Beine in Richtung Kamin ausstrecken und nicht an den Kater denken, der ihn unweigerlich am nächsten Morgen quälen wird.

Er geht gerade an einem kleinen Park vorbei, der lediglich von der de New York her beleuchtet wird. Aus den Augenwinkeln sieht er eine Bewegung, nur ein Schatten, der so schnell wieder verschwindet, dass Charlie sich nicht sicher ist, ob er sich das nicht alles nur eingebildet hat. Dennoch blickt er genauer hin, tastet mit den Augen den dunklen Park ab. Tatsächlich sieht er einige Männer aufgeregt zwischen den Bäumen hin und her laufen. Charlie kann nicht verstehen, was sie einander zurufen, zu dröhnend ist der Lärm der Autos und Schiffe. Aber es kommt ihm so vor, als suchen die Gestalten etwas, oder auch jemanden.

Kurz bevor die Avenue de New York teilweise im Boden verschwindet, überquert er die Straße erneut. Die heiseren Rufe der Männer haben seine Aufmerksamkeit erregt.

Weiter vor sich sieht Charlie eine weitere dunkle Silhouette durch den Park huschen, sie nutzt scheinbar die Deckung der Büsche und Bäume aus. Charlie ist sich sicher, dass die kleine, schwarze Gestalt der Grund für die Unruhe ist. So unauffällig wie möglich, läuft er parallel zur Straße, am Park entlang, auf sein Ende zu.

Hinter einem buschig gewachsenen Ilex Strauch hat der Gejagte Schutz gesucht. Erst jetzt erkennt Charlie, dass es sich um eine junge Frau handelt, in einem enganliegenden, schwarzen Kleid, das ihre schmale Figur nur noch mehr zur Geltung bringt. Im gleichen Moment weiß der junge Mann auch wer das ist. Er wirft einen raschen Blick in den Park hinein, vergewissert sich, dass die Kerle weit genug weg sind.

»Hey, Psst«, ruft er in Alices Richtung. Das Mädchen dreht sich erschrocken um, fixiert ihn eine Lidschlaglänge, dann hat sie ihn scheinbar erkannt. Ein flüchtiges Lächeln huscht über ihr Gesicht.

»Kann ich dir helfen?« ruft Charlie gedämpft. Er wartet keine Antwort ab, sondern winkt ihr und setzt sich gleichzeitig in Bewegung. Vom Place de Varsovie her, biegt gerade ein Taxi in die Avenue de New York ein. Wie wild rudert Charlie mit den Armen durch die Luft, er will den silbernen Mercedes anhalten, auch wenn das auf der vielbefahrenen Avenue ein halsbrecherischer Vorgang ist. Zu seinem Glück ist der Taxifahrer geldgierig genug, er bremst sein Fahrzeug ab und hält trotz Hupkonzert neben Charlie an. Der reißt die hintere Tür auf und winkt ein weiteres Mal nach Alice. Das Mädchen gibt sich einen Ruck, löst sich aus ihrem sicheren Versteck und rennt geduckt zum wartenden Taxi.

Wie ein Gefängnisflüchtling springt sie auf den Rücksitz, rutscht beinahe in den Fußraum. Charlie ist sofort neben ihr, schlägt die Türe zu und raunzt den Fahrer mit herrischer Stimme an:

»Fahren Sie los! Schnell.«

Der Chauffeur gibt langsam Gas, fädelt sich wieder in den Verkehr ein. Er wirft einen Blick in den Rückspiegel.

»Wo solls denn hingehen?«

»Fahren Sie erst mal«, meint Charlie und beobachtet die Männer im Park, die immer noch aufgeregt hin und her hetzen.

»Zur Rue Denfert Rochereau, bitte.« Sagt Alice und schiebt sich zurück auf den Sitz.

»Welche?«, fragt der Fahrer. »In Saint-Denis?«

»Nein«, antwortet Alice, »in Boulogne-Billancourt.«

»In Ordnung«, sagt der Fahrer und konzentriert sich wieder auf den Straßenverkehr, der an einem Samstag und um diese Uhrzeit, immer noch ziemlich dicht ist.

Alice streicht sich die langen Haare zurück und lächelt Charlie an.

»Das war knapp«, meint sie leise und wirft ihm eine Kusshand zu. »Vielen, vielen Dank, du hast mich gerettet … Charles.«

Charlie hustet sich verlegen in die Faust.

»Nicht der Rede wert«, murmelt er. »Aber mein Name ist Charlie, nicht … Charles.«

Alice tippt sich mit einem Finger gegen die zierliche Nase.

»Ich hätte schwören können, als du seinerzeit in meinen Laden kamst, hast du gesagt, dein Name sei Charles. Aber …« Sie zuckt mit den Schultern. »Ich kann mich auch irren. Verzeih mir. Also, nochmals Danke schön, Charlie.«

Der junge Mann kann fühlen, wie ihm das Blut in den Kopf steigt.

Selbstverständlich hat die Kleine recht, Charlie hat sich damals tatsächlich als Charles vorgestellt.

Er war einfach der Meinung, dass sich dieser Name männlicher und nicht so sehr nach einem getigerten, fetten Hauskater anhören würde. Immerhin hat er damals heftig mit der schwarzhaarigen Ladenbesitzerin geflirtet. Wie schnell kann da ein verniedlichter Name alles kaputtmachen. Allerdings fehlt Charlie, wie vielen erfolglosen Lügnern, das gute Gedächtnis. Er hat schlichtweg vergessen, dass er damals einen etwas abgewandelten Vornamen benutze. Gleichzeitig freut er sich diebisch darüber, dass Alice ihn scheinbar nicht völlig vergessen hat, sie kann sich sogar noch an seinen Namen erinnern.

Grinsend lehnt er sich in die dicken Polster zurück und sucht fieberhaft nach einem geeigneten Gesprächsthema. Er möchte ihr imponieren, mit ihr flirten, sie packen und am liebsten nie wieder loslassen – jedenfalls nicht heute Nacht. Es interessiert ihn gar nicht so sehr, vor wem Alice geflohen ist, er ahnt, dass sie ihm darauf entweder gar keine Antwort geben wird, oder nur eine völlig nichtssagende. Charlie wirft einen Blick in ihre dunklen Augen. Plötzlich fällt ihm sein Gespräch mit Samuel ein, und das die Kleine einer von seinen ehemaligen Geliebten zum Verwechseln ähnlich sieht. Eine Sekunde hadert er noch mit sich, dann fasst er den Entschluss, dass das Wort ehemalig hier den Ausschlag gibt und stürzt sich in ein witziges Gespräch mit der kleinen Alice.

 

*

Gerome öffnet die Fahrertüre und zerrt den Leichnam aus dem Volvo.

Achtlos lässt er den Mann fallen, setzt sich hinter das Steuer und zieht die Türe zu. Mit einem Tuch, das er im Handschuhfach entdeckt, versucht er die Frontscheibe zu reinigen. Aber das Blut hinterlässt einen schmierigen Film. Erst als er einige alkoholgetränkte Einmaltücher benutzt, gelingt es Gerome, die Scheibe soweit zu säubern, dass er hindurchsehen kann. Er drückt den Fensterheber, wirft den blutdurchtränkten Lappen und die Feuchttücher aus dem Fenster. Sie landen genau auf dem toten Fahrer.

»Deine Mutter hat mich einen Dreck interessiert«, sagt Gerome leise. »Ich wollte nur nach Paris, und das möglichst schnell und leise. Du hättest besser dein Maul gehalten.«

Der Sensenmann hatte Glück, bereits auf der Le Choisel hielt ein Wagen neben ihm. Der Fahrer war bereit, ihn bis nach Paris mitzunehmen. Musste er doch, wie er Gerome sofort munter erzählte, in Paris nach seiner alten Mutter sehen, die erst letzten Monat einen schlimmen Herzinfarkt überlebt hatte. Sie fuhren gerade auf die A28 auf, als Geromes Geduld bereits sein Ende fand. Er wollte in Ruhe nachdenken, wie er seinen ehemals besten Freund findet und ihn vernichten kann. Mit Sicherheit wollte er nichts über eine alte Frau hören, welche munter im Bett lag, verbotener Weise Kekse aß und dabei versaute Witze riss.

Gerome deutete auf ein Parkplatzschild.

»Fahren Sie hier ab«, sagte er mürrisch. »Ich muss mal kurz austreten.«

»Aber sicher«, antwortete der Volvofahrer. Grinsend setzte er hinzu:

»Ich hoffe, Sie müssen nicht oft auf unserer Fahrt. Sonst kommen wir ja nie in Paris an. Oder haben Sie eine Blasenentzündung?«, fragend sah der Mann Gerome an. Ohne eine Antwort abzuwarten sprach er einfach weiter.

»Also meine Mutter hatte ja mal eine Blasenentzündung. Mein Gott, war das eine Schweinerei. Ich konnte sie gar nicht so oft auf den Topf setzten, wie die musste.« Er bestätigte den Blinker und fuhr auf den kleinen Parkplatz.

»Ich hätte ihr damals einfach eine Windel anziehen sollen.« Der Fahrer lenkte den Volvo in eine der Parklücken und hielt an. Er stellte die Automatik auf Parken.

Gerome drehte sich etwas in seinem Sitz.

»Aber stellen Sie sich vor«, redete der Mann unbeirrt weiter. »Meine Mutter wehrte sich wie verrückt gegen diese Babydinger. Da konnte ich nichts anderes machen, als ständig ihre Pisse wegz…«

Geromes Hand schoss vor und packte den Fahrer am Hals.

»Ich kann es nicht mehr hören«, rief er wütend.

Er presste seine Finger zusammen, der Mann gab ein heiseres Röcheln von sich. Seine Augen wurden größer, Entsetzen lag darin und die Erkenntnis, dass er jetzt sterben musste. Gerome spannte seine Muskeln an und drehte den Arm ein wenig.

Es gab ein knirschendes Geräusch, als der Kehlkopf des Mannes brach. Eine Blutfontäne schoss aus seinem Mund, traf die Frontscheibe, ergoss sich über das Lenkrad und die Armaturen. Der Sensenmann zog mit einem Ruck seine Hand zurück, Hautfetzen, der abgerissene Kehlkopf und ein großer Teil der Speiseröhre ragten aus seiner Faust. Der Kopf des Fahrers sank nach vorne, Blut strömte aus der enormen Wunde, wie aus einem aufgeschlitzten Gartenschlauch.

Gerome stieg aus und ließ die Überreste einfach fallen.

*

Samuel wartet, verborgen hinter dem Vorhang, mit einem Glas Whisky in der Hand, und starrt auf die Rue Denfert Rochereau und auf Alices Wunderland. Es ist kurz vor zehn in der Nacht, der Laden ist fast voll, die Gäste drängen und quetschen sich durch die Tür. Jedes Mal, wenn sich der Eingang öffnet, dringt bis zu Samuel, lautes Gejohle, Musikfetzen und eigenartiges Gekreische, hinauf.

Geduldig wartet der Tod, bis das Geschäft vor Anderswesen nur so überquillt. Er will heute Nacht so viele wie nur möglich von diesen Biestern erledigen. Wenn er auch bei den Menschen Erbarmen zeigt und manchen von ihnen einen Aufschub gewährt, mit den Anderswesen kennt er keine Gnade oder gar Mitleid. Sie zu töten, wird ihm ein persönliches Vergnügen bereiten.

Samuel stellt sein leeres Glas auf dem Tisch ab und zündet sich eine Zigarette an. Er überlegt kurz, ob er sich sofort verwandeln soll, oder erst im Laden seine wahre Gestalt zu erkennen gibt. Doch jemand könnte ihn die Straße überqueren sehen, das würde nur weiteren Ärger bedeuten, dieses Risiko will er nicht eingehen.

Die Bewahrung seines Geheimnisses ist ein verbranntes Hemd mehr oder weniger schon wert. Aber er lässt seine Sonnenbrille und die Lederjacke zurück.

Rasch geht er die Stufen hinunter, öffnet die Haustüre, überquert die Straße und betrachtet das Wunderland von außen. Samuel ist immer noch erstaunt darüber, dass er in all den Jahren, die er in der Rue Denfert Rochereau bereits wohnt, noch niemals bemerkt hat, was in diesem unscheinbaren Geschäft vor sich geht.

Wie konnte ich nur so blind sein, denkt er und stößt mit Schwung die Eingangstüre auf.

*

Alice hält sich eine Hand vor den Mund, versucht dahinter ein lautes Lachen zu dämpfen. Sie schenkt Charlie einen bewundernden Augenaufschlag, der ihm weiche Knie beschert. Der Junge ist froh, dass er im Taxi sitzt, denn diese Augen könnten ihn dazu veranlassen, sich irgendwo festhalten zu müssen, damit er nicht umkippt. Auf Charlies Gesicht erscheint ein breites Grinsen.

»Aber es ist die Wahrheit, Alice. Das hat die alte Geraldine wirklich gesagt.«

»Ich glaube dir ja, Charlie«, antwortet Alice immer noch kichernd. »Jedes Wort. Ich kenne das Klatschmaul. Über euch hat sie auch schon so einiges verlauten lassen.«

»Echt?« Charlie ist sichtlich erstaunt. »Was hat sie denn erzählt?«

Einen kurzen Augenblick zögert sie noch, dann aber berichtet sie dem Jungen die Gerüchte, die Madame Geraldine über ihn und den anderen, mit dem er zusammen wohnt, verbreitete.

Charlie lacht laut auf. Er ist belustigt aber gleichzeitig auch empört, darüber, dass jemand ihm zutraut auf Kerle zu stehen.

»Selbstverständlich habe ich keine Sekunde daran gedacht, dass an ihrer Quatscherei auch nur ein Körnchen Wahres dran ist«, meint Alice, sie blickt ihn fragend an. Es ist offensichtlich, dass sie nach einer ehrlichen Antwort lechzt.

Energisch schüttelt Charlie den Kopf.

»Ich steh total auf Mädchen und Samuel …«, Charlie runzelt flüchtig die Stirn, bevor er seinen Satz zögernd beendet: »Er natürlich auch.«

»Aha«, meint die Werwölfin. »Jetzt weiß ich sogar mehr, als die alte Geraldine. Bis jetzt schien noch niemand seinen Namen zu kennen. Du bist bekannter in der Denfert Rochereau als dein Kumpel. Er ist eher wie ein … hm.« Flüchtig denkt sie an Liam und wie er bei seinem Auftauchen panisch in den Laden floh.

»Na ja, wie ein Geist«, sie nickt mit ihrem Kopf. »Ja, genau. Wie eine Spukgestalt.«

Erneut lacht Charlie, aber es klingt schon unsicherer. Er ist sich nicht sicher, ob Samuel das gut oder schlecht finden wird, dass man ihn in der Straße für ein Gespenst hält. Zu gerne hätte er dem jungen Mädchen von Samuels wahrer Gestalt berichtet, aber im letzten Moment kann er sich noch zügeln. Alice ist zwar taff, aber die Tatsache, dass der leibhaftige Tod genau gegenüber wohnt, dürfte, nach Charlies Meinung, selbst das stärkste Mädchen aus den Strümpfen hauen. So lächelt er nur unverbindlich und meint dann:

»Ich kann dir versichern, weder er noch ich sind schwul. Wir wohnen nur zusammen, weil wir gute Freunde sind. Versuch mal in Paris eine gute und billige Wohnung zu bekommen, dann weißt du, was ich meine.«

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