Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel

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Kapitel 3


Jaz lief durch die Gänge hinüber zum Schultrakt und betrat ihr Klassenzimmer, in dem sich bisher nur David und Jessica eingefunden hatten. Beide sahen auf, als sie hereinkam.

»Hey, da bist du ja.« Jessica musterte sie. »Wie war es bei Master Carlton? Schickt er dich wirklich nach Newfield?«

Jaz nickte knapp und ließ sich neben sie auf einen Stuhl fallen. »Yep. Heute ist hier mein letzter Tag.«

»Shit.«

»Exakt.« Jaz stützte den Kopf in die Hände und rieb sich die Augen.

»Und was willst du dagegen machen?«

Missmutig hob Jaz die Schultern. »Ich kann nichts machen. Als Interne sagen sie dir >Spring!< und du darfst bestenfalls noch fragen: >Wie hoch?<. Das war hier doch schon immer so.«

»Das klingt jetzt aber ziemlich undankbar, Jaz«, rügte David sie. Er war kein schlechter Kerl, aber für seinen Oberlehrertonfall hätte Jaz ihm des Öfteren gerne den Hals umgedreht. »Die Akademie hat sehr viel für uns getan und sich all die Jahre gut um uns gekümmert. Wenn sie uns dann jetzt bitten –«

»Wenn du mir jetzt auch noch was davon erzählst, dass ich einen wertvollen Beitrag leisten soll, raub ich dir so viel Lebensenergie, dass du erst am Wochenende wieder aufwachst«, knurrte Jaz. »Klar?«

David strafte sie mit einem ungnädigen Blick. »Das würdest du nicht tun, weil es dir die doppelte Zeit, die ich flachliege, in der Arrestzelle einbringen würde.«

Jaz lachte böse auf. »Na, wenn sie mich morgen nach Newfield schicken wollen, können sie das schlecht machen. Hey, vielleicht hat die ganze Sache also doch was Gutes! Ich muss nie wieder in diese blöde Zelle und kann heute tun und lassen, was ich will.«

»Darauf würde ich nicht wetten. Und du hättest nur halb so oft in den Arrest gemusst, wenn du dich nicht ständig mit allen und jedem anlegen würdest«, gab David spitz zurück.

Jaz schnaubte.

Sicher wäre es oft besser, die Klappe zu halten. Ging aber nicht immer, weil die Alternative keine Lösung war.

»Das heißt, du fährst morgen mit nach Newfield und übernimmst dort den Unterricht an der Grundschule?«, fragte Jessica stirnrunzelnd. »Und nebenher machst du dein Abi?«

Jaz nickte seufzend. »Carlton registriert mich fürs Homeschooling, dann bekomme ich Leistungspläne und Unterrichtsmaterialien, die ich abends nach meinem Job und an den Wochenenden in vorgegebenen Zeitabschnitten durcharbeiten muss.«

»Wow.« Jessica verzog das Gesicht. »Klingt nicht so, als hättest du dann noch viel Freizeit.«

»Nein. Aber ich muss den Mist ja nur ein Jahr lang durchhalten. Im März werde ich achtzehn und wenn ich nächsten Sommer das Abi in der Tasche hab, kann ich machen, was ich will. Was glaubst du, wie schnell ich dann aus Newfield wieder weg bin?«

Jaz hoffte, das klang als Plan rebellisch genug nach ihr, sodass niemand Verdacht hegte, was sie wirklich vorhatte.

»Tz, tz, tz.« Hämisch grinsend schlenderte Blaine in den Raum. »Ich glaube nicht, dass Master Ambrose dein Plan gefallen wird, seine Farm nach nur einem Jahr schon wieder zu verlassen.«

Auch wenn Jaz noch keine Ahnung hatte, was ab heute Mittag aus ihr werden würde, die Aussicht, sich nie wieder mit Blaine abgeben zu müssen, machte einiges an Ängsten und Sorgen wett.

»Seine Farm?«, hakte sie sarkastisch nach. »Ich dachte, Newfield ist eine ach so tolle Gemeinschaft?«

»Trotzdem muss ja einer das Sagen haben. Genau wie hier in der Akademie.«

»Natürlich. Demokratie und Meinungsfreiheit haben sich schließlich in zig Gesellschaften als totaler Reinfall erwiesen.«

Blaine musterte sie scharf. »Mir gefällt dein Tonfall nicht.«

»Mir gefällt deine ganze Art nicht«, schoss Jaz zurück. »Aber, hey! Sieht ja so aus, als müssten wir beide schon sehr bald nicht mehr miteinander leben.«

Blaines Augen blitzten gefährlich. »Ich denke, dich sollte ganz schnell jemand schwängern. Ein Baby würde dich länger als nur ein Jahr in Newfield halten.«

Mit einem schmierigen Lächeln fasste er sich in den Schritt und Leroy und Asha, die wie zwei Schatten an Blaines Seite klebten, grinsten niederträchtig.

»Kann ich gerne für sorgen. Es wäre schließlich eine Ehre, den Sohn des zukünftigen Akademieleiters gebären zu dürfen. Ich hoffe, du weißt das Angebot wertzuschätzen.« Wieder funkelte es gefährlich in Blaines Augen.

Jaz wurde übel. »Danke, aber ich passe.«

»Ach ja? Wer sagt denn, dass ich dir eine Wahl lasse?« Feiner Silbernebel schoss aus Blaines Fingern und er schleuderte ihn ohne Vorwarnung in Jaz’ Richtung.

Die riss ihre Hände hoch und ließ ihren eigenen Silbernebel wie eine Peitschensehne Blaines zur Seite fegen.

»Rühr mich an und ich schwöre dir –«

»Guten Morgen, alle miteinander«, fiel Ms Green ihr ins Wort, als sie mit dem Läuten der Schulglocke das Klassenzimmer betrat. »Was ist hier los?«, verlangte sie sofort zu wissen, als sie die angespannte Haltung bemerkte, mit der Jaz und Blaine sich gegenüberstanden. Ein Rest von Silberdunst hing noch zwischen ihnen. »Klärt eure Meinungsverschiedenheiten während der Pausen und nicht in meinem Klassenzimmer. Jazlin, ich weiß, heute ist dein letzter Tag bei uns, und wir sind sehr stolz auf dich, dass du unsere Brüder und Schwestern in Newfield unterstützen wirst. Ich möchte dich daher nur ungern für deine letzten Stunden hier in der Akademie in die Arrestzelle sperren.«

Jaz presste so fest ihre Zähne aufeinander, dass ihre Kiefer schmerzten.

Klar, dass nur ihr Arrest angedroht wurde. Der Kronprinz war wie immer unantastbar. Voller Hass bohrte sie ihren Blick in Blaine, der jedoch nur süffisant lächelte.

Sie spürte ihre Energie in ihren Händen kribbeln.

Am liebsten hätte sie …

Doch sie musste sich zusammenreißen.

Durfte jetzt nicht die Kontrolle verlieren.

»Das möchte ich auch nicht, Ms Green«, quetschte sie deshalb mit so viel Demut wie sie zustande brachte hervor.

»Gut, dann setzt euch. Ich will mit dem Unterricht beginnen.«

»Eigentlich hatten Jaz und ich etwas ganz anderes vor«, unterbrach Blaine das Vorhaben seiner Lehrerin. »Ich habe ihr angeboten, meinen Nachwuchs zu gebären.«

Stirnrunzelnd wandte Ms Green sich um. »Ausgerechnet ihr zwei? Es gibt doch kaum einen Tag, an dem ihr nicht aneinandergeratet.«

Blaine hob die Schultern. »Das stimmt. Aber für das gesunde Wachstum unserer Gemeinschaft muss man eben Opfer bringen«, seufzte er schicksalsergeben. »Jaz und ich, wir können einander zwar nicht besonders gut leiden, aber ich erkenne die Macht ihrer Kräfte und Fähigkeiten an. Die gepaart mit meinen eigenen – das Potenzial, das unser Nachwuchs mit sich bringen würde, wäre unschätzbar wertvoll.«

Ein unschuldiges Lächeln umspielte seine Lippen, als er wieder zu Jaz blickte.

Sie hätte ihm am liebsten vor die Füße gekotzt.

»Das ist in der Tat eine gute Überlegung. Und ein sehr großzügiges Angebot.« Ms Green blickte von ihm zu Jaz. »Wenn du es annehmen möchtest, stelle ich euch beide bis zum Mittagessen frei.«

Schon zum zweiten Mal an diesem Vormittag musste Jaz ihre Fingernägel fest in ihre Handflächen bohren, um nicht vor Wut zu schreien.

Verdammt, sie musste ruhig bleiben und einen kühlen Kopf bewahren. Wenn sie jetzt die Beherrschung verlor, war es vorbei und sie konnte ihren Fluchtplan vergessen. Also zwang sie sich zu einem kühlen Lächeln, anstatt Blaine mit ihren Kräften zu durchbohren und ihm seine komplette Lebensenergie zu rauben.

»Danke für das Angebot. Ich möchte mich zunächst allerdings erst mal ganz auf meine neuen Aufgaben in Newfield konzentrieren. Aber vielleicht komme ich in ein paar Jahren darauf zurück.«

Ms Green nickte knapp. »Das ist natürlich nachvollziehbar.« Sie schritt zu ihrem Pult. »Dann setzt euch jetzt.«

Jaz tat, wie ihr geheißen, und ignorierte Blaine. Um sich nicht von ihm provozieren zu lassen, kramte sie zur Ablenkung ihr Buch aus der Schultasche und tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie den Mistkerl nur noch bis zum Mittagessen ertragen musste – und danach nie wieder.

»Schlagt eure Bücher auf Seite 53 auf. Wir beginnen heute mit einem Sonett. Wer kann mir die typischen Merkmale dieser Gedichtform nennen?«

Kapitel 4


Jaz dankte allen guten Sternen, als die Glocke zur Mittagspause läutete. Ms Green entließ die anderen in den Speisesaal, Jaz dagegen hielt sie zurück, um ihr einen Schnellhefter mit ihren Leistungsplänen sowie eine Lektüreliste für die nächsten Wochen zu geben und beides kurz mit ihr durchzusprechen.

»Bis gleich! Wir warten im Speisesaal auf dich.« Jessica verzog mitleidig das Gesicht, als sie zusammen mit David das Klassenzimmer verließ.

Doch Jaz kam es eigentlich ganz gelegen, dass Ms Green sie aufhielt. So würden die anderen vielleicht erst in einer Stunde misstrauisch werden, wenn Jaz nicht zum Nachmittagsunterricht erschien. Sie hoffte nur, dass Ms Green sie nicht wirklich so lange zutextete.

Tatsächlich dauerte das gesamte Gespräch dann nicht länger als fünf Minuten, da Ms Green wegen einer Besprechung ins Lehrerzimmer musste. Erleichtert darüber, endlich wegzukönnen, wandte Jaz sich Richtung Speisesaal.

 

Die Gänge waren leer. Alle Schüler befanden sich mittlerweile beim Essen und der Duft von Sheppard’s Pie hing in der Luft. Jaz fand vieles in der Akademie ziemlich übel – das Essen zählte allerdings nicht dazu. Glenda und Rosie waren tolle Köchinnen und liebe Menschen. Nur wer in der Akademie Dienste leistete, bekam Taschengeld, und Jaz hatte sich ihres bei den beiden in der Küche immer gerne verdient.

Sie ließ den Gang zum Speisesaal links liegen und bog in den Korridor ab, der zur Bibliothek führte. Die alte Eichentür knarzte, als sie sie aufzog. Ähnlich wie der Versammlungssaal war auch die Bibliothek mit dunklem Holz vertäfelt. Mannshohe Regale standen an den Wänden und in Reihen in den Raum hinein und es roch nach Büchern und Papier. Vor den großen Fenstern reihten sich Lesetische nebeneinander und direkt am Eingang befand sich ein kleiner abgetrennter Bereich, der als Ausleihe diente.

Der Raum war leer. Es gab keine Angestellten, die sich um die Organisation kümmerten. Die oblag den Schülerinnen und Schülern der zehnten Klasse der Akademie. Jaz hatte diese Arbeit vor zwei Jahren sehr gemocht, auch wenn sie komplett an ihr, Jessica und David hängen geblieben war. Kronprinz Blaine und seine Lakaien sahen es grundsätzlich unter ihrer Würde, Pflichten in der Akademie zu übernehmen. Das schien auch für alle okay zu sein – außer für Jaz. Sie hasste dieses Standesdenken.

Am äußersten Ende der Bibliothek lag halb verborgen hinter einem Regal mit längst überholten Naturwissenschaftsbüchern eine Tür, die in ein kleines separates Studierzimmer führte. Jaz hatte keine Ahnung, ob außer ihr jemals irgendjemand dieses Zimmer genutzt hatte. Die meisten setzten sich an die Fenster im Lesesaal, nahmen die Bücher mit in die Klassenräume oder auf ihre Zimmer. Jaz hatte das kleine Studierzimmer daher oft als eine Art Geheimversteck benutzt, wenn sie allein sein wollte, aber nicht aus der Akademie herauskam, weil es zu dunkel oder neblig war oder es wie aus Eimern geschüttet hatte.

Sie zwängte sich an einem Regal mit Geschichtsbüchern vorbei, als ihr Blick auf den kleinen silbernen Briefbeschwerer fiel, der auf einem der Tische in der Ausleihe lag. Er war geformt wie eine Walnusshälfte und ein Stapel Zettel lag darunter. Ausleihnotizen, die von der neuen zehnten Klasse noch in den Computer eingearbeitet werden mussten.

Während ihrer Bibliotheksdienste hatte Jaz den Briefbeschwerer etliche Male in der Hand gehabt. Für seine recht überschaubare Größe war er ziemlich schwer, und er war auf der Unterseite gestempelt, also musste das Silber echt sein. Da man als Totenbändiger nicht auf Silber zum Schutz vor Geistern und Wiedergängern angewiesen war, spielte das Material für sie keine besonders große Rolle.

Für unbegabte Menschen aber schon.

Bei einem Pfandleiher ließ sich für die kleine Walnusshälfte daher bestimmt ein bisschen was bekommen.

Jaz steckte den Briefbeschwerer ein.

Stehlen war nicht okay. Aber sie gegen ihren Willen nach Newfield zu verfrachten auch nicht, daher entschied sie, dass das hier eine dieser berühmten Grauzonen war, mit denen man eben leben musste.

Sie eilte weiter. Das Studierzimmer war nicht abgeschlossen. Rasch schlüpfte sie in den kleinen Raum und zog die Tür hinter sich zu. In alten Regalen stapelten sich aussortierte Bücher, in einer der Ecken standen zwei Lesesessel mit verschlissenen Polstern, in einer anderen lagen eingerollte Landkarten, die selbst vor dem letzten Jahrtausendwechsel schon lange nicht mehr aktuell gewesen waren. Vor dem Fenster stand ein altes Schreibtischungetüm und an der Wand daneben stapelten sich ungenutzte Stühle. Das Studierzimmer war eher eine Rumpelkammer, was wohl erklärte, warum niemand es benutzte.

Jaz hatte es hier trotzdem immer gemocht. Und die Lesesessel waren echt bequem. Doch in denen würde sie nie wieder sitzen.

Sie kletterte auf den Schreibtisch und öffnete das Fenster. Wildes Buschwerk, das bis an die Fensterbank heran wucherte, empfing sie. Die Nordseite der Akademie grenzte direkt an den Wald des Richmond Parks und bis zur Grundstücksmauer waren es keine zehn Meter. Da lohnte sich Gartenpflege nicht und alles durfte so wachsen, wie es wollte. Jaz sprang aus dem Fenster und zog es so gut sie konnte hinter sich zu. Dann zwängte sie sich durch die Sträucher an der Hauswand entlang. Ihr Zimmer lag gute zwanzig Meter entfernt.

Es dauerte nicht lange, bis sie Boots und Rucksack gefunden und in Windeseile die Schuluniform gegen ihre eigenen Klamotten getauscht hatte. Wenn sie sich quer durch den Wald zur Hauptstraße durchschlagen wollte, ging das nicht in Rock und Ballerinas. Außerdem war die Uniform viel zu auffällig.

Sie versteckte Rock, Blazer und Bluse unter den Sträuchern, packte einen Collegeblock, ihr Federmäppchen und das bisschen, was sie an Proviant in ihrem Zimmer gehabt hatte, von ihrer Schultasche in ihren Rucksack und legte die Tasche mit zur Uniform.

Bloß keinen unnützen Kram mitschleppen.

Vorsichtig blickte sie zu den Fenstern.

Niemand war zu sehen.

Das Mittagessen dauerte noch an und die meisten hielten sich mit Sicherheit gerade im Speisesaal auf.

Jaz wandte sich um.

Jenseits der Sträucher ragte die Grundstücksmauer in die Höhe. Gute drei Meter hoch. Plus Eisenstreben auf ihrer Spitze.

Zu hoch zum Drüberklettern.

Aber es gab ein altes Eisentor, das in den Wald führte. Vor Ewigkeiten hatte es dazu gedient, Feuerholz und erlegtes Wild aufs Grundstück zu bringen, ohne dass man sich erst mühsam und zeitaufwendig um das halbe Anwesen herum zum Haupttor begeben musste. Mittlerweile wurde das Tor nicht mehr genutzt und der Weg, der einmal hingeführt hatte, existierte schon lange nicht mehr.

Bemüht, keine zu offensichtlichen Spuren zu hinterlassen, schob Jaz sich durchs Gestrüpp hin zur Mauer und folgte ihr, bis sie das Tor erreichte. Es bot erfreulich viele Schnörkel, die das Drüberklettern leicht machten. Leider war es aber auch ziemlich rostig. Zwei der Verzierungen brachen unter ihren Füßen ab. Doch Jaz war sportlich und schaffte es trotzdem auf die andere Seite. Sie sprang auf den Waldboden und schaute zurück zum Haus.

Nichts regte sich.

Ihr Herz klopfte freudig gegen ihre Rippen.

Geschafft!

Zumindest die erste, enorm wichtige Etappe.

Als Nächstes musste sie so viel Abstand wie nur irgendwie möglich zwischen sich und die Akademie bringen – und dabei überlegen, wie zum Teufel es jetzt weitergehen sollte.

Sie warf einen letzten Blick auf das Anwesen, dann wandte sie sich um und schlug sich in den Wald, fest entschlossen, niemals wieder hierher zurückzukommen.

Kapitel 5


Das Glück blieb auf ihrer Seite. Als sie die Roehampton Lane erreichte, erwischte sie knapp noch einen der Busse, die zur Putney High Street fuhren. Dort stieg sie am Bahnhof aus und musste nur ein paar Minuten auf eine Bahn der South Western Railway Line warten, die sie zur Clapham Junction brachte. Hier gab es rund um den Bahnhof eine bunte Mischung aus Geschäften, Restaurants, Bars – und ein Internetcafé.

Jaz bezahlte für eine Stunde und nahm dankbar den Becher Kaffee an, den es gratis dazu gab. Sie verkrümelte sich in eine ruhige Ecke vor einen der Monitore und suchte nach Pfandleihern und Juwelieren, die Silber ankauften. Mit einem Smartphone wäre die Sache einfacher gewesen, doch von solchen Luxusgütern konnten die Internen der Akademie nur träumen. Sie bekamen von der Schule Laptops für den Unterricht, die sie auch privat nutzen durften, das war alles. Wer ein Handy haben wollte, musste es sich mit seinen Verdiensten zusammensparen. Sarah hatte Jessica letztes Jahr ihr altes Smartphone zu einem äußerst fairen Preis abgekauft.

Jaz dagegen hatte nur selten den Wunsch nach einem Handy verspürt. Den Großteil des Tages verbrachte sie in der Akademie bei Unterricht, Training oder Pflichten, und außerhalb der Akademie kannte sie niemandem, deshalb interessierten sie soziale Netzwerke nicht. Und wenn sie an den Wochenenden durch London streifte, war sie froh, dass niemand aus der Akademie sie erreichen konnte. Diese Zeit gehörte ihr ganz alleine.

Natürlich wäre es da manchmal praktisch gewesen, sich Adressen oder Wege auf einem Smartphone anzeigen zu lassen. Aber sie besaß ein London A – Z, das funktionierte auch prima.

Ihre Internetsuche zeigte ihr etliche Pfandleiher in den sozial schwächeren Stadtteilen und zig Juweliere in den Nobelvierteln. Jaz nippte an ihrem Kaffee und überlegte, welche Strategie die bessere war.

Laut Internet verlangten Pfandleiher einen Besitzernachweis und man musste sich ausweisen, wenn man einen Gegenstand beleihen oder verkaufen wollte. Damit sollte vermieden werden, dass Diebesgut zu Geld gemacht werden konnte. Die Frage war allerdings, wie sehr Pfandleiher auf diese Regel achteten. Jaz konnte sich gut vorstellen, dass man in dem ein oder anderen Viertel drüber hinwegsah. Solange ein Kauf nicht zu offensichtlich Ärger bedeuten würde, war den meisten Händlern dort sicher egal, woher die angebotene Ware stammte. Allerdings würden sie sicher versuchen, den Preis entsprechend zu drücken.

Juweliere zahlten vermutlich mehr. Die Reichen und Schönen ließen sich Schutzamulette und Silberschmuck einiges kosten. Doch ob angesehene Juweliere ein Geschäft mit einer Totenbändigerin machen würden, die einen Gegenstand ohne Nachweispapiere anbot, war mehr als fraglich. Um keine ungewollte Aufmerksamkeit zu erregen, waren die Pfandleiher daher wahrscheinlich die bessere Wahl.

Jaz trank noch einen Schluck Kaffee, dann holte sie Block und Stift aus ihrem Rucksack und schrieb sich einige Adressen auf. Sie hätte sich auch eine Liste erstellen und ausdrucken lassen können, doch das hätte extra gekostet und sie musste ihr Geld zusammenhalten.

Kurz vor Ablauf ihrer bezahlten Stunde hatte sie dreiundzwanzig Adressen zusammen, verteilt über halb London. Zum Glück hatte sie ein Monatsticket, das würde das Abklappern leichter machen.

Sie checkte noch schnell den aktuellen Silberpreis, um sich nicht übers Ohr hauen zu lassen, dann löschte sie ihren Browserverlauf und verließ das Café. Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite lag der Clapham Junction Superstore, ein mehrgeschossiges Kaufhaus. Jaz folgte den Hinweisschildern in die Küchenwarenabteilung und tat so, als würde sie sich für die Waagen interessieren. Zum Glück war hier wenig los und die einzige Verkäuferin beriet eine ältere Kundin bei den Mixern.

Unauffällig zog Jaz den kleinen Briefbeschwerer aus ihrer Jackentasche und legte ihn auf eine Digitalwaage.

122,7g.

Rasch ließ Jaz die Walnusshälfte wieder verschwinden und überschlug im Kopf, was der Briefbeschwerer laut Silberpreis wert war, während sie zurück zum Ausgang schlenderte.

Ungefähr fünfhundert Pfund.

Nicht schlecht.

Auch wenn sie die mit Sicherheit niemals bekommen würde.

Nicht ohne Nachweispapiere.

Und nicht als jugendliche Totenbändigerin, bei der jeder sofort davon ausgehen würde, dass der Briefbeschwerer gestohlen war. Was ja nun mal leider auch stimmte.

Jaz verließ den Superstore und wandte sich nach rechts. Drei Querstraßen weiter sollte sich laut Internet ein Pfandleiher befinden. Sie lief an einem Postamt, einem Restaurant und einer Fastfoodbude vorbei und merkte, wie ihr Magen knurrte, weil das Mittagessen für sie ausgefallen war. Doch sie widerstand den verführerischen Düften.

Jetzt gab es erst mal Wichtigeres.

Clapham Pawn Shop stand in roten Buchstaben über den Schaufenstern eines Eckladens, in denen Computer- und Videospiele, ein paar Bücher, verschiedene Elektrogeräte und ein Kinderfahrrad ausgestellt waren. Eine Glocke ertönte, als Jaz die Tür aufschob und eintrat.

Im Inneren des Ladens herrschte ein ähnliches Sammelsurium wie in seinen Schaufenstern. In Regalen reihten sich Computer, Fernseher und andere elektronische Geräte aneinander, in anderen fanden sich Musikinstrumente, Hanteln und Inlineskates. Außerdem gab es jede Menge Schaukästen mit Armbanduhren, Schmuck, Kameras, Handys und tragbaren Spielekonsolen.

Ein Mann um die fünfzig mit dickem Bauch und wenig Haaren erschien in einem Durchgang, der vermutlich zum Lager der Pfandleihe führte. Er lächelte Jaz entgegen, doch die Freundlichkeit gefror recht schnell auf seinem Gesicht, als sein Blick auf die schwarzen Linien an ihrer Schläfe fiel.

 

Einen Moment lang musterte er sie abschätzend, dann fragte er knapp: »Kann ich dir helfen?«

Es war offensichtlich, dass er ihr schon jetzt misstraute und das war kein guter Einstieg. Trotzdem versuchte Jaz ihr Glück und setzte ihr freundlichstes Lächeln auf, in der Hoffnung, damit völlig harmlos rüberzukommen.

»Kaufen Sie Silber an? Meine Granny hat einen alten Briefbeschwerer, den sie gerne verkaufen würde.«

Argwöhnisch runzelte der Mann die Stirn. »Und warum kommt deine Großmutter dann nicht selbst her?«

»Sie ist nicht mehr so gut zu Fuß und hat mich gebeten, mich ein bisschen für sie umzuhören und ein paar Angebote einzuholen.«

Überzeugend lügen zu können und sich in Windeseile Ausreden einfallen zu lassen, hatte die Akademie ihr beigebracht. Zwar unbeabsichtigt und außerhalb des Lehrplans, aber dafür ziemlich effektiv.

»Dann lass mal sehen.«

Jaz zog die Walnusshälfte aus ihrer Jackentasche und legte sie vor ihn auf den Tresen.

Der Händler nahm sie an sich, wog sie kurz in der Hand und holte dann eine Lupe unter der Theke hervor, um Feingehaltzahl und Stempel besser lesen zu können. Laut der Angaben handelte es sich um 925 Sterlingsilber und der Stempel zeigte das Siegel von Santeglow, einer der drei großen Silbermanufakturen Englands. An der Art und Weise wie der Händler das Stück betrachtete, merkte Jaz, dass er wusste, wie wertvoll es war.

»Hast du einen Besitzernachweis?«

Klar, dass das hatte kommen müssen.

Bedauernd schüttelte Jaz den Kopf. »Leider nicht. Granny hat das Ding vor ein paar Jahren geerbt, als ihre Schwester gestorben ist, und die hatte es wohl schon ewig. Einen Besitzernachweis hat Granny nie bekommen. Was denken Sie denn, was es wert sein könnte?«, schob sie als Frage unschuldig hinterher, um glaubhaft bei ihrer Geschichte zu bleiben, dass sie Angebote einholen wollte.

»Ohne Besitzernachweis ist es für mich leider gar nichts wert.« Der Mann legte den Briefbeschwerer auf den Tresen und zog seine Hand schnell zurück.

Bloß keine Berührung mit einer Totenbändigerin riskieren.

Jaz seufzte innerlich und steckte den Briefbeschwerer wieder ein. »Und mit Besitzernachweis? Was würden Sie da zahlen?«

Er hob die Schultern. »Dreihundertfünfzig? Vielleicht auch vierhundert? Ich müsste ihn wiegen und den aktuellen Silberpreis nachsehen. Aber ich kaufe nichts ohne Belege, tut mir leid. Vielleicht hast du woanders Glück.«

Er sah zur Tür und es war offensichtlich, dass er Jaz loswerden wollte. Die tat ihm den Gefallen und trat den Rückzug an. Auch wenn er unübersehbar Vorbehalte gegen Totenbändiger hatte, schien er zumindest ehrlich zu sein und führte ein seriöses Geschäft.

»Danke für die Auskunft. Einen schönen Tag noch.«

Sie verließ den Laden und wandte sich nach Osten. Auf der Clapham High Street sollte es laut Internet einen weiteren Pfandleiher geben. Und von dort war es nicht weit bis Stockwell und Brixton, zwei der sozial schwächeren Viertel, in denen sich ebenfalls Läden befanden, die sie abklappern konnte.

Wieder stiegen ihr verführerische Düfte in die Nase, als sie an Cafés und Schnellrestaurants vorbeiging. Mittlerweile war es kurz nach drei und ihr Magen protestierte wegen des ausgefallenen Mittagessens. Jaz gönnte ihm einen Schokoriegel, auch wenn ihr eine Pizza von dem Italiener, an dem sie gerade vorbeiging, jetzt deutlich lieber gewesen wäre. Aber die war nicht drin. Erst, wenn sie die Nuss verkauft hatte.

Sie lief weiter und versuchte sich vorzustellen, dass der Schokoriegel nach Schinken, Salami und Käse schmeckte, doch das war irgendwie eklig, deswegen ließ sie es schnell wieder sein.

Ob man schon nach ihr suchte?

Der Nachmittagsunterricht, zu dem sie hätte auftauchen müssen, hatte längst begonnen. Ihr Verschwinden war also mit Sicherheit inzwischen aufgefallen.

Doch wie intensiv würde man nach ihr suchen?

Auf dem Gelände der Akademie sicherlich, aber auch darüber hinaus? War sie die Mühe wirklich wert? Oder würde man sie einfach abschreiben?

Jaz konnte sich nur an ein einziges Mal erinnern, dass jemand aus der Akademie weggelaufen war. Ein Pärchen aus der Oberstufe als Jaz ungefähr zehn gewesen war.

Hatte man die beiden damals lange gesucht?

Sie konnte sich nicht erinnern. Sie wusste nur noch, dass sie traurig gewesen war, als Stella und Leslie plötzlich weg gewesen waren. Die beiden hatten sich oft um die jüngeren Kinder in der Akademie gekümmert. Zurückgekommen waren sie nie.

Weil sie clever entkommen waren oder weil man sie nicht wirklich intensiv gesucht hatte?

Die Vorstellung, dass man sie einfach in Ruhe ließ, war traumhaft. Auch ohne dass Master Carlton ihr ein Suchkommando hinterherschickte, um sie nach Newfield bringen zu lassen, gab es schon mehr als genug Dinge, um die sie sich Sorgen machen musste.

Zum Beispiel, wo sie heute die Nacht verbringen wollte, ohne von Geistern getötet zu werden.

Noch blieben ihr bis dahin aber ein paar Stunden Zeit.

Und vielleicht hatte sie ja bei einem der Pfandleiher, die noch auf ihrer Liste standen, mehr Glück.