Über uns die Sterne, zwischen uns die Liebe

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Kapitel Zwei



Patrick Carney





Hadley Cove war eine kleine, bodenständige Stadt am südwestlichsten Ende von Kangaroo Island, Südaustralien. Entlegen und schroff. Der Wind aus der Antarktis war selbst an guten Tagen stürmisch. An schlechten konnte er einen in zwei Hälften schneiden. Es waren diese Winde, die die Küstenlinie geformt und im Verlauf von Äonen aus dem Felsen geschnitten hatten, sodass der größte Teil der Küste in diesem Bereich der Insel so gut wie unzugänglich war.



Die Insel selbst maß nur hundertfünfzig Kilometer von Osten nach Westen und kaum sechzig von Norden nach Süden. Die Fähre von Adelaide zur Ostseite der Insel war fünfundvierzig Minuten unterwegs, die Fahrt nach Hadley dauerte dann noch einmal knapp zwei Stunden. Touristen nahmen selten diesen Weg, sondern zogen die Ost- oder Nordküste mit ihren herrlichen Stränden und idyllischen Städtchen vor, die dank des Tourismus florierten. Und so gefiel es uns.



Mit einer Bevölkerung von dreiundsechzig Einwohnern überlebte Hadley – wie wir es nannten – gerade mal, von Aufblühen konnte nicht die Rede sein. Doch die Einheimischen, die die Einsamkeit suchten und ihre Privatsphäre genossen, hielten es am Leben. Die meisten waren in Rente, Pensionäre oder selbstständig. Einige arbeiteten oder gingen im dreißig Kilometer entfernten Vivonne Bay zur Schule.



In Hadley brüstete man sich damit, einen kleinen Laden zu besitzen, der sowohl als Postamt als auch als Schnapsladen fungierte, einen Imbiss, in dem es ziemlich gute Fish and Chips gab, eine Tagesmutter, die auch als Friseurin arbeitete, einen abgehalfterten Campingplatz und eine mit einem Mann besetzte Polizeiwache.



Oh, und einen Leuchtturm.



Um den ich mich kümmerte.



Der Leuchtturm von Hadley Cove stand seit 1821 stolz auf seinem Platz und war 1981 auf elektrischen Betrieb umgestellt worden. Einhundertsechzig Jahre lang hatte es einen Leuchtturmwärter gegeben. Er hatte dafür gesorgt, dass es die Schiffe sicher durch die Great Australian Bight schafften, eine Bucht, die berüchtigt dafür war, aus mehr Felsen als Wasser zu bestehen. Doch nun gab es nur noch mich. Jemanden, der den Leuchtturm erhielt, sicherstellte, dass alles richtig funktionierte, sich um das umliegende Gelände kümmerte und ab und zu den Fremdenführer gab, sollte jemand lange genug bleiben, um darum zu bitten.



Die meisten Leute stiegen nach oben, drehten eine Runde, sahen hinaus aufs Meer, machten Fotos und verschwanden wieder. Für Touristen war Hadley nur ein Boxenstopp.



Was der Grund war, warum ein Fremder in der Stadt nicht unbemerkt blieb.



Ich war auf meinem Montagmorgenspaziergang zum Laden, um meine Post zu holen und eine Zeitung zu kaufen, als ich die ansässige Postbeamtin, Ladenbesitzerin und Ausnahme-Barista im leisen Gespräch mit Collin vorfand. Oder Sergeant O'Hare, wie er sonst bekannt war.



»Guten Morgen, Patrick«, begrüßte Penny mich strahlend. »Wie war dein Wochenende?«



»Gut so weit«, antwortete ich lächelnd. Ich mochte Penny. Eine mollige Frau in ihren Fünfzigern mit kurzem, grauem Haar und einem Hang zum Plaudern.



Collin nickte mir zu. »Patrick.«



»Collin.« Ich schielte in die Richtung, in die sie blickten, oder viel mehr zu demjenigen, den sie ansahen. Draußen war die Silhouette eines Mannes in Jeans und einem blauen Parka zu erkennen. Er hatte die Kapuze aufgesetzt und lehnte am Geländer, von dem aus man aufs Meer schauen konnte. Es war windig und kalt; wenig überraschend, da es Winter war. Selbst im Spätwinter war es hier immer noch kalt. Der Mann hielt mit beiden Händen einen Kaffeebecher und nippte daran.



Ich musste gar nicht erst nachfragen, da Penny mich schnell ins Bild setzte. »Ein junger Kerl. Ist am Samstag in die Stadt gekommen. Ist auf dem Campingplatz untergekommen und sucht Arbeit.«



Ich runzelte nachdenklich die Stirn. »Falls er in den Wohnwagen nicht zuerst erfriert.«



Penny nickte ernst. »Scheint ein netter, junger Kerl zu sein.«



Collin seufzte. »Sollte ihn wohl fragen, wie lange er bleiben will.«



Ich widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. Jemanden zu fragen, wie lange er bleiben wollte, war im Normalfall eine Aufforderung, weiterzuziehen. »Wie heißt er?«



Penny zuckte die Schultern. »Hab nicht daran gedacht zu fragen.«



»Vielleicht ist er ja Handwerker oder so«, bemerkte ich. »Gott weiß, dass wir einen Elektriker oder Klempner brauchen könnten.«



Penny lächelte mir liebevoll zu. »Du hältst immer nach dem Guten in den Menschen Ausschau, was, Patrick?«



Ich zuckte die Schultern und Collin sah mürrisch drein. Ich ignorierte ihn und warf Penny ein Lächeln zu. »Ich versuch's.«



»Dein üblicher Kaffee heute Morgen, Schatz?«, fragte sie.



Ich kam jeden Morgen aus demselben Grund bei ihr vorbei, aber an jedem Morgen in den vergangenen sechs Jahren hatte sie mich gefragt, ob ich einen Kaffee wollte, und jeden Morgen fügte ich hinzu: »Und die Zeitung bitte.«



Wie ein Uhrwerk.



Collin trat beiseite und ich bot ihm endlich ein kleines Lächeln an. »Diese Woche soll sich eine Kaltfront nähern. Von Süden mit bis zu achtzig Sachen direkt vom Pol.«



Collin nickte. »Ja, die Wetterwarnung kam heute Morgen rein.«



Und das war das Interessanteste, was Collin und ich an Unterhaltung zustande brachten. Nachdem ich hergezogen war und jeder erfahren hatte, dass ich schwul bin, hatte er mich wissen lassen, dass er vielleicht Interesse an mir hätte. Ich hatte ihm gesagt, dass ich nicht zur Verfügung stehe. Das war vor sechs Jahren, sogar noch vor Scott… Dann, nach Scott, hing er ein bisschen in meiner Nähe herum, fragte nie offen, aber das musste er auch nicht. Der Zeitpunkt war so was von falsch und abgesehen davon, dass wir vermutlich die einzigen beiden schwulen Männer auf dieser Seite der Insel waren, hatten wir nichts gemeinsam. Collin war ein anständiger Mann, aber er und ich würden nie mehr als Freunde sein.



Penny legte die Zeitung mit der Vorderseite nach oben auf den Tresen. Die Titelstory der Adelaide Times drehte sich um die Energiekrise, aber die zweite Schlagzeile unten auf der Seite lautete: Trauer und leere Särge. Canberra Buschbrand Exklusiv.



Penny tippte mit dem Finger darauf. »Kann man glauben, dass das schon sechs Monate her ist?« Sie stellte meinen Kaffee auf den Tresen. »Wohin ist die Zeit nur verschwunden?«



Sechs Monate. Wow. Ich seufzte. »Scheint erst gestern gewesen zu sein.«



Ich überflog den ersten Absatz des Artikels. Der Politiker Anton Gianoli wurde zum Tod seines Freundes interviewt. Das Schlimmste war die Ungewissheit. Ein leerer Sarg fühlte sich nicht nach einem Abschied an.



Ich schluckte schwer. Nein, nein, tat es nicht.



Mit einem tiefen Atemzug faltete ich die Zeitung und klemmte sie mir unter den Arm, während ich von meinem Kaffee trank.



»Frag mich, was er für eine Geschichte zu erzählen hat«, sagte Penny.



Mir wurde bewusst, dass sie wieder damit beschäftigt waren, den Kerl zu beobachten, der auf der anderen Straßenseite stand und aufs Meer blickte.



»Ich bin mir sicher, dass es nichts Gutes ist, was es auch sein mag«, murmelte Collin.



»Nicht jeder ist ein schlechter Mensch«, merkte ich an.



Penny runzelte die Stirn und nickte. »Stimmt. Aber jeder, der nach Hadley zieht, läuft vor etwas davon.«



Ihre Bemerkung hing schwer und kalt in der Luft. Es war etwas Wahres dran.



Collin warf mir einen Seitenblick zu, als wollte er etwas sagen, doch ich kam ihm rasch zuvor. »Tja, ich sehe euch morgen«, sagte ich und ging zur Tür. Nur, dass ich nicht um die Ecke bog, um mich vor dem Wind in Sicherheit zu bringen und auf den Heimweg zu machen. Ich blieb stehen, betrachtete die einsame Gestalt, die nach wie vor aufs Meer sah, und mit einem tiefen Atemzug und in der Gewissheit, nichts zu verlieren zu haben, überquerte ich die Straße und ging auf ihn zu.



»Hey«, sagte ich aus einigen Metern Entfernung, um ihn nicht zu verschrecken.



Trotzdem wirbelte er herum, die Augen weit aufgerissen. Er hatte dunkle Augen, blasse Haut und ich konnte kurzes, braunes Haar aus seiner Kapuze lugen sehen. Er schien sich seit drei Tagen nicht rasiert zu haben und der Höcker auf seinem Nasenrücken verlieh seinem hübschen Gesicht einen rauen Zug. »Oh, hallo.«



»Wollte dich nicht erschrecken.« Ich nickte in Richtung der schäumenden, wogenden See. »Sie ist heute aufgebracht.«



Er sah hinaus auf die stürmischen Wogen und lächelte mir rasch zu. »Ehrlich gesagt ist es ziemlich schön.«



Ich kratzte mir den Bart. »Ich habe gehört, dass man sie als grausam, kalt, schroff und höllisch bezeichnet hat. Die einzigen Leute, die sie schön nennen, sind die, die am Ende bleiben.«



Er betrachtete das Wasser und lächelte. Der Wind verfing sich in seiner Kapuze und zerwühlte ihm die Haare. Seine Wangen waren dank der Kälte ebenso rosig wie seine Nasenspitze. Er sah gut aus, daran gab es nichts zu rütteln. Und er war vermutlich fünfzehn Jahre jünger als ich.



Ich zwang mich, beiseite zu sehen. »Was führt dich her?«



»Ich bin auf der Suche«, antwortete er, ohne sich mir zuzuwenden.



»Wonach?« Ich starrte gemeinsam mit ihm auf die unruhigen Wellen. »Arbeit? Ein neuer Anfang?«



Er warf mir einen Blick zu. »So etwas in der Art.«



Ich nippte an meinem Kaffee. »Es gibt hier nicht viel Arbeit. Na ja, das stimmt nicht. Es gibt haufenweise Arbeit. Die ganze Stadt ist verwittert und alt. Nur nicht viel Arbeit, für die bezahlt wird.«



Seine Lippen zuckten.



»Aber du kannst es auf dem Campingplatz versuchen.« Ich ließ mir nicht anmerken, dass ich wusste, wo er untergekommen war. »Der alte Frank Hill, dem der Platz gehört, würde nie Hilfe ablehnen. Instandhaltung, solche Sachen.«

 



Er wandte sich wieder dem Wasser und dem Wind zu. »Ich habe ihn schon gefragt.«



»Frank ist nur ein grummeliger, alter Kerl, der jeden unter dreißig für einen Hooligan hält. Ich rede mit ihm, wenn du willst.«



»Warum solltest du das tun?«



Ich lächelte und ließ mir Zeit. Warum bot ich diesem Typ Hilfe an? Ich wusste nicht das Geringste über ihn. Sicher, er sah gut aus, aber da war etwas in seinen Augen. Etwas Tiefes, Verborgenes und Brennendes. Etwas grauenhaft Schmerzliches. Etwas, das ich erkannte.



Ich blickte mit ihm auf die wütende See. »Weil du dieses Meer als schön bezeichnet hast.«



Eine Weile sagte keiner von uns etwas. Ich trank meinen Kaffee und er drehte seinen leeren Becher in den Händen.



»Wie dem auch sei«, sagte ich, als mir bewusst wurde, dass ich nicht den ganzen Tag hier herumstehen konnte. »Ich heiße Patrick. Ich lebe beim Leuchtturm.«



Das brachte ihn dazu, mich anzuschauen. »Im Leuchtturm?«



»Nein. Nicht darin. Im dazugehörigen Wohnhaus.«



»Oh. Cool.«



»Na ja, es ist fast zweihundert Jahre alt, besteht aus Sandstein und ist winzig. Aber ja, es ist cool.«



Ich lächelte, als der Wind um uns herumtobte. »Ich sollte gehen. Ich habe Arbeit zu erledigen, aber ich telefoniere mal rum und sehe nach dem Mittagessen bei Frank vorbei.« Ich zog die Zeitung unter meinem Arm hervor und sein Blick schoss zur Titelseite.



Er starrte so lange darauf, dass ich sie umdrehte, damit er sie lesen konnte. Aber er warf mir einen Blick zu, den ich nicht einordnen konnte und der so schnell wieder verschwunden war, dass ich mich fragte, ob ich richtig gesehen hatte. Er trat einen Schritt zurück. »Ja, hm, danke. Das wäre super.«



Erst, als ich zu Hause war, begriff ich, was es mit dem Ausdruck auf seinem Gesicht auf sich gehabt hatte. Es war Angst gewesen. Und mir wurde klar, dass ich seinen Namen nicht wusste.





***





Sobald ich meine Arbeiten erledigt hatte, machte ich mich auf die Suche nach Frank Hill. Offenbar besaß und betrieb Frank Hadleys Campingplatz seit den Achtzigern. Es befanden sich nur vier auf Dauer abgestellte Wohnwagen und ein alterndes Sanitärgebäude auf dem Platz. Deshalb gab es nicht viel Arbeit, aber Franks Arthritis überstimmte inzwischen seinen Ehrgeiz und seine Möglichkeiten. Er brauchte Hilfe und auch, wenn er dem Kleinen nicht viel zahlen konnte, konnte er ihm vielleicht die Miete mindern.



Ich wusste nicht, warum ich es tat. Ich hielt für jemanden meinen Kopf hin, den ich gar nicht kannte, aber etwas an ihm sprach mich an. Wenn es in die Hose ging, würde Frank mir erzählen, dass ich mich verpissen sollte. Die Chancen standen gut, dass er mir genau das von Anfang an sagen würde.



Das Wetter war scheußlich. Der beißende Wind roch nach Schneeregen. Deshalb fuhr ich dicht an Franks Haus heran, setzte meine Mütze auf und stürmte zu seiner Tür. Ich klopfte und hörte Franks Grummeln, als er sich näherte. Er zog die Tür auf und begrüßte mich mit einem Grunzen.



»Hi, Frank.«



Frank war vermutlich Ende siebzig, rund eins fünfundsiebzig groß, drahtig und trug ständig eine finstere Miene zur Schau. »Was willst du?«



»Tja, ich hatte gehofft, ich könnte mit dir über den jungen Mann sprechen, der in einem der Anhänger untergekommen ist.«



Er verengte die Augen. »Was ist mit ihm?«



»Nichts Schlimmes. Ganz im Gegenteil, genau genommen. Ich hatte gehofft, dass du etwas liegen gebliebene Arbeit hast, die er für dich erledigen könnte.«



Er grummelte etwas, das ich nicht verstand, und drehte sich um, um in sein Wohnzimmer zurückzuhumpeln. »Jetzt steh da nicht rum. Du lässt die ganze warme Luft raus«, bellte er.



Nachdem ich eingetreten war und die Tür hinter mir geschlossen hatte, folgte ich ihm in seine kleine Küche und stellte mich neben ihm ans Fenster über der Spüle. Nickend deutete er nach draußen.



Da war er, der junge Kerl, im schneidenden, heulenden Wind, die Kapuze eng ums Gesicht gezogen. Am Boden kauernd nagelte er die Sperrholzverschalung unter einem der Anhänger fest. »Hab ihm schon zugesagt«, meinte Frank. »Er ist ein Arbeiter, das ist mal sicher. Sobald ich zugestimmt hatte, hat er losgelegt. Hat ein bisschen Zeug in der alten Hütte entdeckt und sofort zum Einsatz gebracht.«



Ich lächelte, in erster Linie in mich hinein. Mir fiel auf, dass er dort draußen mit bloßen Händen arbeitete. Gott, er würde sich den Tod holen. Ich hatte irgendwo noch ein altes Paar Handschuhe, das ich ihm sicher geben konnte…



»Nun, das freut mich«, sagte ich zu Frank. Ich drehte mich um, um zu gehen, doch hielt inne. »Ehm, er hat dir nicht zufällig seinen Namen gesagt, oder?«



Frank fuhr sich mit seiner knorrigen Hand übers Gesicht. »Ich habe ihn mir irgendwo aufgeschrieben.« Dann blitzte es in seinen Augen, als er sich erinnerte. »Hobbs, Aubrey Hobbs.«





Kapitel Drei



Aubrey Hobbs





Ich wusste nicht, was mich dazu gebracht hatte, mich für Kangaroo Island zu entscheiden. Vielleicht, dass es so abgelegen lag. Oder vielleicht, weil es der letzte Ort war, an dem man erwarten würde, mich anzutreffen.



Nicht, dass irgendjemand nach mir suchte.



Aber es war die südliche Spitze Südaustraliens und jedes Mal, wenn ich zu den Sternen aufsah, hatten sie in diese Richtung gedeutet. Also war ich hergekommen.



Ich hatte nur einen schnellen Blick auf die Zeitung des netten Typs werfen können, aber ich hatte genug gesehen: Anton und die Worte Leerer Sarg. Also hatten sie mich endlich begraben… Ich wusste nicht, ob ich erleichtert sein oder Trauer empfinden sollte.



Es war sechs Monate her, dass ich mein Leben hinter mir gelassen hatte. Sechs Monate, seitdem der Buschbrand durch den Nationalpark gefegt war und alles in Grund und Boden gebrannt hatte. Sechs Monate, seitdem Ethan Hosking gestorben und Aubrey Hobbs aus seiner Asche auferstanden war.



Es war nicht leicht gewesen. Ehrlich gesagt war es zwischendurch richtig zum Kotzen gewesen. Ich war quer durch Victoria gezogen und schließlich in Melbourne gelandet, wo es mir gelungen war, hier und da einen Aushilfsjob zu ergattern.



Der Punkt war, dass man in kleineren Orten besser zurechtkam als in den Städten. Die Menschen auf dem Land waren vertrauensseliger und oft bedeutete ihnen eine mit Handschlag besiegelte Absprache noch etwas. Die Leute in der Stadt wollten Ausweise und Steuernummern sehen und das war etwas, das ich nicht anbieten konnte.



Meistens bekam ich genug Geld zusammen, um etwas zu essen zu haben. Manchmal auch nicht. Und ich hatte öfter auf der Straße übernachtet, als ich mir ins Gedächtnis rufen wollte. In einigen Nächten hatte ich darüber nachgedacht, eine Polizeiwache zu betreten und ihnen zu sagen, wer ich war; mich mit Amnesie herauszureden oder so etwas. Aber ich konnte nicht zurückkehren. Ich konnte niemals zurück.



Daher zog ich nach Westen, als ich von Melbourne genug hatte oder die Leute zu viele Fragen stellten. Ich folgte den Saisonarbeitern im Obstanbau, verbrachte einige Zeit in Geelong, dann in Warrnambool. Dann zog ich nach Südaustralien und verbrachte einige Zeit am Mount Gambier, bevor ich mich in Adelaide wiederfand. Im Land des Weins konnte man sich beim Traubenpflücken leicht etwas Geld verdienen und es gab billige Unterkünfte für die Rucksacktouristen, die ebenfalls zum Arbeiten blieben.



Ich hatte inzwischen genug Bargeld, um eine Weile damit auszukommen, wenn ich es klug anging. Und wenn ich als Obdachloser ohne Ausweis eines gelernt hatte, dann, mich schlau zu verhalten.



Jedenfalls was die Straße anging. Inzwischen reichte mir ein Blick, um zu erkennen, wem ich vertrauen konnte und wem ich aus dem Weg gehen sollte. Und während Ethan Hosking nicht viel mehr zustande gebracht hatte, als auswendig die Kataloge von Designern zu zitieren, konnte Aubrey Hobbs Ställe ausmisten, Regale bestücken, Toiletten putzen, Böden wischen, Obst ernten und Weinstöcke hochbinden. Ich konnte vollkommen ahnungslos einen neuen Job antreten – indem ich so tat, als ob ich Bescheid wusste, bis ich es wirklich draufhatte – und kam gut damit durch.



In der ersten Zeit nach dem Feuer verfolgte ich, wo und wann immer es mir möglich war, die Nachrichten. Und mein Schachzug, meine Brieftasche und mein Handy unter der Feuerschutzdecke zurückzulassen, war genau nach Plan verlaufen. Sie hatten beides gefunden, geschmolzen, aber immer noch als mein Eigentum identifizierbar, nicht weit von Antons Hütte entfernt.



Sie waren nicht auf meine sterblichen Überreste gestoßen, aber das war bei so großer Hitzeeinwirkung nicht ungewöhnlich, wie der Nachrichtensprecher erklärt hatte. Vier Tage nach dem Feuer war mein Name – nun, der Name Ethan Hosking – offiziell der Liste der Opfer hinzugefügt worden.



Anton hatte für die Medien voll aufgedreht, hatte in seinem neu geschneiderten Anzug und mit dunkler Sonnenbrille schluchzend dagestanden, als es verkündet wurde, und das Land hatte mit ihm getrauert.



Der arme, arme Mann, hatten die Leute gesagt. Wie furchtbar tragisch.



LGBTQI+-Vereinigungen im ganzen Land hatten ihn zum Posterboy für schwule Männer in Führungspositionen der Gesellschaft gemacht und er war nach wie vor ihr Gesicht der Schwulenpolitik.



Gott, wie sehr er sie an der Nase herumgeführt hatte.



Er war ein verlogenes, manipulatives, brutales Stück Scheiße. Ich hatte immer noch Albträume von einigen Dingen, die er mir angetan hatte. Ich hatte auf Parkbänken, unter Brücken und in Kartons geschlafen. Ich war von Meth-Süchtigen bedroht und von Verkäufern schief angeschaut worden, weil ich ungewaschen war, und das war immer noch nichts, nichts, im Vergleich zu der Hölle, durch die er mich getrieben hatte.



Doch dank ihm war ich jetzt stärker.



Und ich hatte bei diesem Ort ein gutes Gefühl. Sobald ich auf der Insel angekommen war, wusste ich, dass ich mich nicht in den größeren Städten aufhalten würde. Ich blieb zwei Nächte lang in Penneshaw, aber stellte fest, dass ich weiter nach Westen wollte. Die Einsamkeit, das Raue zog mich an. Deshalb ließ ich mich als Anhalter mitnehmen und kam in Hadley Cove an, um mich einem stürmischen Ozean, heulenden Südwinden und dunklen, tief hängenden und unheilverkündenden Wolken gegenüberzusehen.



Und ich hatte das Gefühl, zu Hause zu sein.



Ich war mir nicht sicher, ob ich jemals wieder Frieden finden würde, aber bei Gott, hier konnte ich ihn beinahe schmecken. Und ich wollte ihn. Ich wollte einen Ort finden, an dem ich aufhören konnte, wegzulaufen.



Ob es hier dafür reichen würde, würde die Zeit zeigen.



Dieser Patrick hatte ziemlich nett gewirkt. Sein Haar war braun, aber sein Bart zeigte Spuren von silber und rot. Seine Augen waren so blau wie ausgeblichener Jeansstoff und er wirkte ein wenig wettergegerbt, als würde er viel Zeit im Freien verbringen. Sein Alter schätzte ich auf ein oder zwei Jahre jenseits der vierzig. Er wirkte ebenso schroff wie die Stadt, in der er lebte, und die Tatsache, dass er am Leuchtturm wohnte, interessierte mich. Er hatte sicher eine ganz eigene Geschichte zu erzählen.



Und das war das Problem.



Jeder hatte irgendeine Geschichte zu erzählen, ich selbst eingeschlossen. Und wenn ich es mir erlaubte, jemandem zu nah zu kommen, würde derjenige Fragen stellen, die ich niemals beantworten konnte. Ich hatte mir in den vergangenen sechs Monaten nicht einmal den Luxus erlaubt, Männer anzuschauen. Nicht einmal Rucksacktouristen. Ich konnte es nicht riskieren, dass mir jemand zu nah kam.



Das war der Preis, den ich zahlen musste.



»Ich dachte, du könntest die hier brauchen.«



Ich war gerade damit beschäftigt, das letzte Brett der Verschalung an der Unterseite des Wohnwagens zu befestigen, als jemand mich von hinten ansprach. Ich wäre verdammt noch mal fast aus der Haut gefahren und wirbelte herum, um Patrick vorzufinden. »Heilige Scheiße«, sagte ich und legte eine Hand über mein Herz. »Du hast mich erschreckt.«



Er hob die Hände in die Höhe und sah drein, als täte es ihm ehrlich leid. Oder als würde er versuchen, ein wildes Tier zu zähmen. »Entschuldige«, sagte er rasch. »Ich wollte dich nicht aufscheuchen.«



Ich bekam immer noch nicht wieder richtig Luft. »Schon in Ordnung.« Nun gut, ich hatte wohl immer noch an meinem Pokerface zu arbeiten, denn ich wusste, dass ich blass geworden war. Sämtliches Blut war in Richtung Herz gerauscht und ich konnte spüren, dass es nur langsam in meine Wangen zurückkehrte. »Ich habe dich nicht kommen hören.«

 



Er zog ein Paar Handschuhe hervor. »Ich dachte, du könntest die brauchen«, sagte er erneut und lächelte, als wäre er nervös. »Ich bin vorhin vorbeigekommen, um mit Frank zu sprechen, aber du warst schon bei der Arbeit. Dir werden die Finger abfrieren, wenn du nichts überziehst.«



»Oh. Klar.« Ich schluckte schwerfällig.



»Du kannst die hier nehmen.« Er reichte mir die Handschuhe und musterte mich immer noch, als könnte ich auf dem Absatz kehrtmachen und flüchten. »Sie liegen schon eine Weile bei mir in der Schublade herum. Sie sind mir zu klein.«



Es war so lange her, dass jemand etwas Nettes für mich getan hatte, dass es sich fremd anfühlte. »Ehm, danke. Ich hatte nicht erwartet, dass es so kalt ist.«



Patrick hob die Hand in den Wind. »Es kann hier ziemlich heftig werden.«



Ich nickte, nicht sicher, was ich sagen sollte. Ich war mir sicher, dass er kurz davor war, mir Fragen zu stellen. Daher wandte ich mich wieder der Verschalung zu und rückte sie ins Zentrum der Aufmerksamkeit, nicht mich. »Ich bin mit der hier schon fast fertig, aber morgen werde ich sie sicher tragen.«



Er verzog das Gesicht und rang nervös die Hände. »Frank hat gesagt, dass du den ganzen Morgen lang gearbeitet hast. Hast du schon zu Mittag gegessen?«



Ich starrte ihn an, ohne zu wissen, was ich sagen wollte. Nicht sicher, was seine Beweggründe waren und erst recht nicht, warum ich seine Nervosität süß fand. »Ehm.«



»Keine große Sache«, antwortete er und hielt das Gesicht in den Wind. »Ich dachte nur, heiße Fish and Chips klingen gut.«



Oh Mann. Warmes Essen. Fish and Chips klangen nach dem Himmel, eingewickelt in Zeitungspapier.



Er lächelte. »Komm schon. Ich lad dich ein.« Er drehte sich um und es war ziemlich offensichtlich, dass er zum Imbiss wollte. Er lag nicht weit entfernt. Nichts in Hadley Cove war weit weg. Ich fiel neben ihm in Schritt und er betrachtete kopfschüttelnd meine Hände. »Die Handschuhe werden dich nicht warmhalten, wenn du sie nur festhältst.«



Ich lachte leise und zog sie an, mir wurde sofort wärmer. »Danke noch mal dafür.«



»Kein Problem. Wie gesagt, sie lagen nur herum. Ich habe auch noch eine alte Mütze, die du auch haben kannst. Ehrlich gesagt habe ich um die zehn. Mrs. Stretzki – sie wohnt in der Portside Street – hat mir einen ganzen Haufen gestrickt, weil ich ein paar kaputte Rohre für sie repariert habe.« Er schob die Hände in die Manteltaschen. »Viele Leute hier betreiben eine Art Tauschhandel. Ich habe mal umsonst die Haare geschnitten bekommen, weil ich Reifen gewechselt habe. Und die Hollies, die den lautesten Hahn der Welt halten, tauschen Eier gegen Fisch. Oder Brot oder was auch immer. Anfangs fand ich das skurril, aber so läuft es hier eben.«



»Der alte Frank lässt mich umsonst bei sich wohnen, solange ich für ihn Reparaturen vornehme«, gab ich zu.



»Siehst du? Du bist schon fast ein Einheimischer.« Wir hatten inzwischen den Imbiss erreicht und Patrick hielt mir die Tür auf. Eine Glocke über dem Türrahmen kündigte unsere Ankunft an und der Duft nach frittiertem Essen und Öl sorgte dafür, dass sich mein Magen verkrampfte.



Oder es lag an Patricks Lächeln.



Ich stellte mich vor den Tresen und sah auf zur Tafel mit der Speisekarte und Patrick gesellte sich neben mich. Er war nur ein paar Zentimeter größer als ich, aber deutlich kräftiger und breiter gebaut, wenn auch nicht auf bedrohliche Weise. Eher wie eine Säule der Kraft. Er schwieg einen Moment, dann fragte er: »Wonach ist dir zumute? Der gegrillte Fisch und die Pommes sind sehr zu empfehlen.«



Urgs. Es war nicht so, als könnte ich viel bestellen. Er bezahlte, also wäre das unhöflich. »Ehm, was auch immer. Mir ist alles recht. Der gegrillte Fisch klingt super.«



»Oh, hallo, Patrick«, sagte das Mädchen hinter dem Tresen. Sie war klein und kräftig, hatte ein weiches Gesicht mit Pausbacken, einen silbernen Stecker in der Nase und eine pinke Strähne in ihren ansonsten schwarzen, locker aufgesteckten Haaren. Sie warf einen kurzen Blick in meine Richtung, bevor sie wieder Patrick ansah. »Was kann ich euch bringen?«



Er hielt zwei Finger hoch. »Das Übliche mal zwei, danke, Cassy.« Er sah sich zu mir um, dann wieder zu ihr. »Wir essen hier, wenn das in Ordnung ist? Draußen ist es heute ein bisschen frisch.«



»Na klar«, erwiderte sie.



Ich rutschte auf eine Bank für zwei. Sie unterhielten sich eine Weile über das Wetter und über jemanden namen