Schulsozialarbeit in der Schweiz (E-Book)

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1.5.2 Stichprobe

Für die Gesamterhebung zu den Kooperationsformen wurden 1059 Schulsozialarbeitende der Deutschschweiz identifiziert, die im Zeitraum zwischen August 2016 und Dezember 2017 berufstätig waren (Bruttostichprobe). Sie wurden kontaktiert und um Teilnahme an der Studie gebeten. Schliesslich konnte der Link zur Online-Befragung an 858 Personen gesendet werden (Nettostichprobe). Insgesamt nahmen 811 Schulsozialarbeitende an der Befragung teil und füllten einen Fragebogen aus, was einer sehr hohen Rücklaufquote von 94.5 Prozent bezogen auf die Nettostichprobe respektive von 76.6 Prozent bezogen auf die Bruttostichprobe entspricht (siehe Tabelle 2). Das Spektrum der Gründe, warum sich kontaktierte Schulsozialarbeitende gegen eine Teilnahme entschieden, reichte von Zeitmangel über Abwesenheit wegen Krankheit, Weiterbildung oder Mutterschaft bis hin zu fehlendem Interesse.

Weiter wurden die 858 Schulleitenden (Bruttostichprobe), die für die Schulen verantwortlich waren, wo die Schulsozialarbeitenden zum Erhebungszeitpunkt tätig waren, kontaktiert und um Teilnahme an der Studie gebeten. An 596 Schulleitende konnte ein Link zur Online-Befragung gesendet werden (Nettostichprobe). Davon füllten insgesamt 546 Schulleitende den Fragebogen aus. Dies entspricht, bezogen auf die Nettostichprobe, einem Rücklauf von 91.6 Prozent. Gründe für die Nicht-teilnahme waren bei Schulleitung und Lehrpersonen Zeitmangel, Schutz der Lehrpersonen vor Überlastung, Teilnahme an anderen Studien oder Evaluationen, andere Prioritäten oder fehlendes Interesse an der Befragung.

Die Schulleitenden wurden auch gefragt, ob sie ihr Kollegium bitten würden, an der Studie teilzunehmen. In 360 Fällen konnten wir so ebenfalls die Lehrpersonen befragen. Das heisst weiter, dass wir für 360 Schulen über Datensätze von allen drei Berufsgruppen verfügen und diese auch auf der Einzelschulebene triangulieren können. Weil in keinem Fall nur das Kollegium, nicht jedoch die Schulleitung befragt werden konnte, konnten wir für Einzelschulen, in denen alle drei Berufsgruppen teilnahmen, einen Rücklauf von 65.9 Prozent erzielen. In diesen Schulen konnten wir insgesamt 14068 Lehrpersonen zur Befragung einladen. Davon nahmen 6273 schliesslich an der Befragung teil, was einem Rücklauf von 44.6 Prozent entspricht.

Tabelle 2: Stichprobe der Befragung zu den Kooperationsformen


Akteur /-innen Grund­gesamt­heit (Brutto­stich­probe) Zur Online-­Befra­gung eingeladen (Netto­stich­probe) Reali­sierte Stich­probe Rück­lauf Brutto­stich­probe (%) Rück­lauf Netto­stich­probe (%)
Schul­sozial­arbei­tende 1059 858 811 76.6 94.5
Schul­leitungen 858 596 546 63.6 91.6
Lehr­personen 14068 6273 44.6
Schulen, bei denen alle drei Berufs­gruppen befragt werden konnten 546 360 65.9

1.6 Befragung zu den Nutzungsformen
1.6.1 Vorgehen

Für die Beantwortung der Fragen zu den Nutzungsformen und zu den Nutzerinnen und Nutzern führten wir die Befragung jeweils direkt mit Schülerinnen und Schülern ganzer Klassen durch, unabhängig davon, ob sie die Schulsozialarbeit bereits genutzt hatten oder nicht. Um einen direkten Nutzen unserer Forschungstätigkeit für die teilnehmenden Schulen zu ermöglichen und in der Absicht, deren Teilnahmebereitschaft zu erhöhen, erhielten die Schulen vom Forschungsteam nach der Befragung einen schulspezifischen Auswertungsbericht. Darin sind wesentliche Informationen zum Status quo der Nutzung der Angebote der Schulsozialarbeit durch die Schülerinnen und Schüler enthalten. Diese Information kann für die Schule als Grundlage für die Weiterentwicklung genutzt werden. Dem Forschungsteam lieferte diese Vorgehensweise, bei der die Schule als Quasi-Auftraggeberin für die Untersuchung zeichnete, umfassende Nutzungsinformationen aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler und löste zugleich Probleme im Zusammenhang mit der Freiwilligkeit und dem Datenschutz. Die Schulleitung informierte die Eltern über die Befragung, die im Interesse der Schule durchgeführt werde, sicherte die Freiwilligkeit der Teilnahme und die Einhaltung des Datenschutzes zu und bat die Eltern zu melden, falls ihr Kind nicht an der Befragung teilnehmen dürfe.

In Absprache mit der Schulleitung konnten wir die Schülerinnen und Schüler jeweils im Klassenverband während einer Unterrichtsstunde befragen. Dabei wurde ein Paket mit den Fragebogen für die Schülerinnen und Schüler an die Schule verschickt. Die Fragebogen waren in einem Umschlag verpackt, um grösstmögliche Anonymität zu gewährleisten. Zusätzlich wurde eine Beschreibung des genauen Vorgehens für die Lehrpersonen beigelegt, dazu ein Kurzfragebogen mit Angaben über die Klassengrösse für die Berechnung des Rücklaufs. Eine zweite Lehrperson half, allfällige Fragen der Schülerinnen und Schüler zu klären. Der ausgefüllte Fragebogen wurde von den Schülerinnen und Schülern in den Umschlag gelegt, verschlossen und an die Lehrpersonen zurückgegeben, welche die Umschläge einsammelten und der Schulleitung übergaben. Die Schulleitung retournierte alle Fragebogen gesammelt an das Forschungsteam.

1.6.2 Stichprobe

Für die Befragung der Schülerinnen und Schüler wollten wir gemäss unserer Poweranalyse, das heisst der Abschätzung der für die statistischen Analysen nötigen Datengrundlage, mindestens dreissig Schulen rekrutieren und stellten die Bedingung, dass die Schülerinnen und Schüler die Schulsozialarbeit freiwillig und auf eigene Initiative aufsuchen konnten und wir für diese Schulen jeweils auch bereits über die vollständige Einschätzung der drei involvierten Berufsgruppen verfügten. Um eine zufällige Auswahl unter diesen Schulen zu garantieren, listeten wir die 360 Schulen, die den Anforderungen entsprachen, auf und ordneten sie nach einem Zufallsverfahren. In einem nächsten Schritt wurden die Schulen in dieser zufälligen Reihenfolge kontaktiert und um Teilnahme an der Studie gebeten. Bei einer Absage wurde jeweils die nächste Schule auf der Liste angefragt. Um die gewünschte Anzahl Schulen zu gewinnen, mussten wir insgesamt 72 Schulen kontaktieren. Bei 32 Schulen konnten wir schliesslich die Schülerinnen und Schüler befragen. Der Tabelle 3 können die Merkmale der Stichprobe entnommen werden.

Tabelle 3: Stichprobe der Befragung zu den Nutzungsformen


Schüler und Schülerinnen
Absolut In %
Alle 4385 100.0
Nach Geschlecht
Weiblich 2184 49.8
Männlich 2142 48.8
Unbekannt 59 1.3
Nach Alter
Bis 11 Jahre 707 16.1
12 Jahre 773 17.6
13 Jahre 879 20.0
14 Jahre 912 20.8
15 Jahre 756 17.2
16 Jahre 319 7.3
Unbekannt 39 0.9
Nach Schulstufe
Primarstufe 1685 38.4
Oberstufe 2689 61.3
Unbekannt 11 0.3
Nach Migrationshintergrund
Mit 2090 47.7
Ohne 2201 50.2
Unbekannt 94 2.1
Nach zu Hause gesprochener Sprache
Nur Deutsch 2513 57.3
Deutsch und andere Sprachen 954 21.8
Nur andere Sprache 787 17.9
Unbekannt 131 3.0
Nach Trägerschaft der Schulsozialarbeit
Sozialverwaltung 2074 47.3
Schulverwaltung, Schule 1478 33.7
Geteilte Unterstellung 702 16.0
Andere 131 3.0
Nach Anwesenheit der Schulsozialarbeit im Schulhaus pro Woche
Bis 1 Tag 322 7.3
1.5 bis 2 Tage 1088 24.8
2.5 bis 3 Tage 969 22.1
3.5 bis 4 Tage 1013 23.1
4.5 bis 5 Tage 847 19.3
Unbekannt 146 3.3
Nach fixen Anwesenheitszeiten der Schulsozialarbeit im Schulhaus
Ja 4157 94.8
Nein 228 5.2
Nach Arbeitsplatz der Schulsozialarbeit im Schulhaus
Ja 4302 98.1
Nein 83 1.9

1.7 Datenauswertung

Die Datensätze, die durch unsere Datenerhebung generiert wurden, bilden die Grundlage aller Analysen und Befunde, die im weiteren Verlauf vorgestellt und diskutiert werden. In Tabelle 4 werden die von uns durchgeführten Analyseverfahren aufgelistet.

 

Tabelle 4: Analyseverfahren – Bezug zu den Themen und Kapiteln


Themen Analyseverfahren Kapitel
Einführung und Stand der Schulsozialarbeit in der Schweiz Trägerformen Räumliche Bedingungen Kooperation und Austausch Merkmale der Schulsozialarbeitenden Deskriptive Statistik Zusammenhangsanalysen (Korrelation nach Spearman) Varianzanalysen Unterschiedsanalyse mittels Kruskal-Wallis-Test 2
Interdisziplinäre Kooperationsformen Erfolgsfaktoren der interdisziplinären Kooperation Deskriptive Statistik Zusammenhangsanalysen (Korrelation nach Spearman und Pearson) Varianzanalysen Faktorenanalysen (explorative und konfirmatorische) 3
Angebotsmerkmale Vertrauen und sich anvertrauen Nutzung der Schulsozialarbeit Nutzen der Schulsozialarbeit Deskriptive Statistik Zusammenhangsanalysen (Korrelation nach Spearman und Pearson) Varianzanalysen 4

Die Schulsozialarbeitenden beantworteten die Frage nach ihrer interdisziplinären Kooperation einmal für die Zusammenarbeit mit der Schulleitung und einmal für die Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen, sodass insgesamt vier Sichtweisen hinsichtlich der interprofessionellen Kooperation erhoben und in den Analysen jeweils verglichen werden konnten: Einschätzung der Schulsozialarbeit zur Kooperation mit (1) der Schulleitung, (2) den Lehrpersonen; Einschätzung der Kooperation mit der Schulsozialarbeit (3) aus Sicht der Schulleitung und (4) der Lehrpersonen.

Die statistischen Berechnungen wurden mit der Software «R» durchgeführt. Der grösste Teil der Befunde in diesem Buch beruht auf deskriptiven, das heisst beschreibenden statistischen Auswertungen. Im Zentrum stehen dabei Häufigkeitsverteilungen, die zeigen, welche Prozentanteile der Befragten eine bestimmte Einschätzung äusserten, die Mittelwerte, die das durchschnittliche Antwortverhalten anzeigen, und die Standardabweichungen, die Auskunft darüber geben, wie stark die Antworten um den Mittelwert streuen. Dabei gilt zu beachten, dass grössere Standardabweichungen auf ein heterogeneres Antwortverhalten hinweisen.

Zusätzlich wurden ebenfalls weiterführende statistische Methoden verwendet, um Unterschiede und Zusammenhänge zwischen Merkmalen und Einschätzungen zu untersuchen und zu prüfen, ob diese statistisch signifikant sind. Mit der Analyse wird also geprüft, ob die Ergebnisse mit grosser Wahrscheinlichkeit (meist 95 %) nicht zufälliger Natur sind. Alle in dieser Studie präsentierten Resultate basieren auf statistischen Analyseverfahren.

In den drei folgenden Kapiteln, «Entwicklung der Schulsozialarbeit und Angebotsformen» (Kapitel 2), «Interdisziplinäre Kooperation zwischen Schulsozialarbeitenden, Lehrpersonen und Schulleitenden» (Kapitel 3) und «Nutzungsformen in der Schulsozialarbeit» (Kapitel 4), stellen wir die wichtigsten Ergebnisse der Studie vor. Nach einer thematischen Einleitung erläutern wir jeweils die Fragestellung und gehen danach auf die Resultate ein. Jedes Kapitel schliesst mit einer Zusammenfassung, die eiligen Leserinnen und Lesern die wesentlichen Befunde in Kurzform vermitteln. Auf die drei Ergebniskapitel folgen eine Schlussbetrachtung, ein Anhang und das Literaturverzeichnis. Alle verwendeten Skalen sind im Anhang dokumentiert; fünf Infoboxen erläutern spezifische methodische Aspekte.

2 Entwicklung der Schulsozialarbeit und Angebotsformen

Die Schulsozialarbeit wurde an Schweizer Schulen seit den 1960er-Jahren eingeführt (Brunner, Ambord, 2018). Das nun folgende Kapitel dokumentiert auf der Basis der Erkenntnisse unserer Studie und weiterer Quellen die Entstehung und Verbreitung der Schulsozialarbeit mit Fokus auf der deutschsprachigen Schweiz. Weiter geht es um Fragen der Ausgestaltung verschiedener Angebotsformen. Nach einer Einführung werden diese Themen der Reihe nach bearbeitet. Das Kapitel schliesst mit einem Zusammenzug der wesentlichen Befunde.

2.1 Einführung ins Thema
2.1.1 Inhaltlicher Fokus des Kapitels und Fragestellungen

Die Schulsozialarbeit hat sich als neues Handlungsfeld der Sozialen Arbeit im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt und nach zunächst vereinzelten frühen Angeboten in der Westschweiz in den 1960er-Jahren seit Ende der 1970er-Jahre in der Deutschschweiz erst langsam, aber nachhaltig verbreitet (Baier, 2008; Vögeli-Mantovani, Grossenbacher, 2005). Unsere Zahlen zeigen, dass in den deutschsprachigen Kantonen derzeit über tausend Schulsozialarbeitende in der Primarstufe und Sekundarstufe I tätig sind (siehe Tabelle 2). An der Schnittstelle zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Schule unterstützen sie Kinder und Jugendliche bei einer für sie befriedigenden Lebensbewältigung (AvenirSocial, Schulsozialarbeitsverband [SSAV], o.J.). Die Angebote der Schulsozialarbeit fokussieren auf das Wohl der Kinder und Jugendlichen, richten sich aber auch an Schulleitungen, Lehrpersonen, Eltern und weitere Personen aus dem sozialen Umfeld der Schülerinnen und Schüler.

Durch die föderalistischen Strukturen und die hohe Autonomie der Gemeinden haben sich konzeptionell und strukturell sehr unterschiedliche Organisationsmodelle der Schulsozialarbeit herausgebildet. Sie unterscheiden sich beispielsweise in Bezug auf die personelle Ausstattung, die räumlichen Bedingungen in den Schulen oder auch hinsichtlich der Kooperationsstrukturen und Trägerorganisationen. Obwohl diese Aspekte einen entscheidenden Einfluss auf die Leistungen der Schulsozialarbeit haben, ist bisher nur wenig über die allgemeinen Rahmenbedingungen in der deutschsprachigen Schweiz bekannt. Dies hängt damit zusammen, dass die bisherige Forschungstätigkeit zur Organisation der Schulsozialarbeit geprägt ist von schul- oder projektbezogenen, teilweise regionalen Implementations- und Evaluationsstudien, deren Ergebnisse sich nicht ohne Weiteres für die ganze Deutschschweiz verallgemeinern lassen. Zwar gibt es mittlerweile erste kantonale Bestandsaufnahmen (Drilling et al., 2006; Fabian, 2012; Neuenschwander et al., 2007; Pfiffner et al., 2013), aber auf nationaler Ebene liegt unseres Wissens nur eine einzige Untersuchung vor (Gschwind, 2014).

 

Vor diesem Hintergrund beschreibt dieses Kapitel die Entwicklung und Organisation der Schulsozialarbeit in der deutschsprachigen Schweiz. Zuerst wird auf Basis bestehender Literatur zur Schulsozialarbeit die Entwicklung der Schulsozialarbeit seit den 1960er-Jahren nachgezeichnet. Anschliessend vergleichen wir unsere eigenen Daten zu den Rahmenbedingungen der Schulsozialarbeit mit den in der Fachliteratur und von den Fachorganisationen empfohlenen Richtlinien zu den Rahmenbedingungen und untersuchen, wieweit diese heute in der Praxis der Schulsozialarbeit umgesetzt sind. Dabei stehen die folgenden drei Fragestellungen im Mittelpunkt:

 Wann und wie hat sich die Schulsozialarbeit entwickelt?

 Wie ist die Schulsozialarbeit heute organisiert?

 Welche Leistungen bietet die Schulsozialarbeit an?

Ziel der Analyse ist eine Bestandsaufnahme zur Verbreitung, Organisation und den Tätigkeitsbereichen der Schulsozialarbeit in der Deutschschweiz. Damit wird der aktuelle Zustand der Schulsozialarbeit dokumentiert und eine empirisch abgestützte Grundlage zur Weiterentwicklung der Schulsozialarbeit bereitgestellt.