Novembereis

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Nach der Konfirmation

Bald nach der Konfirmation ging seine Zeit im Armenhaus zu Ende. Gern wäre er da geblieben, aber die Armenkommission hatte eine Arbeitsstelle für ihn gefunden. Er musste für sein eigenes Auskommen sorgen, er war alt genug. Gefragt wurde er nicht. Der Gerbermeister Kappler im Schmiedenbach brauchte einen Taglöhner; also holte Johann den alten Beutel aus dem Regal und packte sein Bündel. Ausser zwei Astkühlein vom alten Heiri, dem Zweifränkler und den Fünfbätzlern, die es jeweils zum Neujahr gab, war nichts dazugekommen. Die Socken von damals waren ihm längst zu klein geworden. So trat er in Kapplers Dienst.

Zusammen mit zwei älteren Taglöhnern schlief er in einer zugigen Kammer über der Gerbe. Es waren rohe Kerle aus dem Oberland, die ihn mit ihren zotigen Sprüchen gern in Verlegenheit brachten. Gegessen wurde in der Küche, zusammen mit den Meistersleuten, mager genug. Eine Lehre kam für ihn als Armenhäusler nicht in Frage, wer sollte das Lehrgeld für ihn aufbringen? Die Arbeit war streng. Der Gestank der Gerbe machte ihm nicht viel aus, aber dass er seine Hände nie mehr sauber bekam, das störte ihn. Er arbeitete gern neben Hans, dem Lehrling. In ihm hatte er einen guten Kameraden gefunden.

Nach drei Jahren erhielt Hans den Gesellenbrief und verliess den Meister, um in St. Gallen eine Stelle anzutreten. Johann konnte sich seine Arbeit in der Gerbe ohne Hans nicht vorstellen. Schon der Gedanke daran tat ihm weh. Kurzerhand, gegen den Willen des Meisters, wanderte er mit Hans in die Hauptstadt. Am liebsten wäre er mit dem Freund in der Stadt geblieben. Aber da gab es keinen Platz für ihn und ohne Papiere war sowieso nicht daran zu denken, das machte ihm Hansens Meister klar. Er trieb sich noch vier Tage ziellos und hungrig in der Stadt herum, übernachtete einmal in einem Pferdestall und ein anderes Mal in einem Schopf neben dem Friedhof im Osten der Stadt. Am anderen Tag half er dem Totengräber, zwei Gräber auszuheben, und erhielt dafür Brot, Speck und Schnaps. Übelgelaunt machte er sich hungrig auf den Heimweg.

Im Hoffeld bei Degersheim begegnete er in einem kleinen Waldstück zwei Mädchen, die ihn neugierig anblickten.

«Was glotzt ihr so blöd?», fragte er sie unwirsch.

«Wir glotzen gar nicht, wir kennen dich ja nicht.»

«Doch glotzt ihr, ihr frechen Goofen, ich werde euch lehren.» Mit diesen Worten packte er die beiden Schulkinder und schlug ihnen hart die Köpfe zusammen. Er stiess beide zu Boden, hob ihnen die Röcke und schlug sie auf den blanken Hintern. Sie schrien und heulten. Sie rappelten sich auf und liefen schluchzend davon.

Johanns Zorn war rasch abgekühlt. Er griff sich, einen zotigen Spruch murmelnd, wollüstig an sein Geschlecht und machte, dass er wegkam. Rasch schritt er aus und langte am Abend auf dem Hemberg an. Dort übernachtete er im Schuppen des Pfarrhauses, ohne dass ihn jemand bemerkte.

Am nächsten Morgen riss er einige unreife Äpfel von einem Baum und stahl aus einem Hühnerstall zwei Eier. Gegen Abend langte er hungrig in Wattwil bei seinem Meister an. Dieser nahm ihn ohne grosses Aufhebens wieder auf; die Meisterin stellte ihm einen Teller Suppe hin. Das Vertrauen zwischen Kappler und Johann war aber zerstört. Nach drei Wochen bat Johann um den Abschied. Der Meister stellte ihm trotz seiner Eskapade ein gutes Zeugnis aus.

So machte sich Johann auf in ein neues, freies Leben. Auf dem Amt holte er seine Schriften, verwahrte diese sorgfältig in einem Stück Leder, das er hatte mitlaufen lassen. Sein Rucksack war leicht, Geld hatte er wenig, aber immerhin hatte ihm die Meisterin neue, gute Kleider gegeben. Es zog ihn wieder nach St.Gallen, das Stadtleben schien ihm verlockend. Er fand keine Arbeit, die ihm zusagte, so zog er weiter nach Rorschach. Er übernachtete in Heuschobern und Ställen. Hin und wieder verdiente er sich ein Essen und etwas Geld mit Taglöhnerei. Manche Tage verbrachte er in Spelunken und spielte mit anderen Vaganten.

In Rorschach verlor er bald seine Papiere bei einer Rauferei und wurde von einer Wirtin vor die Tür gesetzt. Kein Betteln und kein Jammern halfen. Sie wollte ihn nicht in ihrem Haus haben, obwohl sie mit seiner Arbeit zufrieden gewesen war. Sie hatte junge Mägde und traute ihm nicht. Seine lüsternen Blicke schienen ihr gefährlich, sie wollte keine Scherereien.

Mit Gelegenheitsarbeiten bei Bauern und Karrern hielt er sich über Wasser. Eine feste Anstellung fand er nicht, suchte eigentlich auch keine. Nach einigen Wochen kam er mittellos in die Gegend von Wil. Mit Saufen und Kartenspielen hatte er sein letztes Geld verloren. Seinen neuen Kittel hatte er schon lange gegen einen schlechteren eintauschen müssen, seine guten Schuhe trug jetzt ein anderer. Die Hose war inzwischen schmutzig und hatte Risse. Seine Füsse steckten in schlechten Holzböden, die ihn auf den Zehen drückten und an den Fersen scheuerten. In Schwarzenbach kehrte er in einer kleinen Wirtschaft ein und fragte nach Arbeit, Schnaps und Käse. Als die Wirtin sich in die Küche zurückzog, entdeckte er unter der Ofenbank ein Paar neue Stiefel, die ihm gut gefielen. Rasch probierte er sie an, sie passten. So behielt er sie an und stellte seine schlechten Schuhe an den leeren Platz. Die Wirtin bemerkte den Diebstahl sofort, sagte aber kein Wort. Sie bediente ihn, ging hinaus und verschloss die Türen. Sie schickte den Hausknecht zur Polizei. Der rotgesichtige, strenge Beamte, der mit der Wirtin bald in die Wirtsstube trat, befahl dem verdutzten Johann, die Stiefel auszuziehen, was er ohne weiteres tat. Zwei Polizisten führten ihn nun an einer Kette zum Bezirksamt in der Stadt Wil. Dort wurde er eingesperrt und am nächsten Morgen vom Bezirksammann des Diebstahls und Vagantentums angeklagt. Am nächsten Tag brachte ihn die Polizei nach Wattwil.

Der Armenvogt

Wichtigtuerisch trat Pöstler Roth in die Küche im Haus auf dem Büel. Sein Gesicht war rot angelaufen, und der Schweiss tropfte in den Kragen seines nicht mehr ganz frischen Uniformhemds. Die Uniformjacke trug er vorschriftswidrig offen. Den Hut trug er nicht, den hatte er vor der langen Steigung abgenommen. Er hasste es, wenn er dem Armenvogt eine eilige Depesche bringen musste. Im Sommer kam er ins Schwitzen, und im Winter musste er den weiten Weg durch den Schnee stapfen. Beides war ihm von Herzen zuwider. Die Steigung auf den Büel war anstrengend. Er war nicht mehr jung. Er spürte die Schnäpse vom Vormittag und die Hitze des Sommernachmittags.

«Wo ist der Vogt?», raunzte er die Küchenmagd an.

«Sagt man jetzt nicht mehr guten Tag, oder bin ich dem Herrn Pöstler etwa zu wenig?», gab diese schnippisch zurück.

«Hä, also, guten Tag», grüsste Roth. «Also, wo ist der Vogt?», wiederholte er ungeduldig seine Frage.

«Wo wird er schon sein, denk in seiner Amtsstube», gab ihm Annemarei, die Magd, kurzangebunden Auskunft. Sie mochte Roth nicht. Er behandelte sie immer von oben herab. Dabei linsten seine Augen gierig und lüstern. Er war ein alter Bock. Auch widerte sie seine Ausdünstung nach Schnaps an. Sie traute ihm und seinen haarigen Händen nicht, man hörte so manches von den Mägden auf den anderen Höfen. Sie wollte nicht allein mit ihm in der Küche bleiben. So schob sie ihm einen Stuhl hin und ging rasch hinaus. Ohne Eile schritt sie durch den dämmrigen Hausgang über die kühlen Sandsteinplatten zur Amtsstube des Armenvogts. Nach kurzem Klopfen trat sie ein. Der Raum lag auf der Sonnenseite, neben der guten Stube.

Eigentlich war es die Nebenstube, in der Göldi, der Armenvogt, die Schreibarbeiten erledigte, die sein Amt mit sich brachten. Am Tisch schrieb er mit einem Bläuel in einer Liste. Der Gemeinderat verlangte seit neustem eine Auflistung der ledigen Mütter im Dorf. Sie sollten bei ihren Pfarrern antreten und Auskunft zu ihrem Lebenswandel geben. Von den Kindesvätern war nie die Rede. Göldi fand diese neue Regelung ungerecht und unnötig, aber Amt war Amt, er konnte nichts machen. Immer wieder benetzte er den Stift mit der Zungenspitze, damit er besser schrieb. Wie immer hatte er davon blaue Lippen. Annemarei machte ihn darauf aufmerksam und er lachte.

«Ja, ja, die Arbeit färbt halt ab, bei den einen so, bei den anderen so. Was ist, warum störst du mich? Ich sollte die Liste schon längst geschrieben haben.»

Annemarei wusste, dass ihr Brotherr die Schreibarbeiten gern vor sich her schob. Oft machte er nur einen Entwurf und stellte für die Reinschrift seinen Sohn an. Aber dieser war seit Ostern im Welschland. So musste er wohl oder übel selber den Stift in die Hand nehmen. Als Armenvogt hatte er immer Berichte zu verfassen, die hohen Herren wollten Bescheid wissen. Lorbeeren holte man mit dieser Arbeit keine. Wer kümmerte sich schon gern um Arme und Bedürftige?! Der Gemeinderat beriet lieber über neue Strassen, das Pumpwerk im Bergli, das Spital oder am liebsten über die wachsende Textilindustrie im Ort. Er legte den Stift weg und rieb die schmerzende Hand. Das Ziehen in den knotigen Fingern wurde immer schlimmer. Das Schreiben war einfach nicht seine Sache und er war nicht mehr der Jüngste.

«Also, was ist?», fragte er nochmals.

«Der Roth ist da, er will mit Euch sprechen», meldete Annemarei.

Göldi erhob sich langsam und ging in die Küche, wo der Pöstler gleichmütig auf ihn wartete. Bei Göldis Eintreten zog er sofort einen Umschlag aus der inneren Brusttasche seiner Uniformjacke und streckte ihn dem Armenvater hin. Der Umschlag war zerknittert und fleckig vom Schweiss des Pöstlers.

«Nur langsam, langsam, so eilig wirst du es nicht haben», meinte der Armenvogt. Er legte den Umschlag auf den Küchentisch und ging zum Wandschrank neben dem Herd. Dort öffnete er das obere Türchen mit der grünen Glasscheibe. Da standen einige Flaschen: Kirsch, Pflümli und Chrüter. Göldi nahm die Flasche mit dem Pflümli und zwei kleine Gläser aus dem Fach, stellte alles auf den Tisch und setzte sich. Für sich schenkte er nur zwei Finger breit ein, dem Pöstler füllte er das Glas fast bis an den Rand. Sie prosteten sich wortlos zu. Roth kippte den Schnaps auf einmal hinunter. Er ächzte genüsslich und streckte dem Vogt das Glas hin. Dieser füllte es wieder. Dann setzte er den Korken satt auf die Flasche und stellte sie neben sich auf den Boden. Es war immer die gleiche Zeremonie, zwei Gläser, nie mehr. Das ärgerte Roth, und er nannte den Armenvogt in Gedanken einen Geizhals. Das zweite Glas teilte er in kleine Schlucke ein. Göldi öffnete den braunen Umschlag mit dem grossen amtlichen Stempel und las die vom Schweiss des Boten wolkig gewordene Depesche. «So, so», murmelte er, «der Johann wieder einmal.»

 

«Ja, hab’s auf dem Amt gehört, der Bleiker, der Galöri. Der wird nie schlauer, mit dem werden wir noch etwas erleben, das weiss ich. Einsperren sollte man den. Richtig, nicht einfach nur ins Armenhaus stecken, einsperren im Käfig», ereiferte sich der Pöstler.

«Na, na», meinte der Armenvogt. «Ist ja auch nur ein armer Tschooli, der Bleiker. Ist halt Schicksal, in welche Wiege einen der Storch legt.» Mit diesen Worten erhob er sich.

Das war das Zeichen für den Pöstler zu gehen. Ungeniert trank er das Restchen Schnaps, das er in Göldis Glas erspäht hatte, aus und stand ebenfalls auf. Miteinander traten sie vor die Haustüre, wechselten einige belanglose Worte zum Wetter und verabschiedeten sich. Roth wischte den Schweiss, den der Schnaps auf seine Stirn und in seinen feisten Nacken getrieben hatte, mit seinem grossen bunten Nastuch weg. Er knöpfte die Uniformjacke zu und setzte den Hut auf die Halbglatze. Zügig schritt er vom Hof und verschwand bald auf dem kiesigen Strässchen im Wald.

Göldi schüttelte den Kopf und ging zurück in seine Amtsstube. Dort las er nochmals die kurze Depesche, die er vom Bezirksamt in Wil erhalten hatte: «Überstellung und Massnahme: Bleiker Johann, geb. 11. Juli 1840 in Wattwil. Sohn der Bleiker Susanne, verwitwete Brunner, Vater unbekannt. Delikt: Diebstahl und Vagantentum. Überstellung zwecks Besserung ins Armenhaus Wattwil. Der Besagte ist fünf Tage in Arrest zu setzen und zwei Jahre im Armenhaus zu verwahren. Ankunft gleichentags um die Vesperzeit.»

Er nahm eine schwarzgrün marmorierte Mappe aus dem Sekretär. Den Namen brauchte nicht zu lesen, der Bleiker hatte schon einige Blätter in der Mappe, sein Sündenregister war lang. Seufzend legte Göldi den amtlichen Bescheid aus Wil dazu und schloss die Mappe in den Sekretär ein. Den Schlüssel barg er in seiner Westentasche. Er legte den Bläuel in ein Fach des schönen Möbels und schob die vorher angefangene Tabelle in ein anderes. Die Liste mit den Unehelichen konnte warten.

Zum Glück war das Heu schon eingebracht, und das Emd war noch nicht so weit. Die Zeit hätte ihn sonst gereut. Er ging in den Garten, wo seine Frau und Annemarei in einem Beet knieten und jäteten. Er hörte, wie sich die Magd verärgert über die zudringlichen Blicke des Pöstlers ausliess. Er hatte keine Angst um sie. Sie war nicht auf den Mund gefallen, sie wusste sich zu wehren. Seine Frau sagte nicht viel zu Annemareis Lamento, sie gehörte zu den Schweigsamen. Auch diese Eigenschaft mochte er sehr an ihr. Nie machte sie ein Aufheben um die Dinge. Sie nörgelte nie und wartete geduldig, wenn sie spürte, dass ihn etwas beschäftigte. In ihrer langen Ehe hatten sie viele schwere Tage gehabt. Zwei Kinder waren im ersten Lebensjahr gestorben, eines mit vier Jahren an der Halsbräune und eines war gar nicht geboren worden. Das hatte seine Frau still, aber trotzdem nicht bitter gemacht. Sie strahlte fast immer eine ruhige Heiterkeit aus.

Wenn ihr die Last zu schwer wurde, setzte sie sich in der guten Stube an die farbige Hausorgel, die sie in die Ehe mitgebracht hatte. Die Noten kannte sie nicht, sie spielte Lieder und Weisen nach dem Gehör. Als gläubige Pfarrerstochter aus Wildhaus kannte sie alle Kirchenlieder auswendig, sie gaben ihr Trost und Halt.

Ihre gemeinsame Freude war ihr Sohn Hansueli, der ihnen spät noch geschenkt worden war. Er war ein lustiger, gesunder Bub, ein fleissiger Schüler gewesen und jetzt ein eifriger Lehrling in der Westschweiz, in Lausanne. Französisch, Handel und Buchhaltung lernte er da, sie waren stolz auf ihn. Sie vermissten ihn, aber er würde an Martini wieder heimkommen und dann in der Textilfabrik im Dorf im Kontor arbeiten. Ein Beamter, wie sein Vater war, wollte er nicht werden, das lag ihm nicht. Göldi war froh darüber. Manchmal waren ihm die Aufgaben in seinem Amt eine Last. Wie eben der Gang, den er vor sich hatte. Im Hausflur zog er feste Schuhe an, nahm den Hut vom Haken und hängte den Kittel über die Schulter.

«Muss ins Dorf, den Bleiker ins Armenhaus bringen. Der hat wieder einmal etwas angestellt. Wenn er sich doch nur besser im Griff hätte, schade um ihn.» Nach diesem kurzen Bescheid nickte er seiner Frau und der Magd zu und machte sich auf den Weg ins Dorf.

Der halbstündige Weg hinunter durch die Wiesen und der Thur entlang nach Wattwil gab ihm Zeit zum Sinnieren. Sein Amt war nicht leicht. Immer hatte er mit Not und Elend zu tun. Oft fühlte er sich zwischen den Parteien eingeklemmt. Der Gemeinderat erwartete von ihm eine harte Hand. Die Armen sollten zwar versorgt werden, aber nichts kosten. Oft hatte er den Eindruck, als ob der Gemeinderat ihn persönlich für das Elend und die Not der Armen verantwortlich mache. Uneheliche Kinder und deren Mütter, die nicht über die Runden kamen, weil ihre Herrschaften sie auf die Strasse stellten, Invalide und Verkrüppelte, die keiner Arbeit mehr nachgehen konnten, Alte, die keine Familie hatten, oder eben Vaganten und Tunichtgute, wie der Bleiker einer war; für alle war er zuständig. Am meisten taten ihm die Waisenkinder leid. Auch wenn er eine Familie aus ihrer trostlosen Wohnung holen und sie ins Armenhaus bringen musste, weil der Zins nicht mehr bezahlt worden war, war es für ihn ein schwarzer Tag. Diesen Leuten konnte er jeweils nicht in die Augen schauen.

Nach solchen Tagen setzte er sich zu Hause abends auf die Bank neben der Haustüre und blickte schweigend zu den Bergen. Meistens setzte sich seine Frau neben ihn, nahm seine Hand und drückte sie leicht. Sie sprach nichts und fragte nichts, das tat ihm gut. So sassen sie, bis es zu kühl wurde. Es gab Göldi Kraft für den nächsten Tag.

Zügig schritt der Armenvogt Wattwil zu. Die Hitze lag drückend über dem Tal. Er hätte den Kittel zu Hause lassen können. Die Mücken aus den Thurauen plagten ihn. Er war froh, als er bald nach der Brücke beim Gemeindehaus eintraf. Dort setzte er sich in den grünen Schatten der Kastanienbäume und wartete. Gern hätte er ein Glas Most oder wenigstens Wasser getrunken, aber es läutete vom Kirchturm schon zur Vesper und die «Krone» und der «Löwen» waren zu weit weg. Nach einigen Minuten stand er auf und trat ins Haus. Durch den kühlen Flur ging er zur Amtsstube, klopfte an und trat ein.

«Gut, dass du da bist», begrüsste ihn der Gemeindeammann hinter dem Schreibtisch. «Der Bleiker Johann ist im Arrestzimmer, die Landjäger sind schon wieder gegangen, sie müssen zurück nach Wil. Die Schriftlichkeiten sind erledigt, kannst den Hallodri sofort mitnehmen.»

Göldi kannte den Ammann gut. Er hatte oft mit ihm zu tun; sie klopften auch hin und wieder einen Jass zusammen. Er wusste, dass auch ihm solche Amtshandlungen zuwider waren. So fragte er nicht lange, unterzeichnete die Papiere, nickte wortlos und ging ins Arrestzimmer, dessen Schlüssel er als Armenvogt bei sich trug.

«So, Johann, ist es wieder einmal so weit», begrüsste er den Sitzenden.

Bleiker blickte kaum auf. Ihm war übel von der Hitze im stickigen Zimmer, und das Leben war ihm verleidet. Er gab keine Antwort, Göldi hatte auch keine erwartet. Johann erhob sich, und Göldi führte ihn an einer kurzen Kette vom Gemeindehaus weg durch das vorabendliche Dorf. Der Taglöhner hielt seinen Kopf gesenkt. Die Frauen am Dorfbrunnen hielten in ihren Gesprächen inne. Sie starrten Bleiker ungeniert an, und zwei der Frauen spuckten vor ihm aus.

«Endlich kommst du wieder ins Loch, wo du hingehörst, du elender Kerl. Geschieht dir recht», sagte eine, und die andere nickte bestätigend.

«Was hast du mit ihm zu tun?», wollte eine der älteren wissen.

«Darüber will ich nicht reden, jedenfalls hat er es verdient, der Sauhund.» Die andern Frauen nickten wissend. Dann nahmen sie ihre gefüllten Kessel und machten sich auf den Weg nach Hause. Einige Buben beim Brunnenstock lachten hämisch hinter dem Geschmähten her. Zwei junge Mädchen blickten verschämt und strichen ihre Röcke glatt. Bleiker fluchte leise vor sich hin. Er verwünschte diese Weiber und das ganze Dorf.

Der Armenvater schritt eilig voran; der Gang war ihm zuwider. Nach kurzer Zeit erreichten die beiden das Armenhaus, wo Göldi den Delinquenten mitsamt dem amtlichen Überstellungsbescheid dem Armenvater übergab.

«Johann, Johann», sprach ihn der Armenvater an. «Was sollen wir nur mit dir anfangen, wirst du eigentlich nie gescheiter und anständiger?! Was hast du wieder angestellt?»

Bleiker grinste schief und senkte den Blick. Vor dem Armenvater schämte er sich. Ohne ein Wort zu sagen, trottete er hinter Vater Bachmann die Kellertreppen hinunter. Vor der der Türe der Arrestzelle, zuhinterst im dunklen Gang blieb er stehen. Er zog die Senkel aus den Schuhen, riss den ausgefransten Hosenstrick aus den Gurtschlaufen und schlurfte durch die kleine Türe. In der Zelle roch es nach Latrinenkübel, Schweiss und Erbrochenem. Der Strohsack in der Ecke war dünn und roch moderig. Die Decke darauf war fleckig und an den Rändern eingerissen. Durch ein winziges Fenster, eher ein Lichtschlitz unter der Bohlendecke, zwängten sich zwischen den Eisenstäben milchige Sonnenstrahlen herein und bildeten ein Kreuz auf dem gestampften Lehmboden. Dieser war trocken und leidlich sauber gewischt. Auf einer Kiste stand ein gesprenkelter Emailkrug mit Wasser, daneben lag ein Stück Brot.

«Da, wirst dein Urteil kennen», sprach der Armenvater und streckte Bleiker das amtliche Schreiben entgegen. «Diesmal sind es fünf Tage Arrest, die du dir eingehandelt hast, und nachher zwei Jahre Verwahrung hier im Armenhaus.»

Johann fegte das Schreiben mit einer Hand weg. «Ja, zum Arschwischen kannst den Zettel hier lassen», knurrte er grob und liess sich auf den Strohsack fallen. Er drehte sich zur Wand und liess einen dröhnenden Wind fahren.

Bachmann verzog angewidert das Gesicht, schaute Johann bekümmert an und schloss die Fussschelle um den schmutzigen Fussknöchel des Liegenden. Bleiker reagierte nicht, er liess es ohne weiteres geschehen. Bachmann gab dem schweren Kettenblock einen leichten Tritt und verliess die Zelle wortlos.

Es ist jedes Mal das Gleiche mit dem Bleiker, dachte er. Bei jeder neuen Einlieferung ist er noch unflätiger, er lässt keinen an sich heran. Das würde sich mit der Zeit aber wieder geben, wie er aus Erfahrung wusste. Da war nichts mehr von dem Bübchen, das ihm damals vertrauensvoll die Hand gereicht hatte. Bleiker war ein Tunichtgut geworden, einer der ärgsten. Die Tage im Arrest bei Wasser und Brot würden den Kerl zähmen, das war jedes Mal so. Nachher konnte man mit ihm wieder normal reden, und er erledigte die ihm aufgetragenen Arbeiten ohne Widerworte.

So war es auch diesmal. Bleiker hockte seine Arresttage fluchend und lamentierend ab. Hin und wieder schrie er Unflätigkeiten durch das kleine Fenster. Die Buben draussen machten sich ein Spiel daraus, ihn zu reizen.

Das unterband Bachmann, und den Mädchen verbot er strikt auch nur in die Nähe des Arrestfensters zu gehen.

Am Abend des fünften Tages holte der Armenvater Johann aus der Zelle und führte ihn in die Waschküche. Dort lagen ein grobes Handtuch, ein Stück Seife und ein Rasiermesser bereit. Einigermassen sauber und leidlich rasiert schlüpfte Johann in die verhasste Armenhauskluft. Seine stinkenden Kleider warf er in einen Trog. Es würde sich schon eine finden, die seine Kleider wusch, davon war er überzeugt. Mit den anderen im Haus folgte er später dem scheppernden Glöcklein, das zum Nachtessen rief. In der grossen Stube setzte er sich breit auf eine Bank. Der Armenvater brauchte ihn nicht vorzustellen, man kannte ihn. Nach der mageren Kost in der Arrestzelle schmeckten ihm die Kartoffeln und der Käse wie ein Festmahl. Der Most rann köstlich durch seine Kehle. Die Alten beäugten ihn misstrauisch, hielten Abstand. Die Frauen tuschelten. Die grösseren Buben lachten ihn frech und anzüglich an. Die Mädchen blickten ängstlich und verschämt, die Kleinen beachteten ihn nicht. Niemand sprach ihn an, er redete mit niemandem. Die zwei letzten Kartoffeln schnappte er mit seinem Messer aus der Schüssel, sodass einer der Alten seine Hand erschrocken zurückzog.

 

So rasch wie möglich verliess er den Essraum, schlurfte ums Haus und sass lange auf der Bank vor dem Stall. Gern hätte er geraucht, aber er hatte nichts. Auch seine Schnapsbuddel war im Bündel, das ihm die Polizei abgenommen hatte. Wahrscheinlich liess ihn der Armenvater noch ein wenig schmoren, bis er ihm sein Bündel mit der Buddel und den billigen Stumpen aushändigte. Er schaute den Mauerseglern zu, die unter dem Scheunendach ihre Nester hatten. Ihr Flug gefiel ihm. Sie waren frei. Aus dem Stall hörte er das Schnaufen der Kühe und das Rasseln ihrer Ketten. Den Geruch von Heu und Kuhdung mochte er, es war Heimat für ihn. Später trat der Armenvater aus dem Haus und setzte sich zu ihm.

«Johann, Johann», sprach er und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Wortlos beobachteten sie frühe Fledermäuse in der Abendstille und hörten dem Sirren der Mücken zu. Nach einer Weile stand Bachmann auf und ging ins Haus zurück.

Bleiker hätte gern mit dem Armenvater gesprochen, ihm von seinen misslungenen Tagen erzählt, ihn vielleicht sogar nach seinen Gedanken über das Leben gefragt, aber es ging nicht.

Wohl oder übel verbrachte er die vorgeschriebene Zeit im Armenhaus und machte sich nachher wieder auf die Walz.

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