Novembereis

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Johann verstand zwar nicht, womit er aufhören sollte, aber er nickte brav.

«So nimm deinen Buben und bring ihn dem Armenvater», wandte sich der Gemeindepräsident wieder an die Wäscherin. «Er wird’s gut haben. Der Bachmann ist streng, aber schon recht.»

«Also, Johann, mach deiner Mutter keine Schande und benimm dich.»

Mit diesen Worten waren Susanne und ihr Sohn entlassen. Der Schreiber übergab ihr ein amtliches Papier, das sie sorgfältig in der Tasche verstaute. Sie bedankte sich unterwürfig beim Ammann, der sich wieder behäbig hinter seinen Tisch gesetzt hatte. Sie verliess aufatmend das Amtszimmer und den dämmrigen Korridor und machte sich mit ihrem Jüngsten auf den Weg durch das Dorf zum Armenhaus. Mit eingezogenen Schultern, das Kopftuch weit in die Stirne gezogen und den Buben fest an der Hand, schritt sie voran. Sie überquerte die Strasse, ohne nach links und rechts zu schauen.

Es war viel los im Dorf, die Leute waren auf dem Weg zum Markt ins benachbarte Städtli. Sie war froh um den Betrieb, so beachtete sie niemand mit ihrem Buben, und sie grüsste auch niemanden.

Beim «Kreuz»-Wirt wollte der Kleine abschwenken, wie er es sich von den Waschtagen gewohnt war, aber sie zog ihn unsanft weiter. Erstaunt schaute er zu ihr auf. Sie sagte nichts und er fragte nicht, so gingen sie an der Wirtschaft vorbei. Beim Bäcker Rüedi duftete es wunderbar nach frischem Brot. Sie traten in den Laden, und die Mutter kaufte ihm einen frischen Wecken. Das hatte sie noch nie getan.

«Nimm, bist ja doch mein Bub», sagte sie, gab ihm den Wecken und zog ihn weiter.

Bald gingen sie durch die grosse Hofstatt, zwischen den schwer mit Früchten beladenen Apfel- und Birnbäumen und durch den gut gepflegten Garten auf das Armenhaus zu. Es war ein stattliches, sonnenverbranntes Holzhaus mit langen blanken Fensterreihen. Vor den Fenstern blühten Petunien und Geranien. In einer Rabatte dem Haus entlang wuchsen Studentenblumen, Kapuziner und Fetthennen. Grosse Hauswurze ragten bis über die Steineinfassung, und einige Rosenstöcke verströmten einen betörenden Duft wie im höchsten Sommer. Ein Holzschopf und eine Remise waren links und rechts angebaut und daneben standen die grosse Scheune und der Stall. Vom Kastanienbaum vor dem Haus fielen schon die ersten stachligen Kugeln.

Im Armenhaus

Zaghaft zog Susanne am Glockenstrang. Im Innern des Hauses ertönte eine Glocke. Johann wunderte sich, dass sie nicht einfach eintraten, aber auf seine Frage meinte die Mutter, das gehöre sich nicht. Ein junges Mädchen mit langen, kastanienbraunen Zöpfen öffnete die schwere Türe und liess sie ein. Es war ärmlich, aber sauber gekleidet. Hinter ihm gingen sie durch einen langen Gang, in dem es nach Zichorienkaffee, Kohl und auch nach Abtritt roch. Der Geruch war ganz ähnlich wie zu Hause, darüber war Johann froh. Es würde schon nicht so schlimm werden. Am Ende des Flurs klopfte das Mädchen an eine Türe, und sie traten in ein kleines Zimmer. Der Armenvater sass an einem Tisch und las in einer Zeitung. An den Wänden hingen in einfachen Rahmen drei Tabellen mit grossen bräunlichen Stempeln. In einem offenen Schrank mit vielen kleinen Fächern lagen gebündelte Papiere.

Susanne blieb bei der Türe stehen und grüsste den Armenvater schüchtern. Dann streckte sie ihm das Papier, das ihr der Schreiber mitgegeben hatte, entgegen. Der Mann, der nach einem Nicken ruhig das amtliche Schreiben las, gefiel Johann. Er war um die vierzig und hatte freundliche Augen, ein breites Gesicht mit roten Backen und einem gezwirbelten Schnauz. Er legte das Papier vor sich auf den Tisch und strich mit der rechten Hand darüber. Gemütlich lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, schob die Daumen unter die breiten Hosenträger und liess diese zweimal lustig schnellen. Solche Hosenträger hätte Johann auch gern. Sie hatten ein gelbgraues Müsterchen und waren rechts und links mit zwei dicken grauen Gummischnüren mit zwei Knöpfen an der Hose eingehängt. Die Knöpfe waren aus Horn und schimmerten. Das gefiel Johann. Seine eigene geflickte, grobe Hose wurde nur durch einen alten Bändel ohne Schnalle gehalten, mehr schlecht als recht.

Der Armenvater nahm das Streichholz, das er im Mundwinkel gedreht hatte, heraus, legte es neben das amtliche Papier und meinte lächelnd: «So, so, wir bekommen einen neuen Buben, wie heisst du denn?»

Susanne schob ihren Sohn etwas vor und gab ihm einen leichten Schubs.

«Johann, Johann Bleiker», brachte er schüchtern hervor.

«Aha, dann bekommen wir also noch einen Apostel, einen Peter und einen Jakob haben wir schon», lachte der Armenvater.

Johann wusste nicht, was ein Apostel war. Zu fragen getraute er sich nicht, aber es schien etwas Gutes zu sein, wenn der Armenvater lachte. Er hatte keine Angst und gab dem Armenvater gern die Hand.

Die Mutter klaubte ein viereckiges Päckchen aus ihrer Tasche und faltete das bräunliche Wachspapier auseinander. Zwei gefaltete Papiere mit Tinte beschrieben und Stempeln darauf kamen zum Vorschein. Es waren Johanns Taufschein und Geburtsschein. Beide Bogen legte sie wortlos auf den Tisch vor dem Armenvater und zog sich zur Türe zurück. Der Armenvater schob die drei Blätter ineinander und legte sie in eines der kleinen Fächer im Schrank. Er schrieb einige Worte auf ein neues Blatt, drehte es gegen Susanne und forderte sie auf, die Sätze zu lesen und zu unterschreiben. Errötend senkte sie den Kopf und bewegte sich nicht. Johann hätte gern gewusst, was da geschrieben stand, aber er getraute sich nicht zu fragen.

«Aha, aha, na, dann lese ich es dir vor. Schliesslich sollst du wissen, was du unterschreibst», sagte der Armenvater und drehte das Blatt wieder zu sich. «Eintritt Bleiker Johann, Sohn der Bleiker Susanne, verwitwete Brunner. Grund: Armut und mangelnde Aufsicht. Geboren 11. Juli 1840 in Wattwil, unehelich, Vater unbekannt. An Michaelis, 29. September 1844.»

Der Armenvater schob Susanne das Blatt wieder hin und wies mit einem Finger auf die unterste Linie, wo er Susannes Namen hingeschrieben hatte. «Mach einfach deine Kreuze daneben, das reicht auch», meinte er.

Verlegen nahm Susanne den Stift in die Hand und setzte zittrig drei Kreuze neben ihren Namen. Aufatmend übergab sie ihrem Sohn ein kleines Bündel, drückte ihn kurz an sich und murmelte leise einige Abschiedsworte.

Als Johann die Tränen in ihren Augen sah, hätte er gern geweint. Aber er riss sich zusammen. Er legte nur eine kleine Weile den Kopf an den starken Unterarm seiner Mutter und schaute sie ruhig an. Susanne schluchzte leise auf. Entschlossen schob sie den Buben zu dem Mädchen. Dieses zog ihn zu sich und kreuzte die Arme auf seiner kleinen Brust. Stumm verabschiedete sich die Mutter vom Armenvater und ging rasch aus dem Zimmer. Die Türe fiel hinter ihr zu.

Was Johann davon halten sollte, wusste er nicht. Gern hätte er die Mutter gefragt, wie lange er hier bleiben müsse, wann sie ihn wieder holen komme. Er hatte aber keine Zeit, darüber nachzudenken.

Der Armenvater räusperte sich, putzte sich ausgiebig die Nase und zeigte freundlich auf das Mädchen. «Das ist die Vevi. Die zeigt dir, wo du deine Sachen hinlegen kannst. Du schläfst in der Kammer der kleinen Buben, bei Seppi, Röbi, Albert, Ueli und Ernstli. Der Ernstli und du, ihr zwei Kleinen, habt zusammen einen Strohsack, das reicht vorläufig. Ich hoffe, du seichst nicht ins Bett!»

Johann lachte. «Bin doch kein Bubi mehr», meinte er grossspurig.

«Dann ist ja alles in Ordnung, also, Vevi nimm ihn mit. Nachher kommt ihr zum Zvieri, dort können wir den neuen Apostel grad allen vorstellen.»

Vevi nahm ihn freundlich an der Hand. In der anderen trug sie sein Bündel. Es war leicht und es kam Johann eigenartig vor, dass er es nicht selber tragen musste. Überhaupt schien ihm Vevi ein nettes Mädchen zu sein, jedenfalls netter als seine Halbschwester. Deshalb traute er sie auch zu fragen: «Du, Vevi, was ist ein Apostel?»

Sie lachte. «Ach, das lernst du dann schon noch in der Unterweisung.» Was Unterweisung war, wusste Johann auch nicht, aber er wollte nicht nochmals fragen und schwieg. Über zwei breite Treppen und einen langen Gang kamen sie zu einer einfachen Kammer mit zwei Fenstern. Die Wände waren aus gehobelten Brettern, Möbel gab es keine. In einer Ecke stand ein Nachttopf mit einem hölzernen Deckel, der gleiche, der zu Hause auch seinen nächtlichen Dienst tat. In einfachen Verschlägen lagen fünf Strohsäcke, ordentlich mit groben Laken aus gräulichem Leinenstoff eingeschlagen. Auf der Kopfseite lagen rotweiss karierte Kissen, auf der Fussseite lag je eine braune, grobe Wolldecke. An der kürzeren Wand sah Johann ein Regal. In den vielen offenen Fächern lagen die Habseligkeiten der anderen Buben. Sie waren ebenso ärmlich wie die Sachen in seinem Bündel: fadenscheinige Hemden, geflickte Hosen aus grobem Stoff, bemalte Holzkistchen, zerbeulte Blechdöschen. In einem Fach lag ein gefaltetes buntes Taschentuch, in einem andern schaute eine kleine Haselpfeife unter einer Wollmütze hervor. Zuunterst standen fünf Paar Schuhe mit Holzsohlen, gleich abgetragen und verschrammt wie seine eigenen. Socken sah er keine. In seinem Bündel lag ein Paar Socken. Die hatte seine Mutter vor einiger Zeit zu stricken begonnen; erst vorgestern waren sie fertig geworden. Es machte ihn stolz, dass er sie besass, getragen hatte er sie noch nie. Sie waren für den Winter bestimmt; die Mutter hatte sie extra zu gross gestrickt.

«So, stell deine Schuhe hier zu den andern, bis zum Gallustag brauchst du sie nicht», befahl ihm Vevi und räumte seine Sachen in ein Fach. Den leeren Beutel versorgte sie zuhinterst. «Den brauchst du erst, wenn du wieder gehst.»

Er zog seine Schuhe aus und krümmte beschämt die Zehen. Seine Füsse waren schmutzig. Die Mutter hatte ihm am Morgen nur das Gesicht gewaschen.

 

«Ich kümmere mich darum, dass du ein eigenes Kissen bekommst, die Decke könnt ihr teilen, der Ernstli und du, ihr seid ja beide noch klein. Am Gallustag bekommen wir alle für den Winter zwei Wolldecken. Du wirst sehen, hier hast du es gut.»

Daran zweifelte Johann nicht. Er ging zuversichtlich mit Vevi die Treppen hinunter in die grosse Stube. Er hatte vorher eine Glocke gehört. Es war nicht die Glocke vom Hauseingang. Sie tönte heller und schepperte ein bisschen.

«Auf diese Glocke musst du immer Acht geben», sagte Vevi, «wenn du zu spät zum Essen kommst, lässt die Armenmutter nicht mit sich spassen, sie ist streng.»

Johann konnte sich nicht vorstellen, dass man nicht sofort zum Essen ging, er hatte immer Hunger. In der grossen Stube wurde ihm nun doch ein wenig ängstlich zu Mute. An langen Tischen sassen viele ältere und jüngere Kinder. Alle blickten ihm entgegen und musterten ihn. Einige schauten freundlich, andere zogen Grimassen, und zwei kleine Mädchen schienen durch ihn hindurchzublicken. Diese beiden und die Augen der alten Männer und verschrumpelten Frauen, die ihn hinter den Tischen hervor beobachteten, machten ihm ein wenig Angst. Er fasste Vevi bei der Hand und schob sich hinter sie. Der Armenvater erhob sich von seinem Platz am separaten Tisch am Fenster. Er trat auf ihn zu, fasste Johann leicht beim Arm und sagte laut, dass es alle hörten: «Das ist der Johann. Er ist vier Jahre alt, und er wird jetzt bei uns wohnen. Jetzt haben wir schon drei Apostel, wird immer besser bei uns. Johann schläft bei den kleinen Buben, und er hilft mit im Garten. Die Vevi wird ihm alles Nötige zeigen.» Ruhig führte er ihn an den Tisch, an dem die kleinen Buben sassen und wies ihm den Platz neben Ernstli zu.

Alle Buben und Mädchen hatten ein Stück Brot vor sich. In der Mitte der Tische standen irdene Schüsseln mit Apfelmus. Daraus schöpfte sich jedes einen grossen Löffel voll und klatschte ihn auf das Brot. Die Männer hatten Käse zum Brot, die alten Frauen assen das Brot ebenfalls mit Apfelmus. In Krügen stand für die Alten Most und für die Kinder Milch bereit. Die Grossen schenkten den kleinen Kindern ihre Becher voll. Einer der grösseren Buben leierte ein Tischgebet herunter, nachher war es ruhig; nur Kaugeräusche und Schmatzen waren zu hören. Von der Ecke der alten Männer ertönten auch Rülpser und grobe Fürze. Die grossen Buben lachten, die Mädchen kicherten.

Der Armenvater riss ein Fenster auf und meinte gutmütig: «He, Störi, plagen dich die Saubohnen von heute Mittag?»

Johann wunderte sich, dass er ein zweites Musbrot bekam, das hatte er zu Hause nie erlebt. Niemand sprach mit ihm, die kleinen Buben musterten ihn neugierig, die grösseren feixten, aber alle liessen ihn in Ruhe. So sagte er auch nichts.

Bald erhoben sich die Alten und schlurften aus dem Raum. Die Kinder schwangen ihre Beine ebenfalls über die Bänke und verschwanden. Vevi und zwei der grossen Mädchen sammelten die Schüsseln ein und putzten die Tische. Sie wischten den Boden und warfen die Krümel zum Fenster hinaus, wo Johann Hühner gackern hörte.

«Komm», sagte Vevi, «wir müssen das Geschirr in die Küche bringen und nachher gehen wir in den Garten.»

Zusammen mit den anderen kleinen Buben und den beiden stumpfsinnigen Mädchen klaubte Johann bis zum Abendessen Steine aus den Beeten und trug sie in einem Drahtkorb an den Rand des Gartens. Seppi zeigte ihm einen schönen Käfer; der kleine Ueli legte ihm einen dicken Regenwurm auf den Kopf. Röbi lachte, als er den Wurm aus den Haaren nahm und auf dessen Kopf legte, und Albert schaute stumm zu. Er verzog keine Miene.

Johann merkte, dass Albert nicht sprechen konnte und überhaupt etwas sonderbar war. Auch bei den grösseren Kindern, die ebenfalls im Garten arbeiteten, bemerkte er einige, die ihm seltsam vorkamen. Beim Eindunkeln läutete wieder das scherbelige Glöcklein, und alle bewegten sich gemächlich auf das Haus zu. Am Brunnen im Hof wuschen sie sich die Hände und tauchten die schmutzigen Füsse ins Wasser. Die drei grossen Buben kamen aus der Scheune und wuschen sich. Mit nassen Füssen patschten alle in die grosse Stube und setzten sich an die Tische. Die alten Frauen sassen schon da, die alten Männer schlurften nach den Kindern langsam und schwerfällig herein und liessen sich ächzend nieder.

Diesmal betete der Armenvater selber. Das Unser Vater kannte Johann, aber er konnte es noch nicht beten. Die zwei anderen Gebete, die folgten, hatte er noch nie gehört.

Grosse Schüsseln mit geschwellten Kartoffeln standen bereit. Jedes der Kinder nahm sich davon auf einen eigenen hölzernen Teller, dazu etwas Salz mit Kümmel und dicke Milch. Die Grossen tranken wieder Most, die Kinder erhielten Buttermilch.

Unterdessen war es im Raum dunkel geworden und der Armenvater zündete drei Petroleumlampen an. Sie hingen über den Tischen und verbreiteten ein heimeliges Licht. Der schwere Geruch des Petrols überdeckte beinahe den Altleutegeruch, der dumpf im Raum hing. Einige der alten Frauen nahmen Strickzeug aus einem Korb, die Männer holten ihre Tabakpfeifen hervor und pafften. Die grossen Buben zogen Hefte aus dem Schrank, um ihre Hausaufgaben zu erledigen. Vevi und die anderen grossen Mädchen räumten wieder die Tische ab und fuhren mit dem Lappen darüber. Auch sie setzten sich nachher an ihre Hefte, während die jüngeren Kinder mit Astkühlein und kleinen Stoffpuppen auf dem Boden spielten.

Johann fielen fast die Augen zu. Er war froh, als das Glöcklein schepperte und der Armenvater und die Armenmutter wieder hereinkamen. Sie sprachen das Nachtgebet und wünschten allen eine gute Nacht.

Die Mädchen verschwanden in den Abtritt hinten im langen Gang, die Buben erleichterten sich draussen neben dem Stall. Die Grossen lachten die Kleinen aus und zeigten ihnen, wie man einen grossen Strahl erzielen konnte; das kannte Johann von seinen Halbbrüdern. Zusammen mit Ernstli und den andern verzog er sich in die Kammer. Jemand hatte ein eigenes Kissen für ihn auf den Strohsack gelegt. Kaum hatte er die Hose ausgezogen und sich im Hemd auf den Strohsack gelegt, schlief er tief und traumlos. Die anderen tuschelten eine Weile über den Neuen, er hörte nichts mehr.

Durch die gleichförmigen Tage und Monate gewöhnte sich der kleine Johann bald an sein neues Leben, er fühlte sich wohl. Zwar schien ihm das stete Arbeiten streng und das frühere Herumstromern in den Wirtshäusern vermisste er. Aber zusammen mit Ernstli und den andern Buben aus seiner Kammer war es meistens lustig, und alle wurden gleich behandelt.

Der Ignaz aus der grossen Bubenkammer hatte ihn einmal wegen seiner Mutter gehänselt und sie eine billige Schnepfe genannt. Zwar hatte er den Ausdruck nicht verstanden. Aber am rohen Lachen der anderen hatte er gespürt, dass es eine Gemeinheit war. Auch wenn seine Mutter ihn noch nie besucht hatte, beleidigen liess er sie trotzdem nicht. So hatte er Ignaz ohne lange Überlegung kräftig ins Schienbein getreten. Das war nach dem Gallustag gewesen, als sie schon Schuhe trugen. Seither liessen ihn die Grossen in Ruhe.

Er vermisste sein altes Zuhause kaum. Im Armenhaus war alles ähnlich wie bei seiner Mutter, auch das einfache Essen. Nur dass er hier immer so viel zu essen bekam, wie sein Bauch es wünschte. Seit dem Gallustag trug er am Sonntag voll Stolz seine neuen Socken. Sie kratzten und waren ihm viel zu gross, aber das machte ihm nichts aus. Der Strohsack war neu gefüllt, und er hatte jetzt auch zwei eigene Wolldecken. Der Armenvater war gerecht und behandelte alle gleich. Von der strengen Armenmutter setzte es hin und wieder eine Kopfnuss. Das berührte ihn nicht weiter, er hatte sie meistens verdient. Die Mutter hatte härter zugeschlagen.

Zu Weihnachten erhielten alle Buben einen Lebkuchen und ein neues Hemd. Die Mädchen erhielten ihre Lebkuchen in eine neue Schürze eingewickelt. Die Frau des Pfarrers hatte zusammen mit anderen Frauen zwei Körbe mit diesen Geschenken gebracht. In der grossen Stube stand ein Christbaum. Etwas so Zauberhaftes hatte Johann noch nie gesehen. Er wäre am liebsten den ganzen Tag in der Stube geblieben, nur um den Baum zu bestaunen. Überhaupt waren die Weihnachtstage wunderbar. Seine Mutter hatte ihm eine Mütze gestrickt. Josi, sein älterer Halbbruder, hatte sie gebracht. Mutter habe keine Zeit ihn zu besuchen, hatte er gesagt und war rasch wieder gegangen. Das tat Johann weh, aber was sollte er tun? Er hätte seine Mutter gern wieder einmal gesehen, obwohl er sie kaum vermisste.

Der bucklige Heiri hatte für die kleinen Buben neue Astkühlein geschnitzt, und Peter hatte aus einer alten Kiste einen Stall gezimmert. Nun hatten sie zwei Ställe und fühlten sich als Grossbauern. Zwar schimpften die grossen Mädchen, dass überall in der grossen Stube Heu und Stroh herumlag, aber es war ihnen nicht richtig ernst dabei. An Silvester gab es Schlorzifladen. Die Birnen dazu hatten sie im Herbst selber zusammengelesen. Ihr süsser Duft aus dem Kachelofen war wunderbar gewesen. Und hin und wieder war es den Kindern gelungen, ein paar zu stibitzen. Am Neujahrsmorgen lag für jedes Kind ein Fünfbätzler auf dem Tisch. Nein, Johann vermisste sein Zuhause nicht.

Im dritten Jahr trat er im Frühling zusammen mit Seppi und Ernstli in die erste Klasse der Dorfschule ein. Das Zuhören und Stillsitzen behagte ihm nicht. Der Lehrer war streng; die Armenhäusler konnten ihm wenig recht machen. Die Rute auf dem Katheder lag stets bereit, und seine Hand war kräftig. Als Unehelicher war Johann in der Schule noch eine Stufe unter den Armenhäuslern, diese waren wenigstens nur Waisenkinder. Die Sache mit den Buchstaben erlernte er leidlich, aber mit den Zahlen konnte er wenig anfangen. Unterdessen war er zwar nicht viel gewachsen, aber stämmiger geworden. Er liess sich nichts gefallen, und die Schläge, die er in der Schulstube vom Lehrer einsteckte, gab er rasch und ohne lange zu überlegen auf dem Schulplatz weiter.

Er wurde mit den Jahren eigenbrötlerisch und mürrisch. Hin und wieder lachten ihn die Mädchen aus. Dann packte er sie grob, kniff sie hart in die Schenkel oder verdrosch sie. Die meisten mieden ihn. Das Spielen mit den Astkühlein, die er so geliebt hatte, war schon lange vorbei. Er war nun ein grosser Bub und bald in der letzten Klasse. Die Schule war ihm ein öder Ort, und die Arbeit auf den Gemüseäckern des Armenhauses war ihm längst zuwider. Lieber stromerte er in der Gegend herum oder verzog sich an versteckte Plätze an der Thur. Am liebsten hätte er mit den Zugochsen gearbeitet oder die Kühe versorgt, aber Ruedi, der Meisterknecht, wollte ihn nicht im Stall haben.

Seit Ernstli in der siebten Klasse an einer Lungenentzündung gestorben war, wäre Johann am liebsten davongelaufen, aber wohin? Zur Mutter konnte er nicht, seinen Vater kannte er nicht. Er mochte niemanden, und niemand mochte ihn. Den Armenvater verehrte er, trotzdem verschloss er sich mehr und mehr auch vor ihm. Über die Erzählungen im Konfirmandenunterricht lächelte er spöttisch. Was sollten diese Geschichten?! Stand da etwas von Armenhäuslern oder von Buben ohne Vater und Mutter? Die Bilder dieses Jesus mit den gewellten, langen Haaren kamen ihm seltsam vor. Welcher Mann ging in einem bodenlangen Hemd und spazierte einfach so durch die Tage? Was ein Apostel war, hatte er inzwischen gelernt, aber auch diese zwölf Männer, die da mit Jesus unterwegs waren, fand er eher eigenartig. Die verliessen ihre Familien, um im Land herumzuziehen. Ja, das wiederum kannte er von seinem Vater, der hatte sich auch davongemacht. Seinen Konfirmationsspruch «Selig sind die Friedfertigen, denn ihnen gehört das Himmelreich» lernte er brav auswendig, obwohl er ihn nicht verstand. Seine Mutter und die Halbgeschwister waren nicht zur Konfirmation gekommen, warum auch? Er hatte mit ihnen nichts zu tun. Zum Mittagessen hatte er ein besonderes Stück Fleisch erhalten und dazu zum ersten Mal einen Becher sauren Most bekommen. Der Armenvater hatte ihm einen blanken Zweifränkler neben den Teller gelegt. Die Armenmutter hatte ihm ein neues Hemd geschenkt. Es bestand zwar aus dem Hemd eines verstorbenen Armenhäuslers, aber sie hatte es extra für ihn angepasst und neu genäht. Er freute sich darüber und war stolz darauf. Noch nie hatte er ein so schönes Geschenk erhalten.