Müllers Morde

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19.21 Uhr

Drin! Ha! Wer immer der Riese war, er hatte ihn reingelassen.

»Ich nehme an, der Hausanschluss ist im Keller«, sagte Müller und pfiff durch die Zähne, als er die Rosentapete in dem kleinen Zimmerchen zu Gesicht bekam. Ob Steenbergen die ausgesucht hatte? Und was dieser große Typ hier wohl machte? Etwas überprüfen? Was? Vermutlich war er von der Kanzlei dieses Testamentsvollstrecker-Anwalts, denn von dessen Karten hatte er einen ganzen Stapel. »Auf dem Speicher ist er nämlich definitiv nicht.« Müller lächelte, passierte Wohnräume, die völlig anders aussahen als die der alten Frau Zangerle, und ließ sich die Kellertreppe zeigen. Der Riese tappte ihm hinterher. Der Mann war auch nervös, das spürte Müller. Der gehörte nicht hierher, der war vielleicht sogar selbst illegal im Haus, der hatte keine Lichter angehabt und sein Auto irgendwo anders geparkt, vor der Tür jedenfalls nicht, da hatte weit und breit nichts anderes als Müllers weißes Handwerkerauto gestanden.

»Verrücktes Wetter, was?«, sagte er, weil der andere hinter ihm so unheimlich schweigsam war.

»Für die Jahreszeit«, stimmte der Riese zu.

Dann waren sie im Keller, in der Waschküche, am Hausanschluss. Befriedigt sah Müller den grauen Aufputzkasten mit dem Breitbandverteiler. Er stellte seine Werkzeugtasche ab, holte einen Schlüsselbund mit mehreren handelsüblichen Verteilerschlüsseln heraus und nahm sich das Schloss vor. »Wären Sie so lieb, jetzt mal den Fernseher einzuschalten?«, fragte er beiläufig. Es sah zwar ganz danach aus, als ob der Riese nichts von Telefonanschlüssen verstand, aber es war besser, wenn er nicht die ganze Zeit zusah. »Und den Computer auch?« Müller guckte kurz und auffordernd über die Schulter, und der Riese ging. Er hatte zwar nicht sehr begeistert ausgesehen, aber er ging.

19.24 Uhr

Der dritte Schlüssel passte. Müller öffnete die Tür und drehte mit einem Stromprüfer den Hausanschlussverstärker voll auf. Nun müsste der Fernseher eine saftige Störung zeigen. »Ist der Fernseher an?«, schrie er nach oben.

»Nein«, kam es zurück. »Hier ist kein Fernseher.«

Ach du ahnst es nicht, dachte Müller. Alles musste man selber machen. »Vielleicht ist er im Schlafzimmer«, schrie er. »Manche stellen sie auch in den Schrank!«

»Was?«, kam es von oben.

Müller legte die Werkzeuge hin. »Ich komme mal hoch«, rief er.

* * *

Richard stand in Steenbergens Wohnzimmer neben der Profi-Musikanlage und den Altherrenrock-CDs und dachte, dass es nicht wahr sein konnte, dass er hier in jedes Loch geguckt, aber nicht gemerkt hatte, dass nirgends ein Fernseher war. Dieser Steenbergen hatte allen Ernstes auf seiner Riesenledercouch gesessen, Dan Brown gelesen, Phil Collins gehört und sonst nichts. »Herr Steenbergen hatte keinen Fernseher«, sagte er zu dem Kabel-Deutschland-Fritzen, der soeben aus dem Keller kam.

Der junge Mann blickte ungläubig und sah sich suchend um. Dann schaute er auf sein Klemmbrett. »Aber er steht hier als Kunde. Gunter Steenbergen, Bernhardis-Straße 17c.«

»Es ist keiner da, auch oben nicht«, versicherte Richard und folgte dem Blick des Kabelmannes, der nachdenklich auf einem breiten Regal an der Wohnzimmerwand ruhte, wo ohne weiteres ein Flachbildschirm Platz gefunden hätte.

»Dann war er wohl geschieden.«

»Bitte?«

»Ja. Ein Scheidungsopfer. Seine Ex hat den Fernseher mitgenommen, und er hat anschließend nur noch den Computer benutzt.«

Nun guckte Richard ungläubig.

»Oder das Laptop. Mit den meisten kann man jetzt auch fernsehen.« Der junge Mann seufzte. »Aber uns hilft das nicht weiter. Wir müssen hoffen, dass wir am Computer was erkennen. Vielleicht hat er ja eine TV-Karte da drin.«

* * *

Halb acht

Das hier war ein Himmelfahrtskommando. Das hätte er nie machen dürfen. Dieser Schurwolleriese, der hinter ihm herschlich, sah aus, als würde er es genau nehmen, als würde er in einem halben Jahr noch mal auf das zurückkommen, was ihn heute gestört hatte. Solche Leute hatte Müller gefressen, und jetzt, da er improvisieren musste, war so einer im Nacken ganz besonders unangenehm. Vor allem, da dieser blöde Steenbergen keinen Fernseher hatte. Keinen Fernseher hatte, das musste man sich mal vorstellen! Das bedeutete, dass er einen BNC-Adapter für den Schraubanschluss im Verteilerkasten brauchte. Müller hatte so einen, aber vielleicht nicht dabei. Und wenn nicht unten im Keller der übliche Breitbandverteiler geprangt hätte, dann wäre er jetzt gegangen, denn das Risiko, Kabel Deutschland zu spielen, wo kein Kabel Deutschland war, das war unter den Augen dieses grüblerischen Aufpassers einfach zu groß. Doch dieses Haus hing am Kabelnetz, Fernseher hin oder her. Und er war drin. Der Rest würde ihm auch noch gelingen.

* * *

Das Laptop. Merkwürdige Formulierung, als wüsste der junge Mann genau, dass Steenbergen eines besessen hatte. Nachdenklich stieg Richard hinter ihm die Treppe hoch zu Steenbergens Büro. Doch natürlich befanden sie sich in einem Yuppie-Haushalt, und Yuppie-Haushalte starrten vor elektronischem Gerät, dieser hier machte keine Ausnahme, trotz der schönen weiten Räume. Der fehlende Fernseher war da wohl mehr eine Koketterie, das gab Steenbergen die nötige Facette privaten Verzichts. Und wie absolut vorteilhaft in seiner Position, zwanglose Unkenntnis zu praktizieren: Nein, ich konnte die Reportage über die galoppierende Erderwärmung gestern nicht sehen. Ich besitze keinen Fernseher. Wissen Sie, was die für eine Energie­bilanz ­haben …? Für den jungen Handwerker wiederum war ein Laptop vermutlich so selbstverständlich wie eine Zahnbürste. Und bestimmt hatte er recht: Steenbergen musste einen Zweitcomputer besessen haben. Allein für die Reisen.

Während Richard für den Kabelmann den fest installierten Bürocomputer wieder hochfuhr, ging er im Geiste all die Stellen durch, die er bereits durchstöbert hatte. Bis in die hintersten Winkel war er vermutlich doch nicht gekommen. Oder war das Laptop im Betrieb? Hatte ein Angehöriger es mitgenommen? Lag es bei der Polizei?

»So«, sagte der junge Mann in diese Gedankengänge hinein. »Okay, prima.« Er starrte den Bildschirm an. »Kann gut sein, dass die Störung aus dieser Ecke hier kommt«, sprach er dann im Plauderton, während er in seiner Werkzeugtasche kramte. »Das wäre die Erklärung: Wenn der Bewohner keinen Fernseher hatte, dann hat er es vielleicht gar nicht gemerkt. – Okay.« Er bückte sich, um die Hardware zu untersuchen, und murmelte etwas von Empfängern und TV-Karten.

Richard betrachtete mit gefurchter Stirn den schmalen Rücken des jungen Mannes.

»Okay. Okay«, sagte der halblaut zu sich selbst. Dann richtete er sich wieder auf. »Ich muss noch mal in den Keller.« An der Tür wandte er sich um. »Würden Sie eben mitkommen, bitte? Ich brauche vielleicht jemanden, der mir hilft.«

* * *

19.40 Uhr

Müller durchsuchte ungeduldig seine Werkzeugtasche und fand tatsächlich den Stecker und ein ziemlich mitgenommen aussehendes Kabel. Erleichtert verband er sein eigenes Laptop mit dem Anschluss im Keller und rief ein Fernsehprogramm auf. Es funktionierte, allerdings wurde das Bild durch die Übersteuerung übel gestört. Müller frohlockte innerlich. »Der Anschluss ist da«, murmelte er wie zu sich selbst, »und er funktioniert, aber sehr schlecht. Wir sind der Sache auf der Spur.« Er klopfte auf den Breitbandverteiler. »Komm, Baby, zeig mal, was du drauf hast.« Dann spielte er ein wenig mit dem Verstärker und ließ das Bild noch schlechter werden. Schließlich schüttelte er bedenklich den Kopf. »Ich will das mit allen Geräten im Netz haben. – Tja, würden Sie mal auf den Bildschirm achtgeben? Ich gehe hoch und teste. Sie schreien, wenn sich was ändert, okay? Also wenn es noch griesiger wird.«

»Alles klar«, sagte der Riese ohne sichtliches Misstrauen, und Müller eilte hoch an den Computer. Jetzt erst mal Handschuhe anziehen, die Tastatur konnte er nachher niemals ordentlich abwischen. Gut. Los. Hoffentlich war hier das Passwort eingespeichert. Müller rief Steenbergens lokales E-Mail-Programm auf, und das klappte schon mal. Gut. Darauf war aber nichts Interessantes, nur viel, viel Werbung, das hatte Steenbergen offensichtlich kaum noch genutzt, das war zur Spam-Ablage verkommen, ein Relikt aus den Tagen, da es noch keine Flatrates gab und Internetzeit teuer war. Doch jetzt konnte es noch einmal nützlich sein, denn zur Not würde es Müller helfen, das Passwort für den eigentlichen Account zu finden. Steenbergens eigentlicher Account war online. Es hatte davon mindestens zwei Stück gegeben: den geschäftlichen und einen privaten. Der geschäftliche war inzwischen stillgelegt, das hatte Müller selbst beim Technical Support der ENERGIE angeleiert und das Postfach dabei ganz offiziell noch einmal gesichtet. Doch im geschäftlichen Postfach war die Mail nicht gewesen, da hätte er es ja auch viel zu leicht gehabt. Müller rief den Browser auf und fand oben auf der Bedienerleiste ein kleines grünes Symbol. Er klickte es an und landete auf der Freenet -Eingangsseite. Gut. Weiter. Die Mailadresse kannte er, die konnte er zur Not auch manuell eingeben, das Problem war eben das Passwort, das hatte er in vielen Stunden Probierens nicht herausbekommen, und ein Trojaner nützte ihm nichts, weil Steenbergen seine Computer ja nicht mehr einschalten konnte. Lass ihn das Passwort einfach hier gespeichert haben, dachte Müller aufgeregt und klickte sich fiebrig durch die Fenster. Lass die blöde Mail noch ungelesen sein, lass sie nirgendwo aufgerufen sein, lass mich bitte bitte nicht auch noch das Laptop suchen, den Palm, das Smartphone oder sonst einen verdammten Computer irgendwo auf der weiten Steenbergen-Welt, lass ihn – er hatte das Passwort gespeichert, der liebe gute Steenbergen. Müller war drin. Sofort erschien die Meldung: Es wurde 547 Mal vergeblich versucht, auf Ihr Postfach zuzugreifen. Diese Meldung hatte Müller erwartet, trotzdem trieb sie ihm den Schweiß auf die Stirn. Er löschte sie. Dann öffnete er den Posteingang. Scrollte. Suchte. Und fand sie. Tatsächlich, da war sie, Nataschas Nachricht, Müller erkannte sie am Nachnamen, der Teil der Mailadresse war: Kassin@ENERGIE.de. Im Betreff stand schlicht: Bitte um ein Gespräch, und sie war noch ungelesen. Ungelesen. Müller keuchte vor Erleichterung. Ungelesen bedeutete, dass sie nur im Netz existierte, dass sie nicht schon in irgendeinem Gerät hockte und zufällig von einem Angehörigen oder Nachlassverwalter entdeckt werden konnte. Am dritten Tag nach Steenbergens Tod eingegangen, das war ein Montag gewesen, da hatte man im Betrieb von seinem Ableben noch nichts gewusst, die Bombe war erst später geplatzt. Drei Tage zu spät, Natascha. Diese dumme Kuh! Diese dumme, dumme Kuh! Müller atmete durch. Er zitterte. Er musste runterkommen. Er hob den Kopf.

 

»Wie sieht’s aus?«, brüllte er Richtung Tür. Aus dem Keller kam gedämpfte Antwort. Der Mann von der Kanzlei behielt brav das Bild im Auge. Also nur die Ruhe. Ganz entspannt Luft holen. Ausatmen. Er hatte noch Zeit, die Nachricht zu öffnen: Lieber Gunter, stand da, ich möchte Sie dringend um einen privaten Gesprächstermin bitten. Es geht um heikle betriebliche Vorfälle, mit denen ich zu tun habe und die möglicherweise illegal sind. Mit freundlichen Grüßen, Natascha Kassin.

Möglicherweise illegal, dachte Müller grimmig, während er die Mail löschte und den Papierkorb leerte, damit sie auch wirklich verschwunden blieb. Möglicherweise illegal! Natascha-Herzchen hatte immer dick mit abkassiert! Dann musste sie natürlich an Steenbergens Privatadresse schreiben! Und niemand hatte das Passwort für dieses blöde Postfach rauskriegen können! Diese – ach! Jetzt war zum Glück nichts mehr mit Aussteigen und Verraten, nun zitterte und schlotterte Natascha vor Angst, jetzt war sie mit der Geschichte von dieser Mail zu ihm gerannt, weil sie sich schier in die Hose machte. Weil irgendwer – ja wer wohl? Die AUFTRAGGEBER? – den großen unantastbaren Dr. Dr. ­Steenbergen am Totenmaar mit CO2 gekillt hatte, eindeutiger ging es nicht, haltet alle brav den Mund, hieß das, macht gefälligst weiter wie bisher und seid ganz ruhig, sonst kommt Mama Mafia und holt euch alle ans Totenmaar. Müller betrachtete den Computer, der nun rein und jungfräulich vor ihm stand, und fühlte sich klebrig. Man sollte aber doch noch mal nach dem Passwort suchen, dachte er. Für alle Fälle. Er horchte in Richtung Tür. Nichts. Der Typ hockte nach wie vor im Keller. Also rasch: Müller verließ das Freenet -Portal und rief den lokalen Mail-Client auf. Wenn der als Backup für den Freenet -Account angegeben war, dann würde man dort vielleicht eine alte Bestätigungsmail für das Freenet -Passwort finden. In fliegender Hast scrollte Müller sich durch die vielen Werbenachrichten. Und dann fand er sie tatsächlich, die Nachricht von Freenet , die ein Passwort betraf. Der Schweiß rann ihm den Rücken hinab, während er sie öffnete. Dann starrte er verdrossen den Bildschirm an: Das Passwort lautete at1anTI5. Was ein Hohn: Atlantis, das nie gefundene. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich Müller. Ein Gefühl, als ob das Schicksal sich heimlich über ihn amüsierte.

* * *

Unter dem Bildrauschen lief auf dem Laptop eine aufgedonnerte Vorabendreportage über den Vulkanausbruch auf Thera vor 3000 Jahren, und Richard war von dem Ton der Mitwirkenden schnell so genervt (Dr. Simon Meyer von der Ben-Gurion-Universität glaubt, einer absoluten Sensation auf der Spur zu sein! Dr. Simon Meyer von der Ben-Gurion-Universität, was haben Sie da gefunden? – Nun, mag sein, dass wir auf einer Spur sind! – Oh, Dr. Simon Meyer von der Ben-Gurion-Universität, das wäre ja eine absolute Sensation!), dass er beschloss, diesem Kabeltypen mal über die Schulter schauen zu gehen. Doch in dem Moment kam der schon die Treppe herabgepoltert und fragte etwas atemlos: »Na?«

»Es hat sich nichts am Bild geändert«, sagte Richard.

»Aha«, sagte der Kabelmann und kratzte sich am Kopf. »Tja, dann – dann ist es vermutlich wirklich das Erdkabel, wie wir schon befürchtet haben. Was natürlich der GAU ist, denn da muss die Straße aufgerissen werden.« Er drehte noch ein wenig an dem Kasten herum und brachte das Bild auf dem Laptop in einen unwesentlich besseren Zustand. Dann sagte er: »Gut, besser geht’s nicht, das war’s, vielen Dank, da werden wir vielleicht auch mal die Telekom kontaktieren müssen.« Er schaltete das Laptop aus und packte seine Sachen zusammen. »Ach ja«, fügte er an, während er Schraubenzieher und Handschuhe in die Werkzeugtasche einsortierte. »Darf ich fragen, wie Sie heißen und wie ich Sie erreiche, wir müssen sehr wahrscheinlich noch mal hier rein.«

»Romanoff heiße ich«, antwortete Richard bereitwillig. »Aber ich hatte mit Herrn Steenbergen eigentlich wenig zu tun. Rufen Sie doch bitte die Nummer von der Karte an, die ich Ihnen gegeben habe. Ich selbst bin nur –«, aus den Augenwinkeln sah er, wie der junge Mann mitten im Packen gespannt innehielt, »– selten im Büro.«

»Hm«, machte der junge Mann desinteressiert und packte fließend weiter, und Richard zweifelte sofort an seiner Beobachtung.

Dennoch sagte er nachdenklich: »Und wie erreiche ich Sie?«

Der junge Mann blickte auf. »Müller ist mein Name«, sagte er nüchtern, »aber rufen Sie Kabel Deutschland an. Ich gebe Ihnen unsere Karte. – Ach so ja, dann muss ich noch mal hoch auf den Speicher. Ich glaube, ich habe da meine Jacke liegenlassen.«

Richard nahm die Karte und brachte den jungen Mann nach oben. Dort war keine Jacke. »Die wird noch bei der Frau Zangerle sein«, sagte Müller. »Ich gehe einfach hier oben herum, denn ich habe ihr sowieso versprochen, die Speichertüren zu schließen. Sie ist nicht mehr gut zu Fuß.« Er ging zum benachbarten Kabuff, brüllte hinein: »Frau Zangerle! Ich komme jetzt wieder runter!«, nickte Richard zu und schloss die Tür hinter sich. Richard ging zerstreut ins Rosenzimmer zurück. Den jungen Müller vergaß er sofort. So sehr dachte er darüber nach, wo das Laptop sein könnte.

* * *

19.57 Uhr

Die zweite Rückkehr in Frau Zangerles Haus war nicht mehr ganz so schlimm. Müller spürte sogar das verrückte Bedürfnis, etwas mitzunehmen. Ein Souvenir. Was natürlich absolut hirnrissig war, nur Serienmörder im Film nahmen Souvenirs mit. Trotzdem verweilte er länger als nötig im Haus der alten Dame, so als ob es noch etwas Wichtiges zu tun gäbe, als ob etwas fehlte und er es irgendwie herbeibringen müsste. Fast träumerisch betrachtete er Frau Zangerles Schlafzimmer, ihr Bad – und da fiel ihm ein, dass es hier vielleicht wirklich noch etwas Interessantes gab: die Pillen. Rezeptfreie Drogen konnte man immer gebrauchen. Müller inspizierte den Spiegelschrank über dem Waschbecken im Bad. Er war voll uralter Medikamente. Die Zangerle hatte gesammelt. Müller sah rasch die vielen vergilbten Päckchen durch, und dann nahm er sich tatsächlich ein Souvenir mit.

Jetzt aber schnell raus aus dem Haus, damit er den Mann mit Zopf nicht verfehlte, er wollte ihm folgen, wenn er nach Hause fuhr. Müller eilte zur Vordertür, in der noch der Hausschlüssel steckte. Er ließ den Schlüssel, wo er war, damit alles so aussah, wie er es aufgefunden hatte, verließ das Haus und zog nur sanft die Tür hinter sich zu.

* * *

Das Laptop war im Auto. Dass er da nicht draufgekommen war, das war doch klar: Die wichtigen Sachen lagen immer im Auto – wenn einer eins hatte. Der schmale Computer befand sich im Fußraum des Beifahrersitzes und war in butterweiches Leder verpackt, in ein wahres Schmuckstück von Tasche. Wenn das kein Fund war. Richard packte die Tasche mit dem Laptop in eine Plastiktüte, die er in der Küche fand, lud alles auf sein Fahrrad und fuhr durch den warmen Regen nach Hause. Diesmal ohne S-Bahn. Er brauchte Luft.

* * *

20.35 Uhr

Das durfte nicht wahr sein: Der Öko-Riese war mit dem Fahrrad da. Natürlich. Deswegen hatte kein Auto vor der Tür gestanden. Nun hatte Müller umsonst in dem blöden weißen Van gewartet – die längste halbe Stunde seines Lebens: umsonst, denn ­einem Fahrradfahrer konnte man nicht unauffällig mit dem Auto folgen. Müller versuchte es, doch der Öko bog natürlich sofort gegen die Fahrtrichtung in die nächste Einbahnstraße, und damit war Müller aus dem Rennen. Verflucht sollten sie sein, diese blöden Alternativtypen, die es lustig fanden, gegen Verkehrsregeln zu verstoßen! Müller war versucht, die Polizei anzurufen. Dann tastete er seine Tasche nach der Büttenkarte Peter Welsch-Ruinarts ab und fuhr zu Axel. Den Van abgeben.

* * *

Zu Hause schaltete Richard erst mal seinen eigenen, ungestörten Fernseher ein und stellte ihn stumm, weil Dr. House noch gar nicht lief. Dann pflanzte er sich mit einer Flache Kölsch, einer Tüte Chips und Steenbergens Laptop auf die Couch. Das Laptop war ein Supercomputer, kantenlos wie ein Ufo, und es hatte eine so gefällige Art, schnell hochzufahren und sich ­widerstandslos in Richards Funknetz einzuwählen, dass er kurz darüber nachdachte, ob nach Klärung des Falls irgendwer dieses Kleinod vermissen würde. Dann aber wusste er nicht recht weiter. Der hübsche Computer schwieg ihn an wie eine Frau, bei der man nicht wusste, ob es sich lohnte, sie anzuquatschen. Halbherzig suchte Richard nach dem Mailprogramm, fand ­einen kleinen grünen Button in der Bedienerleiste, drückte ihn und landete im Freenet -Portal. Steenbergens Passwort war gespeichert. ­Richard rief die Mails auf und entdeckte, dass irgendwer noch am zweiten Tag nach Steenbergens Tod diverse Nachrichten geöffnet hatte. Das fand er zuerst unheimlich, dann interessant, und schließlich fiel ihm ein, dass die Polizei vermutlich das Gerät gesichtet hatte. Seitdem waren dann noch über zweihundert Nachrichten eingegangen. Zweihundert Briefe an einen Toten. Und unzählige gelesene, die davor gekommen waren. Viel Privates schien aber auch hier nicht dabei zu sein. Die meisten Betreffzeilen handelten von Kundentreue und Bonuspunkten. Richard seufzte, schrieb Dr. House ab und ackerte sich durch. Es dauerte drei Stunden und zwei Biere und brachte zwei Erkenntnisse. Erstens: Die ENERGIE war ein riesiges Geflecht von Einzelfirmen, die von ehemals waffenfähigem Uran bis hin zu Trinkwasserleitungssystemen für Entwicklungsländer nahezu alles vertrieben, was mit menschlicher Grundversorgung zu tun hatte. Steenbergen hatte dabei keineswegs zum Vorstand des gesamten Konzerns gehört, wie die reißerischen Zeitungsberichte durchblicken ließen, sondern war »nur« in der Führungsebene der ENERGIEbase beschäftigt gewesen, der Firma, die am direktesten für die eigentliche Energieerzeugung und -verteilung arbeitete, also Betreiberin von Kraftwerken und Stromnetzen war. Zweitens: Steenbergen war vergleichsweise reich gewesen, und Reichsein war anstrengend. Sowie man viel Geld auf einmal ausgab, bekam man von allen Seiten Post und wurde in komplizierte Beratungs- und Bonussysteme eingebunden, die verwaltet werden mussten und die neben Anlagetipps auch so unglaubliche Dinge wie Golfen im Naturschutzreservat, Jungfrauen-Beglücken in Themenbordellen oder Bären-Massakrieren in Sibirien versprachen. Seien Sie nicht dumm! Denken Sie an die Inflation! Machen Sie Schulden und zwar bei uns! Dann bekommen Sie ein einmaliges Jagderlebnis über den Buchten des Baikalsees dazugeschenkt! Das müssen Sie mitnehmen! Wenn Sie zögern, tut es ein anderer! Wer weiß, wie lang es den Euro noch gibt! Oder Bären!

Irgendwann floh Richard in die Küche und holte sich noch ein Bier. Kein Wunder, dachte er wütend, dass man angesichts dieses skandalösen Ausverkaufs einen Hau kriegte und anfing, nach Atlantis zu suchen. Der alte Steenbergen war ja fast noch zu beglückwünschen, dass er so ein – ja: vernünftiges Hobby gehabt hatte, das ihn vom Gebrauch seiner vielfältigen Reichenmöglichkeiten abhielt.

Und dann fragte Richard sich, weshalb er einfach automatisch annahm, dass Steenbergen sich wirklich hatte abhalten lassen. Das konnte man doch gar nicht wissen. Der Typ war zwanzig Tage im Monat auf Reisen gewesen, da konnte gut und gern eine kleine Safari dabei gewesen sein. Vielflieger wie er packten so was vielleicht in ein verlängertes Wochenende. Und wenn man der Theorie folgte, dass sich im Leben alles irgendwie ausglich, dann musste Steenbergen in der Tat irgendwas angestellt haben. So ein Tod wie seiner, das sah mächtig nach Strafe aus. Nach Schicksal. Nach einem Strippenzieher ganz weit oben, der sauer war wegen der Bären und noch so einigem anderen und der sich jetzt auch mal – ein Mal – amüsieren wollte. Ha, ha.

 

Eine Viertelstunde vor Mitternacht rief Richard schließlich bei Fred an. Fred war so was wie sein freier Mitarbeiter, ein Lehramtsstudent, der keine Arbeit ablehnte, weil er seinen vierjährigen Sohn irgendwie mit durchbringen musste. Richard dachte kurz an Steenbergen, während er wählte: Auch der hatte in sehr jungen Jahren ein Kind gezeugt, doch offensichtlich hatte das seine Karriere nicht behindert.

Irgendwer hob ab und meldete sich nicht, das machte Fred immer so: Er lauschte gespannt ins Telefon wie ein ganz kleiner Junge.

»Fred?«

»Richard?«

»Genau. Du, Fred –«

»Mann, ich hab gerade an dich gedacht.« Freds müde Stimme gewann rasch an Kraft. »Sag mir, dass du Arbeit hast.«

»Na ja«, sagte Richard mit Blick auf Steenbergens Laptop, mit dem er zuletzt versucht hatte, sich eine Bahnverbindung zu dem ominösen Totenmaar herauszusuchen. »So was in der Art schon.«

Fred kaute nun hörbar, das tat er oft beim Telefonieren. Vermutlich legte er sich extra Knabbereien neben den Apparat, um immer gerüstet zu sein, wie für eine Bahnfahrt. »Krass. Dachte schon müsste in diesen befeuerten – mhm – Pfeudo-Veggie-Laden zurück.« Er schluckte. »Ich hab ja rausgekriegt, dass die mit Tiefkühlgemüse aus Spanien kochen und das ist so was von verlogen, echt, und das hab ich Markus auch gesagt, wenn du verstehst, und jetzt zurückmüssen ist voll Kacke.« Er machte eine Pause und raschelte dabei mit irgendeiner Tüte. »Na ja, ­immerhin nehmen sie kein Fleif.«

»Fred«, sagte Richard, »hast du eigentlich ein Auto?«

Nun blieb es still. Für Freds Verhältnisse sehr lange still. »Rick«, sagte er dann völlig klar.

»Also ja.«

»Mann, du, Rick, ich weiß, ich weiß, aber wir brauchen das. Ich muss Simon morgens in die Kita bringen, echt, und das schaffen wir mit der Bahn nicht. Und setz du mal so einen kleinen Knopp bei Regen aufs Fahrrad, und dann muss ich ja über die Zoobrücke, und du weißt, was da für ein Verkehr ist, also das ist mir auch einfach zu gefährlich, Rick, denk nur mal an all die Laster, die da morgens –

»Halt«, sagte Richard. »Fred, ich brauche dein Auto. Und dich, zum Fahren.«

»Oh«, sagte Fred.

»Hast du morgen Zeit?«

»Oh«, sagte Fred wieder. Und: »Na klar, für dich doch immer.«

»Wir müssen ans Totenmaar«, sagte Richard. »Das ist in der Eifel, da kommt man von hier aus schlecht hin. Zu wenig öffentliche Verkehrsmittel. Liegt ein bisschen einsam, dieses Maar –«

»Ich hab davon gehört«, sagte Fred heiter. »Da ist dieser ENERGIE-Typ gestorben, an Kohlendioxidvergiftung, ich hab am Boden gelegen, echt …!«

»Fred!«, sagte Richard streng.

»Du etwa nicht?«

Richard seufzte. »Morgen früh um zehn bei mir.«

»Okay. Ricky?«

»Was?«

»Ich muss es dann in bar haben.«

»Na klar, Fred.«

Fred lachte. »Gibt es da wirklich keinen Bus hin, ans Totenmaar? Oder werden wir jetzt alt?«

»Keinen Bus, den ich erreichen würde«, sagte Richard steif.

Fred lachte wieder. »Also gut, Rick, bis dann.«

Eine alte Frau.

Ja, das war schlimm.

Ach, die hat Sie also gerührt?

Natürlich. Ich bin doch kein Unmensch.

Sie hätten sie leben lassen können.

Soll ich Ihnen mal was sagen: Das da in Steenbergens Haus, das war ein Superjob. Das war der Hammer, ich bin da rein und hab diesen Ökoheini voll abgezockt, und der hat es noch nicht mal gemerkt! Der hat mir alles geglaubt, der hat mich vergessen, als ich aus der Tür raus war! Das ist es, was ich meine mit: Hackersein.

Die alte Dame hatte Sie sofort durchschaut.

Die hätte mir auch geglaubt. Ich war bloß in dem Moment zu vernagelt. Ich habe falsch reagiert. Als sie mich beschuldigt hat, ich wär nicht von Kabel Deutschland, da haben meine Nerven versagt, weil ich einfach nicht damit gerechnet habe. Die alten Damen glauben mir sonst immer! Und die hier, die war auch nicht anders, die hatte nur Langeweile und wollte diskutieren. Ich hätte einfach cool bleiben müssen und ihr eine Geschichte erzählen. Das wär’s gewesen. Aber ich war nervös … Andererseits: Ohne sie wäre ich nie rüber in Steenbergens Haus gekommen, also hatte die Sache dann doch ihr Gutes.

Sagen Sie mal: Was ist das eigentlich für ein Gefühl, wenn ein Mensch unter Ihren Händen stirbt?

Wollen Sie mir jetzt ein schlechtes Gewissen machen?

Nein, es interessiert mich. Ehrlich.

Essen Sie eigentlich Fleisch? Und Eier? Trinken Sie Milch?

Was hat das damit zu tun?

Dann sagen Sie doch mal: Was ist das eigentlich für ein Gefühl, ein Wesen zu essen, das Ihretwegen ein Scheißleben hatte und elend gestorben ist? Was ist das für ein Gefühl, zu wissen, dass tausende Kälbchen in dunklen Ställen an Gumminippeln zutzeln müssen, damit Sie ­Ihren Joghurt zum Frühstück kriegen? Und wie die Hühner gehalten werden, das wissen wir ja alle. Glauben Sie, ich bin grausamer als ein normaler Durchschnittsbauer?

Sie haben doch ein ökologisches Motiv.

Nein. Ich habe das fürs Geld gemacht. Übrigens esse ich auch Fleisch. Ich wollte Ihnen nur mal die Verhältnisse geraderücken.

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