Müllers Morde

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18.37 Uhr

Frau Zangerles Hand fiel schlaff auf den Tisch zurück, als Müller sie losließ. Dass sie noch atmete, glaubte er nicht, wenn, dann war die Atmung sehr schwach. Um ihren Puls zu fühlen, war er selbst zu nervös. Aber sie sah tot aus, oder zumindest komatös und an der Schwelle zum Abnibbeln, und war das nicht ein ungeheuerliches Glück? Nie hätte er selbst diese Szene so authentisch arrangieren können: Frau übern Küchentisch gesunken. Er hätte sie in ihr Bett oder zumindest auf den Fußboden drücken müssen, um sie mit einem Kissen ersticken zu können, es hätte also einen Kampf gegeben, und er hätte sie an Ort und Stelle liegen lassen müssen, denn im Tod, das wusste er von Steenbergen, versagten die Schließmuskeln, und da, wo der Urin war, musste man später auch die Leiche finden. Nein, so wie es nun gekommen war, so war es viel, viel besser. Außerdem hatte die gute alte Frau Zangerle verraten, dass es einen Weg rüber in Steenbergens Haus gab. Vielleicht über einen Durchbruch auf dem Speicher? Oder sie hatten einen gemeinsamen Luftschutzkeller? Genau, einen Luftschutzkeller, den gab es doch in vielen von diesen Häusern, die zwischen den Kriegen erbaut worden waren. Müller warf einen letzten prüfenden Blick auf die alte Zangerle und ging nachsehen.

* * *

Richard räumte den Atlantis-Tisch beiseite und steckte den Schlüssel ins Schloss: er passte. Er ließ sich nicht leicht drehen, aber mit etwas Druck war es kein Problem. Richard drehte nochmals, zog dann am Schlüssel und nahm das Küchenmesser, um die Tür freizuschneiden. Unter seinen tastenden Fingern spürte er den Rahmen der Tür, das Blatt und die schmale Lücke dazwischen, in die er das Messer stoßen musste. Doch sowie das Messer in der Tapete stak, erkannte Richard, dass die Arbeit bereits getan war: Ein scharfer Schnitt verlief rund um die Tür, in der steifen rosenberankten Tapete so unsichtbar, dass Richard ihn mit bloßem Auge nicht erkannt hätte. Aha, dachte er voller Genugtuung. Also doch. Ein geheimes Zimmer in Steenbergens Haus. Mit neuer Energie drehte er den Schlüssel und drückte gegen die Tür, doch nichts tat sich: Ihr fehlte die Klinke.

* * *

Irgendwann kurz vor sieben

Ein Knall. Müller fiel vor Schreck fast in die Wäschetruhe, die er gerade zur Seite gerückt hatte, da war etwas gefallen, dort oben, wo die alte Frau Zangerle lag, das konnte nicht sein. Nun war alles mäuschenstill, und Müller spürte sein Herz pumpen. Als Kind hatte er einmal einen unheimlichen Traum gehabt: Er schlief, und als er aufwachte, saß neben seinem Bett eine böse alte Frau, die ihn aus gierigen Augen stumm anstarrte. Er hatte völlig reglos gelegen, die Luft angehalten, sich tot gestellt bis es fast stimmte, sieben Jahre alt, und die funkelnden Augen der Alten sagten: Das ist genau das richtige Alter, mein Knecht. Man konnte sie nicht einfach wegblinzeln, sie hatte noch eine ganze Weile neben dem Bett des kleinen Jungen gesessen, und manchmal, in den dunklen Nächten, war sie wiedergekommen. Er hatte es an der Kälte gespürt, derselben bewegten Kälte, die auch hier im Keller herumkroch. Dann hörte er ein Rascheln von oben. Tot gestellt. Plötzlich wusste er, was los war.

* * *

Richard ertastete das Loch, in das die Klinke gesteckt werden musste, er pulte es frei, und weil er so angespannt war, hätte er kurz darauf schon nicht mehr sagen können, ob das Papier der Tapete an der Stelle zuvor schon eingedrückt gewesen war oder nicht, er schätzte: ja. Auf jeden Fall fehlte immer noch die Klinke. Kurz dachte Richard darüber nach, die Tapete komplett abzutasten, weil sie in ihrem wilden Gerank vielleicht sogar Dinge verstecken konnte, möglicherweise war hier irgendwo zwischen den Rosen eine Klinke an die Wand geklebt, die man vor lauter Schräge und Dämmerlicht und Trauerflor nicht sehen konnte. Doch da war nichts. Vielleicht, dachte Richard innerlich seufzend, irgendwo beim Schlüsselbrett. Und begab sich nach unten.

* * *

Etwa sieben

Das Entsetzen machte aus Frau Zangerles Mund ein großes, schreckliches O. Sie hielt den Hörer ihres Telefons in der Hand, doch die Hand war herabgesunken und die ganze Person sah klein und runzlig aus und furchtbar ängstlich dazu. Müller nahm ihr sanft den Hörer aus der Hand und horchte: Da war nur das Freizeichen. Gut. »Frau Zangerle«, sagte er, und legte ihr den Arm schwer um die Schulter, »wo ist denn das Wohnzimmer?«

Stumm wies sie auf eine Tür.

»Sie haben doch sicher eine Couch?«

Zangerle nickte. Er sah, dass sie weinte. Tränen liefen über ihre faltigen Wangen, er sah kleine weiche Härchen darauf, wie bei einem Kind, und Altersflecken, darüber dünnes weißes Haar in ordentlichen Wellen, wie nur noch ganz alte Frauen sie trugen. Es war ein schwerer Gang. Er wollte nicht wissen, wie alt sie war. Sie schluchzte unterdrückt, sehr unterdrückt, irgendwie war es fast schade, dass der Zweieinhalbmeter-Enkel nicht kam. Doch niemand hielt sie auf. Der Weg war frei für Müller zu tun, was er tun musste. Da war die Couch. Es war ein antikes, fest gepolstertes Rosshaarsofa mit grünem Chenillebezug, nicht sehr bequem, dachte Müller, nicht so authentisch wie der Küchentisch, aber eine Alternative gab es nicht. »Bitte setzen Sie sich«, sagte er ernst, und Frau Zangerle setzte sich, den Blick gesenkt, die Knie fest zusammengepresst.

»Liegen Sie denn manchmal hier auf der Couch?«, fragte Müller, und sie schüttelte trotzig den Kopf, machte aber eine unwillkürliche Bewegung hin zu der Decke, die gefaltet auf einer Armlehne lag.

»Doch, tun Sie«, sagte Müller, »und Sie gucken von hier aus fern.«

Zangerle hob den Blick zum Fernseher in der Ecke und nickte stockend. Neue Tränen liefen über ihre Wangen. Müller war nahe dran, sie anzuschreien, denn sie zwang ihn auf die falsche Seite, das hier war nicht richtig, diese alte Frau verlangte ihm etwas ab, das er nie getan hätte im wirklichen Leben. »Jetzt«, sagte er rau, »ziehen Sie die Schuhe aus.«

Sie streifte ihre Pantoffeln ab.

»Und legen sich hin.«

Da schaute sie auf, ihr heftiger Blick sprang ihm ins Gesicht, er schrak zurück; sie erschrak selbst und schniefte und fasste sich und sagte so nüchtern sie konnte: »Der Zugang ist auf dem Speicher, ich zeig es Ihnen, wenn Sie wollen.«

Müller starrte sie an und etwas Warmes fiel auf seine Hand, er wischte es weg. »Bitte legen Sie sich hin«, flüsterte er.

»Es ist kein Problem für mich, ich schaffe die Treppe noch ganz gut«, sagte Frau Zangerle tapfer.

»Vielen Dank«, sagte Müller, »ich werde es finden.«

»Besser ich komme mit«, sagte Frau Zangerle. »Der Aufgang ist versteckt.«

»LEG DICH HIN!«, schrie Müller, was er sofort bereute, denn Zangerle schlotterte nun am ganzen Körper und sah ihn an, als sei er ein Monster. »Frau Zangerle, bitte legen Sie sich hin«, sagte er in wieder einigermaßen gemäßigtem Ton.

Sie konnte sich kaum bewegen, so sehr bebte die alte Frau, doch schließlich schaffte sie es, sich hinzulegen. »Sie wollen mich töten!«, stieß sie dann von irgendeiner neuen Energie beseelt hervor und richtete sich wieder auf.

»Nein«, sagte Müller. »Ich will nur auf den Speicher.«

»Warum?«

Er zuckte die Achseln. Neben der Decke lag ein großes Kissen. »Passen Sie auf«, brachte er hervor und hasste sich, weil er schniefen musste, »ich tue Ihnen nichts, ehrlich. Sie legen sich jetzt einfach mal kurz hin und ruhen sich aus. Dieser Anfall da eben, der war ja –«, er mied ihren Blick, »erschreckend. Sie müssen sich erholen. Ich gehe in der Zwischenzeit kurz auf den Speicher –«

»Hören Sie auf«, sagte die Alte müde, »wissen Sie was, ich wollte immer in Würde sterben. In Würde, und nicht allein. Davor hatte ich große Angst. Ich danke dir, Gott«, diese Worte waren nicht mehr an Müller gerichtet, »dass du mich immer gehalten und getragen hast und dass mein Leben so schön war. Für diesen jungen Mann hier danke ich dir nicht, aber immerhin muss ich nicht allein gehen.« Sie richtete ihre Augen wieder auf ihn. »Sie werden Ihr Leben lang an mich denken«, verfluchte sie ihn mit klarer Stimme, und Müller wusste, dass diese Bürde in der Tat eine schwere war. »Ich habe zum Glück nur kurz mit Ihnen zu tun, Sie aber werden mich mit sich herumschleppen an jedem schönen Tag, der Ihnen bleibt.«

Müller senkte den Kopf und nahm das Kissen.

»Und ich bin schwierig«, sagte die alte Dame und kicherte fiebrig. »Das mit der Würde zum Beispiel, ich wusste immer, das krieg ich nicht hin.«

Oh doch, dachte Müller höchst aufrichtig und sah sie an und sah in blitzende, lebendige Augen, und etwas Warmes, Schleimiges landete in seinem Gesicht. Spontan würgte er: Sie hatte ihn angespuckt. Da drückte er sie endlich in die Ecke ihrer Couch, sie wehrte sich, doch herzzerreißend schwach. Er hielt ihr einfach das Kissen aufs Gesicht und presste ihren Kopf tief in die Rosshaarpolster. Diesmal musste sie wirklich sterben.

* * *

Richard kehrte mit einer Auswahl an Klinken zurück, die er im Haus gesammelt hatte, drei Stück: Eine hatte auf einer Heizung gelegen, die beiden anderen stammten aus einer Tür. Auf gut Glück steckte er eine von ihnen in das passende Loch, drückte, drückte fester, drehte am Schlüssel, prüfte noch mal, ob wirklich keine Scharniere da waren, da waren wirklich keine, also waren sie auf der anderen Seite, und die Tür musste gedrückt werden, also drückte er – und sie ging auf. Dann stand er in einem Raum, der gleichzeitig überraschend und enttäuschend war. Das Überraschende an ihm war seine Größe. Dieser Trockenboden sah nicht nur weitläufig aus, er war tatsächlich riesig. Er musste die ganze Länge der Häusergruppe einnehmen, klar: Das war ein gemeinsamer Boden, damit konnte man viel mehr anfangen, lange Wäscheleinen aufspannen, Luft zirkulieren lassen, und vielleicht hatten die Hausmädchen sich hier auf ein Zigarettchen getroffen, wenn sie Feierabend hatten. Ein schöner, dunkler Raum. Trotzdem war Richard enttäuscht von seiner Entdeckung, denn dieser ganze großartige dämmrige Boden schien völlig leer zu sein. Ein paar alte Drähte hingen tatsächlich als Wäscheleinen zwischen den Kehlbalken des Dachstuhls, vier kleine Dachfenster spendeten Licht, so dass man sich umsehen konnte, doch zu sehen war da nichts. Nur altes Holz und die Rückseite der Dachziegel und vier gemauerte kleine Kabuffs mit Türen, die allesamt aussahen, als würden sie nie, niemals geöffnet. Eine davon war sogar mit Brettern vernagelt. Es gab keine alten Truhen, keine Abseiten, nicht einmal eine Dämmung, hinter die man irgendetwas Kostbares hätte stopfen können. Der Raum war einfach leer. Richard suchte noch ein wenig und fand in einer Ecke ein altes Handtuch mit einer gruselig vermoderten Babypuppe darin, dann gab er auf. Er ging zurück in Steenbergens Rosenkabuff, schloss die Tür hinter sich, ließ Schlüssel und Klinke für die Nachwelt stecken, drückte sich wieder an den nicht umfassend untersuchten Papierstapeln vorbei und setzte sich im Wohnzimmer auf die Ledercouch. Es war schon Abend, und er hatte nichts erreicht. Jedes einzelne seiner hundert Kilos drückte ihn schwer auf das kühle Leder. Von draußen hämmerte Regen gegen das Glasdach des Wintergartens. Richard seufzte. Er traute Steenbergen nicht zu, ermordet worden zu sein. An dem Typen war doch kaum was dran, der war nur brillant in seinem Fach gewesen, und vielleicht noch in Einrichtungsfragen, aber ebenso gut konnte es sein, dass hier eine typische Junggesellennotmöblierung zufällig in ein Haus geraten war, dem gerade das hervorragend stand. Und sonst? Der Nachlass enthielt keine Sportutensilien, keine Filmsammlung, keine Spur eines Zeitungsabonnements, keine nennenswerte Bibliothek. Wahrscheinlich hatte Steenbergen nicht mal eine Meinung besessen. Was sollte er da ausrichten? Phil-Collins-Alben auf satanische Botschaften abhören? Sich ins konservative Umweltmanagement einarbeiten? Steenbergens unverständliche Doktorarbeiten entschlüsseln? Richard gähnte. Das Geräusch der fallenden Tropfen auf den Fenstern machte ihn schläfrig. Es war düster im Raum. Steenbergens Couch war erstaunlich bequem. Wenn man das blöde Leder erst einmal warm gesessen hatte, mochte man gar nicht mehr aufstehen. Richard schloss die Augen. Er war hungrig. Er würde jetzt heimfahren, sich eine große Portion ökologisch nicht korrekt angebauter Ofenpommes reinziehen und abends Dr. House gucken. Hier gab es nichts zu holen, und zu Hause hörte man die Schritte der Nachbarn im Stockwerk darüber zwar viel lauter, aber es war warm und es –

 

Richard war plötzlich hellwach.

Schritte!

Er lauschte angestrengt. Er saß reglos. Er schloss die Augen, um besser zu hören. Er atmete kaum.

Das Geräusch wiederholte sich nicht.

Nach einer endlosen Weile, in der es nur einfach immer weiter geregnet hatte, stand Richard auf. Da war etwas gewesen, nicht nur ein Geräusch, sondern eine charakteristische Abfolge, ein: Laufen. Es mochte eine Täuschung gewesen sein oder ein Tier, aber er musste dem nachgehen.

So lautlos das auf dem alten Parkett möglich war, schlich ­Richard zum Treppenhaus. Das Geräusch war von oben gekommen. Jemand war im Haus. Jemand, der vermutlich nicht ahnte, dass er Gesellschaft hatte, denn von außen konnte niemand sehen, dass Richard sich im Haus aufhielt, die Lichter waren aus, und es stand kein Auto draußen. Langsam bewegte er sich auf die Treppe zu. Eine Waffe. Sollte er nicht eine Waffe haben? Da hörte er es wieder, diesmal deutlicher: Schritte. Schwere Schritte. Ein Klopfen. Und es kam bestimmt nicht aus dem ersten Stock, dazu war es zu leise. Die Schritte und das Klopfen mussten von ganz oben, vom Dachboden kommen.

* * *

19.10 Uhr

Er stand in Steenbergens Haus. So leicht war das gewesen: einfach nur in der Nachbarschaft klingeln und auf den Speicher marschieren. So furchtbar leicht. Müller schluckte und schritt Steenbergens Speicherteil ab. Er hatte einen Lichtschalter gefunden, ein altes Drehding, und nun betrachtete er alles ganz genau im Licht einer funzligen Glühbirne. 17c besaß einen Zugang zum großen Gemeinschaftsboden, eine hölzerne Tür. Müller klopfte ihren Rahmen ab und begutachtete das Schlüsselloch. Soweit er das sehen konnte, steckte der Schlüssel auf der anderen Seite. Und der Spalt unter der Tür war recht breit. Mit etwas Glück würde der alte Trick mit der Zeitung und dem herausgestoßenen Schlüssel hier funktionieren. Wenn nicht, würde sich ein anderes Hilfsmittel zum Öffnen finden. Müller sah sich um: Natürlich war weit und breit keine Zeitung auf dem Speicher, auch in seiner Werkzeugtasche nicht. Aber die gute alte Frau Zangerle, die würde eine haben. Müller zögerte ein wenig. Er ging nicht gern wieder runter in ihre Wohnstube. Doch er brauchte die Zeitung. Er musste.

* * *

Richard betrat die kleine Kammer und abermals überwältigte ihn der Eindruck von Enge. Er holte tief Luft, um die Beklemmung abzuschütteln, dann stand er und lauschte. Da war nichts. Nur der Regen tropfte gleichmäßig auf das blinde Glas des Dachfensters und färbte sich blutrot im Widerschein der schrecklichen Tapete. War da wirklich jemand auf der anderen Seite? Und wenn ja, war das so ungewöhnlich? Schließlich konnten alle Nachbarn jederzeit auf den alten Trockenboden gehen, sich dort treffen und Schwätzchen halten. Doch Richard glaubte das nicht. Der Boden hatte verlassen ausgesehen, seit Jahrzehnten ungenutzt. Er dachte an die vermoderte Puppe und an die mit Brettern vernagelte Tür. Und war da nicht ein gespanntes Lauschen von jenseits der Wände?

Wenn man wusste, wie unheimlich groß der Raum auf der anderen Seite war, dann gewannen die Rosenranken der Tapete tatsächlich eine neue Qualität, eine Art perverse Schutzfunktion. Das Mädchen, das einst in diesem Zimmer leben musste, hatte sich vor dem riesigen dunklen Speicher gefürchtet, kein Zweifel. Denn dort auf dem Speicher mochte alles Mögliche herumspuken, dort konnten die Hausherren aus der Nachbarschaft erscheinen und Einlass erzwingen, von dort aus konnte man belagert, belauert und belauscht werden. Und vielleicht geschah das sogar gerade jetzt. Vielleicht presste in diesem ­Moment jemand sein Ohr gegen die Tür, vielleicht an genau der Stelle, wo Richard nun seins gegen die Tür presste, natürlich von der anderen Seite. Vage dachte Richard daran, dass er kürzlich gelesen hatte, Ohrabdrücke seien ebenso individuell wie die Fingerabdrücke eines Menschen, dann meinte er, ganz in der Nähe Schritte zu hören. Tatsächlich. Er war fast erleichtert. Solide, feste Schritte. Nichts Geisterhaftes. Sie kamen näher. Sie waren da.

* * *

19.15 Uhr

Müller versuchte, das Grauen, das in diesem schrecklichen alten Haus herrschte, abzuschütteln, indem er schnell machte. Schnell auf den Speicher zurück, schnell zu Steenbergens Tür, schnell die Zeitung –

Jemand nieste.

Müller stolperte zurück und starrte die Tür an, unter der er in der nächsten Sekunde eine Zeitung hindurchgeschoben hätte. Einen kurzen Moment spürte er echte Panik, die ihn jäh und kalt ergriff: Dort, in der Wohnung des Toten, war jemand. Auf der anderen Seite.

* * *

»Hallo«, sagte Richard, »wer ist da?«

Er hörte heftiges Atmen.

Er öffnete die Tür.

* * *

Immer noch Viertel nach

Miller he’s a killer, Miller he’s a killer, Miller he’s a killer, raste es durch Müllers Kopf. Ich bin Miller der Killer von Kabel Deutschland. Er stand reglos, gebannt vom dunklen Blick ­eines hünenhaften Kerls, der kaum durch die Tür passte, ein Typ mit Pferdeschwanz und Schurwollepullover, ein überdimensionierter, höchst realer Öko-Fundi aus der guten alten Zeit. Müller räusperte sich, zerknüllte die Zeitung in seiner Linken und blickte zu seiner Werkzeugtasche.

»Hallo«, sagte der Hüne abwartend.

»Hallo«, antwortete Müller verbindlich und räusperte sich wieder. Verdammt, er hatte noch Handschuhe an. Rasch versteckte er die Hände hinter dem Rücken. Das hier war kein GAU mehr, das war der Untergang. Der Typ hatte ihn gesehen, der konnte ihn beschreiben, und das war keiner, der sich widerstandslos zu einer Couch führen und – nein, der hier, der würde sich wehren. »Müller von Kabel Deutschland«, krächzte er und musste sich wieder räuspern. Um nicht noch seltsamer zu erscheinen, versuchte er ein Lächeln. »Mann, haben Sie mich erschreckt.«

Der Hüne lächelte zurück, aber misstrauisch. »Sie mich auch. Ich hab Sie von unten gehört. Ich dachte, da wären Einbrecher unterwegs.«

Müller lächelte wieder, stopfte die Handschuhe, die er sich schnell hinter dem Rücken ausgezogen hatte, in die Hose und hob seine Werkzeugtasche auf. »Nein, nein, wir müssen bloß die Anschlüsse überprüfen, wir vermuten eine Störung in einer der Leitungen aus dieser Wohnanlage, was ein bisschen ärgerlich ist, weil die Nachbarschaft deshalb nicht richtig fernsehen kann.« Er gähnte, um seine Anspannung zu verbergen. »Ich bin schon seit acht Uhr morgens unterwegs, und ich finde die Störung einfach nicht, ich komme eben von der Frau Zangerle, da war auch nix, und da dachte ich, vielleicht haben die hier irgendeinen alten Anschluss auf dem Dach, der sich weiß der Geier wie auswirkt.« Er rieb sich die Stirn und linste den großen Typen vorsichtig unter seiner Hand hervor an, was er da improvisiert hatte, war technisch gesehen Blödsinn, aber der Hüne schien es zu fressen. Die allermeisten Leute kannten sich mit Haustechnik überhaupt nicht aus.

»Tja«, sagte der Hüne und blickte in Richtung einer Stütze. Dort hing tatsächlich noch ein alter Stromkasten aus der Oberleitungszeit. Kabel wanden sich heraus, liefen die Stütze hinunter und verschwanden im Boden.

»Tja«, sagte Müller, jetzt mit einem echteren Lächeln. »Aber ich habe schon nachgesehen, die Störung kommt nicht von dort.« Er wandte sich ab. »Ciao.«

»Wiedersehen«, rief der Hüne. Es klang irgendwie zögernd, als wollte er noch etwas sagen. Und da war es, als ob irgendein Faden an Müller zog und ihn zurückdrehte.

»Ach so, Moment mal –« Du musst in Steenbergens Haus, rügte er sich. Noch so eine Tour wie heute ist nicht drin. Du kannst nicht den Hausschlüssel von der Zangerle mitnehmen, viel zu auffällig, und der würde auch nichts nützen, denn du darfst dich von diesem Tag an nie mehr hier blicken lassen. Jetzt musst du rüber, jetzt sofort in dieses blöde Haus an diesen blöden Steenbergen-Computer, unverzüglich, auf der Stelle, now. Er räusperte sich wieder und schaute zu dem großen Mann, der hatte sich nicht gerührt und blickte ihn nachdenklich an. »Sind Sie zufällig aus 17c?«, fragte Müller ihn.

»Dies ist 17c, ja.«

Müller machte einen Schritt auf ihn zu. »Gott sei Dank«, sagte er froh, »ich versuche schon seit Tagen, Sie zu erreichen. Sie sind der Einzige, bei dem wir noch nicht nachschauen konnten, Herr –« Er zückte sein Klemmbrett.

Der Hüne schüttelte den Kopf. »Sie meinen Herrn Steenbergen. Der ist tot.«

»Oh«, sagte Müller. »Mein Beileid. – Aber könnte ich vielleicht trotzdem kurz ins Haus, nur mal eben nach dem Kabelanschluss schauen, das dauert maximal eine Viertelstunde, und die Nachbarn werden es Ihnen danken.«

»Tut mir leid«, sagte der Hüne darauf. »Ich kann Sie nicht hineinlassen. Ich bin kein Angehöriger von Herrn Steenbergen, ich bin selbst nur da, um etwas zu überprüfen.«

Eine Pause entstand. Müller blickte den Öko-Typen interessiert an, und der schien etwas von seiner Sicherheit zu verlieren. Etwas überprüfen? Was sollte das denn sein?

»Es geht ganz schnell«, sagte Müller schließlich, nachdem der Große sich nicht weiter erklärt hatte. »Ich schaue mir den Hausanschluss an, mache den Fernseher an, fahre den Computer hoch und telefoniere einmal. Das ist alles, und vielleicht können dann die Nachbarn heute Abend wieder störungsfrei fernsehen.«

Der Typ hob die Achseln. »Leider geht das nicht. Ich kann Ihnen nur die Adresse des Nachlassverwalters von Herrn Steenbergen geben, mit dem können Sie einen Termin ausmachen.«

»Der Nachlassverwalter«, sagte Müller enttäuscht, »wird der sich denn Zeit nehmen hierherzukommen?«

Sie sahen sich zweifelnd an, und der Hüne hob abermals die Achseln, diesmal bedauernd. »Mehr kann ich Ihnen nicht anbieten«, sagte er, doch es klang nicht mehr ganz so bestimmt.

 

* * *

Richard ließ ihn dann doch ein, den Sowieso von Kabel Deutschland, es war ja eigentlich albern, sich zu zieren, was machte das schon, wenn die Leitungen eben mal kurz überprüft wurden und die Nachbarschaft nicht monatelang auf störungsfreien Empfang warten musste. Der Mann war auch gar nicht unangenehm, ein junger, treuherziger Typ, der artig Peters Karte entgegennahm (davon steckte mindestens ein Dutzend im Dossier) und Richard respektvoll anschaute. Dann las er die Karte und seine Augen weiteten sich, kein Wunder, bei all den Titeln und Spezialgebieten, die der Anwalt aufführte, noch dazu auf allerfeinstem Bütten.

»Glauben Sie wirklich, dass der hierherkommt, um mir mal eben die Telefondose zu zeigen?« Der junge Mann schaute bittend und ein bisschen verschwörerisch, strich sich seine dunklen Haare zurück, packte seine Werkzeugtasche fester und warf ­einen kurzen Blick durch die Tür in das dunkle Rosenzimmer.

Peter Welsch-Ruinart wird jemanden schicken, dachte ­Richard. Und dann dachte er: Ach, was soll’s, wir Proletarier müssen zusammenhalten. »Kommen Sie rein.«

* * *