Symbolische Dimension des Wohnens in der Stadt

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Mythen



Jedes Kind, das ein Papierschiffchen auf einer Pfütze fahren lässt, ist schon in einer anderen


Welt, in einem kleinen Mythos. (

Anselm Kiefer im Spiegel-Gespräch

Trümmer sind Kunst

 in: DER SPIEGEL, 27/2009.)




Mythen erklären die Welt nicht, sie sind eine von vielen möglichen Aneignungsformen der Wirklichkeit, die etwas von den kulturellen Vereinbarungen der Vergangenheit erfahren lassen..



Mythos ist ein vielgestaltiger Begriff, der häufig und ganz unterschiedlich verwendet wird. Peter Tepe, Professor an der philosophischen Fakultät der

Heinrich Heine Universität

 in Düsseldorf hat auf der Grundlage von über 100 Texten mehr als 50 Bedeutungen herauskristallisiert.



Im

Brockhaus

 findet sich der Begriff für Erzählung bzw. Ursprungs- oder Schöpfungserzählung. Die Mythen erzählen von urzeitlichen Ereignissen in Form irrationaler, märchenhafter und wundersamer Geschichten. Sie sind so alt wie die Menschheit, und sie erzählen von der allmählichen Organisation der menschlichen Gesellschaft. Es handelt sich dabei um symbolische und idealisierte Darstellungen dieser ursprünglichen Ereignisse mit dem Anspruch einer — allerdings keineswegs eindeutigen — Deutung der Welt. Mythen wurden von Generation zu Generation weitergegeben, verändert und erweitert. Indem sie damalige Wirklichkeiten in Form von „Großerzählungen“ erklärten, wurden die wirklichen Geschehnisse entpersonalisiert, die Protagonisten der Geschichten wurden zu Symbolen.



Im allgemeinen Sprachgebrauch allerdings reicht die Spannweite des Mythosbegriffs von einer unwahren Erzählung, etwas falsch Verstandenem, einer Illusion bis hin zu einer Identifikations- und Symbolfigur, die Vorbild- und Leitcharakter hat.



Schon Sokrates hatte auf der

Agora

 in Athen Mythen als Lügen lächerlich gemacht, und von dem Dichter Xenophanes ist der Ausspruch überliefert:

Wenn die Pferde Götter wären, sähen die aus wie Pferde.

 Mit diesem Ausspruch hat Xenophanes dem Muster der Projektion Ausdruck gegeben, und er hat damit wohl auch gleichzeitig die Mythen der griechischen Götterwelt ins Wanken gebracht. Mythische Potenz hat dadurch aber nicht gelitten. Dafür wird keine Götterwelt benötigt — es genügt die Ästhetik oder die Außergewöhnlichkeit eines Objektes oder einem Geschehen, das den Mythos begründet. Ansehen, Prestige, Selbsterhöhung, Heldenhaftigkeit sind Motive dazu, und Künstler waren und sind oft die Ausführenden, die Vermittler.



Tatsächlich spiegelt ein wirksamer Mythos wie eine Projektionsfläche bestimmte Bewusstseinszustände. Er kann damit auch aktuell zur Erklärung unverständlicher und problematischer Wirklichkeit genutzt werden.




Die Aufklärung wollte die Mythen auflösen, wollte sie durch Wissen und Erkenntnis entmachten. Quellen der Mythen sind aber Ereignisse, die Menschen immer wieder zustoßen. wie das bei Liebe, Erfolg, Trennung oder Tod der Fall ist. Sie lassen sich nicht „abschneiden“, aber sie lassen sich begreifen in den Epen, Tragödien, Kunstwerken, in der Poesie und auch in den baulichen Gestalten der Stadt oder in Form baulich-räumlicher Unternehmensdarstellung.



Im

Mercedes-Benz-Museum

 in Stuttgart-Untertürkheim gibt es sogenannte Mythosräume, die die Markenentwicklung von

Mercedes-Benz

 chronologisch dokumentieren. In einer Art „Zeitmaschine“, die beinahe sakralen Charakter hat, werden Geschichte und Gegenwart erzählt und Devotionalien ausgestellt. Das Unternehmen hat zielgerichtet mit dem Mythosbegriff im Sinne seiner Unternehmenskultur und -kommunikation gearbeitet. Natürlich geht es darum, die Besucher zu beeindrucken, aber die Distanz für eine vergnügliche Rezeption ist in diesem Zusammenhang durchaus gegeben.



Der Begriff des Mythos wird im vorliegenden Text im Sinne von außergewöhnlichen, individuellen und kollektiven Lebensgeschichten verwendet.

Jedes Leben ist ein Mythos

, so lautete das Thema eines Kunsttherapie-Seminars des

Berlin-Brandenburgischen Instituts für Kunsttherapie

 im Jahr 2007, das dieses Thema für mich erschlossen hat. Und tatsächlich hat jedes Leben seine außergewöhnlichen Ereignisse, die diesem Leben neue Wendungen geben und die ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben. Eine Besonderheit besteht darin, dass der Sinn gebenden Form der Ereignisse in den Lebensgeschichten nicht unbedingt ein Ursache-Wirkungszusammenhang zugrunde liegen muss. Als kollektive Wunschvorstellungen, zum Beispiel von einem anderen, besseren Leben, können solche Mythen Gruppen von Menschen erfassen. Die Menschen können sich von den Symbolen dieser Geschichten und Vorstellungen ergreifen lassen. Die „himmlischen Helfer“ finden sich in der eigenen Psyche und in dem, was menschliche Vorstellungskraft seit Menschengedenken zusammengetragen hat.




Wie ein Mythos heute wirkt, kann man an den Ereignissen um die Handaufzucht des Eisbären

Knut

 in Berlin durch seinen Pfleger nachvollziehen. Anlässlich des Todes des Pflegers gab es eine beinahe weltweite Trauer, die den Verlust dieser liebevollen Beziehung zwischen Mensch und Tier zum Gegenstand hatte. Es ist der kollektive Mythos von einem Paradies, der sich hier Bahn gebrochen hat, wo Mensch und Tier zusammenleben und der Löwe seinen Kopf in den Schoß des Mädchens legt.



Am Grab des Pflegers stehen heute noch manchmal ergriffene und weinende Menschen. Sie haben sich von dem Mythos mit seinem Symbol, dem Eisbären

Knut

, verzaubern lassen.




Der Mythos von Hausbesetzungen, die Geschichte langjähriger Kämpfe um Häuser mag die einen faszinieren, die meisten anderen abstoßen. Er findet in der heutigen Zeit nur noch einen begrenzten Kreis von Unterstützern und Nachahmern, die den Mythos „der revolutionären Tat“ wieder aufleben lassen. In den Niederlanden hat die Besetzung alter Lagerhäuser und Fabrikgebäude in jüngster Zeit wieder für Aufmerksamkeit gesorgt: Künstler, Sportler, alleinerziehende Mütter und andere Gruppierungen haben es geschafft „schlafende Riesen“ zu wecken und aus verlassenen Arealen belebte Orte zu machen, wie in der

NDSM-Werft Amsterdam

 geschehen, wo ganz real ein Spielraum für Imagination geschaffen wurde.




Arbeit am Mythos stellt sich als eine Möglichkeit dar, das Geheimnisvolle und Unerreichbare wieder ins Leben zu holen. Der Held, die Freiheit, die Heimat, das Unterwegssein, die Wildnis sind „Kunst-Stoffe“, mit denen sich arbeiten lässt. Der Tierpfleger Dörflein hat unbewusst am Mythos des Paradieses gerührt. Die „Arbeit am Mythos“, wie sie Hans Blumenberg beschrieben hat, stellt Spielräume für Imagination neben den Möglichkeiten, die die Religionen der Welt mit ihren Mythen bereitstellen, sicher. Große Geschichten, die sich in den kleinen Alltag einbetten lassen, können Anlass sein, den Mythos des eigenen Lebens wahrzunehmen und zu entfalten. Wer sich mit ihnen vertraut macht, kann sie im positiven Sinne als „Spielfeld oder als Spielzeug“ nutzen.




Wie ein Mythos, z. B. der Mythos des „Helden“ positiv wirken kann, wie man sich ihn zu Nutzen machen kann, zeigt ein Pilotprojekt des Vereins

Strohhalm

 in Berlin Neukölln, in dem türkisch- und arabischstämmige Jugendliche zu „Heroes“ gegen Unterdrückung ausgebildet werden. Das Geld kommt von der

Childhood-Stiftung

 aus Schweden, wo es schon eine richtige „Heroe-Bewegung“ gibt.



Die Beschäftigung mit Mythen und Märchen und mit den Symbolen als den „Stars“ dieser Geschichten bedeutet dann kein Abgleiten ins Esoterische, sondern spielt eine wichtige Rolle im Hinblick auf Welt- und Selbstverständnis, auf Mut und Zutrauen in das Leben und auf die so notwendigen Gemeinsamkeiten der Menschen in einer Gesellschaft.




Beispiele für den gefährlichen Umgang mit Mythen, solange sie unbewusst, unaufgeklärt und verdrängt bleiben, sind in der Neonaziszene zu finden. Durch Vorstellungen von Männlichkeit, unverletzlichem Germanen- und Heldentum verführt und vom Hass auf die Gesellschaft überwältigt, werden Jugendliche dazu veranlasst kriminelle Taten auszuführen.



Es zeugt aber auch von mangelnder symbolischer Einsicht und vom Ungeschick von Bezirksverwaltung und Wohnungsbaugesellschaft, wenn zum Beispiel ein Haus „von Linken“, für das mit den ehemaligen Besetzern Mietverträge abgeschlossen wurden, verkauft wird. Die Kosten für die Räumung, die der neue Besitzer einfordert, verletzte Polizisten, zerstörte Geschäfte und Sachbeschädigungen kosten ein Vielfaches von dem, was der Verkauf des Hauses eingebracht hatte. Ein Bewusstsein von Mythos und Symbolik, ein einsichtiger und gelassener Umgang mit den Mythen, die auch im modernen Rechtsstaat existieren, könnte solche Eskalationen verhindern.




Mythische Gesellschaften waren Opfer von Mächten, Geistern und Göttern, die das Schicksal der Menschen bestimmten und die von den Menschen durch Opfer und Riten beeinflusst werden konnten. Mythen erzählen von der Wirklichkeit solcher Mächte und von den Wendungen im Leben, aber eben nicht logisch, schlüssig, sondern interpretierend und in Distanz zum realen Geschehen. Mythen erzählen von außergewöhnlichen oder grundlegenden Lebenssituationen, in denen — auch im Leben von Wissenschaftlern und Therapeuten — Monster, Dämonen, Götter, Helden, Hexen, Prinzessinnen und Könige unterwegs sind. In jedem Leben lassen sich solche Mythen der Menschheitsgeschichte dingfest machen.




Freud hat den Ödipuskomplex zur Grundlage von Störungen in späteren Lebensaltern gemacht. Die Psychoanalytikerin Christiane Olivier sieht kleine Mädchen in der Rolle von

Jokastes Kindern

. In manchen Therapiesitzungen findet sich die Klientin in ihrer Fantasie als Prinzessin wieder, und das rosa Prinzessinnenkleid befindet sich vielleicht auch noch zuhause in einer Ecke hinten im Schrank versteckt. Kollektive Menschheitserfahrungen sind in Mythen wie auch im Unbewussten verankert. Schriftsteller, Drehbuchautoren und Regisseure bedienen sich mit großem Erfolg aus dem Fundus solcher Mythen, wie man an den Figuren von Harry Potter, James Bond oder den Gestalten aus

Der Herr der Ringe

 mühelos erkennen kann. J. R. R. Tolkien war als Sprach- und Literaturwissenschaftler der größte Experte des über 1.000 Jahre alten englischen Heldenepos

Beowulf

. Diese archaische Dichtung hat ihn zweifellos zum

Herrn der Ringe

 inspiriert und stellt wohl auch den Schlüssel zu diesem Werk dar. Der Erfolg der Filme zeigt deutlich, wie Mythen und Märchen mit ihrer Buntheit und Vielfalt und ihrem unerschöpflichen Reservoir an Bildern und Gestalten den Alltag verzaubern und mit Lust besetzen können, solange sie Kreativ-Spiel-Zeug bleiben.

 



Wer erzählt legt dar, legt aus, interpretiert, konstruiert, rekonstruiert. Der individuelle Mythos legt die eigene Wirklichkeit zurecht und spielt dabei unter Umständen auch die Rolle der selbsterfüllenden Prophezeiung. Wo die Bindekraft der Arbeit im Schwinden begriffen ist, braucht Identität andere Quellen. „Selbst-Autorisierung“ — etwas, in dem jemand sich selbst zum Ausdruck bringen kann, dadurch, mit welchem Mythen er sich in Verbindung bringt.



Je mehr die eigenen Mythen im Unbewussten bleiben, desto stärker werden sie auch unbewusst als Handlungsanweisungen erlebt und ausagiert. Die Rollen des „Terminators“, des Freibeuters, des Piraten, Odysseus als Held, Madonna oder Antigone als Person die sich geltenden Regeln widersetzt, existieren nicht nur im Außen und in den bekannten Geschichten, sondern auch in der individuellen Psyche als Teil des kollektiven Unbewussten. Menschen besitzen eine Doppelnatur, wenn nicht gar ein inneres Team widersprüchlicher Interessen. Und es ist für jeden einzelnen Menschen selbst äußerst hilfreich die eigenen Anteile zu kennen, um den Angsthasen, den Wolf oder den Löwen in sich zu bändigen, ohne ihn zu erwürgen.




Die Verbindung von eigener Lebensgeschichte oder eigener urtümlicher Lebenssituation mit Mythen der eigenen Kultur oder kollektiven Mythen der Welt ist es, die im Leben und Wohnen in der Stadt einen Ausdruck finden kann.



Bleibt Penelope Odysseus treu, wenn er über zwanzig Jahre lang seine Abenteuer in der Welt sucht? Bleibt die junge Frau ihrem Mann treu, wenn er längerfristig in einer weit entfernten Stadt arbeitet, und welche Zeichen sprechen davon in der Wohnung? Wie eignet sich die Frau ihre Wirklichkeit an, wie geht sie damit um? Wie verwandelt sie ihre Umwelt, wie ist das Verhältnis von physischer Realität und Einbildungskraft, welche Überlebensstrategie setzt sie ein, wie transformiert sie ihre Welt? Odysseus ließ sich an den Mast seines Schiffes binden, um den Gesang der Sirenen zu hören. Er erfährt dabei größte Sehnsucht, aber durch die Fesseln, die er sich selber auferlegt hat, schützt er sich, sein Ich, vor der Gefahr des Verschlungenwerdens.



Der Mythosraum in der Wohnung ist heute meist der Platz am Fernseher, wo sich die Bewohner die Soaps, die Geschichten und Seifenopern der Gegenwart „einverleiben“. Mythosraum kann auch der Platz am Computer sein, wo sich die Welt erschließt, wo Arbeit, Spiel und Entspannung möglich sind, wo sich aber auch ein Spielsüchtiger der Animation eines Computerspiels hingeben und sich von seinem selbst gewählten Mythos kontrollieren lassen kann. Es kann aber auch der Platz am Kamin oder auch der Tisch sein, an dem man sich die Geschichten erzählt, die einen berühren, und die Träume und Einfälle, die man mit den anderen teilen will. Es kann auch das Bett sein. Das Bett, ein Tisch, ein Sessel, ein Schrank, ein Bild, eine Bibliothek können in ihrer Gegenständlichkeit und Materialität Symbole sein, die den Blick auf alte Geschichten und die Möglichkeit gemeinsam Geschichten zu erfahren, zu bewahren und miteinander zu teilen, freigeben. Die Welt lässt sich so transformieren, dass man darin leben kann. Die eigene Lebensgeschichte kann an den Gegenständen dingfest gemacht werden. Die Reise durch das Zimmer kann beginnen.





Bewohnerinnen und Bewohner



Bewohner und Bewohnerinnen einer Stadt sind alle Menschen, Erwachsenen, Kinder, Frauen, Männer, Singles, Paare, Familien, Wohngemeinschaften, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, Arme, Reiche, Gesunde, Kranke, Menschen mit Behinderungen, Arbeitslose, Erwerbstätige und auch die Obdachlosen als Stadtbewohner ... und im Leben all dieser Bewohnerinnen und Bewohner spielen Gefühle eine Rolle. Ob Menschen sich in ihrer Stadt und in ihren vier Wänden wohlfühlen hängt davon ab, ob sie sich mit ihrer Wohnung und mit ihrem Wohnort identifizieren können. Es sind Gefühle von Zugehörigkeit, Stimmigkeit und Atmosphäre, die das Wohlgefühl auslösen. Es sind Zeichen, die mit ihrer Symbolqualität bewusst oder unbewusst Wirksamkeit entfalten, wenn sie solche Gefühle des Wohl- oder des Unwohl-Seins vermitteln. Die Verantwortlichen für die Herstellung der gebauten Umwelt sind auch verantwortlich für solche Zeichen und ihre Wechselwirkungen.










Die räumliche Umwelt hat, wie Alexander Mitscherlich in seinem Pamphlet

Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Anstiftung zum Unfrieden

 von 1965 ausführt, grundsätzlich prägende Bedeutung für die soziale und psychische Disposition von Menschen.

Unsere Städte und unsere Wohnungen sind Produkte der Fantasie wie der Fantasielosigkeit, der Großzügigkeit wie des engen Eigensinns. Da sie aber aus harter Materie bestehen, wirken sie auch wie Prägestöcke; wir müssen uns ihnen anpassen. Und das ändert zum Teil unser Verhalten, unser Wesen. Es geht um einen im Wortsinn fatalen, einen schicksalsbildenden Zirkel: Menschen schaffen sich in den Städten einen Lebensraum, aber auch ein Ausdrucksfeld mit Tausenden von Facetten, doch rückläufig schafft diese Stadtgestalt am sozialen Charakter der Bewohner mit

.




Schon seit Langem erforschen die Sozialwissenschaften das Beziehungsgefüge, das soziale Miteinander von Menschen in ihren Lebensumwelten. In ihren Milieustudien hat das Heidelberger

Sinus-Institut

 die sozialen Gruppen in Deutschland einer Anzahl von unterschiedlichen sozialen und kulturellen Milieus zugeordnet. Diese Milieus grenzen Gruppen von Menschen ein, die sich in Lebensstil, sozialer Lage, in ihrer Wertorientierung, in ihrem Konsumverhalten und ihren ästhetischen Neigungen ähnlich sind. Bevölkerungsgruppen oder Milieus mit Bezeichnungen wie zum Beispiel:

Etablierte, Konsum-Materialisten, Experimentalisten, Konservative, Traditionsverwurzelte, DDR-Nostalgische, Junge Kreative, Starter

 oder

Bürgerliche Mitte

 werden als Ausdruck solch kollektiver Identität sehr genau beschrieben. Untersuchungen zum Leben von Migranten in Deutschland brachten weitere, allerdings recht ähnliche Milieus zutage.



Die Begrifflichkeiten für diese verschiedenen Bevölkerungsgruppen haben keinen besonders ausgeprägten Symbolcharakter, da sie einen sehr genau definierten Bedeutungshorizont besitzen. Sie eignen sich aber als Marken, die vorwiegend von denjenigen genutzt werden, die Produkte entwickeln, die sich gut vermarkten lassen. Häuser und Wohnungen können so auch als Statussymbole dienen, und in diesem Sinne werden sie von Bewohnern verwendet, die sich in und mit ihrer räumlichen Umgebung in einer bestimmten Weise darstellen wollen.




Die „Sinus-Gliederung“ der Bevölkerung ermöglicht es, Produkte zuzuschneiden, die den jeweiligen Interessengruppen angepasst sind. Professionelle Vermieter, Investoren und Wohnungsbaugesellschaften haben mit diesen Zuordnungen ein Instrument erhalten, um den Zeitgeist und den Geschmack dieser Zielgruppen zu identifizieren und diesen im Wohnungsbau und in der Wohnungsmodernisierung umzusetzen. Selbst schwierige Objekte lassen sich mithilfe dieser Konzepte manchmal erfolgreich vermarkten und vermieten. Für die Angebote der Wohnungswirtschaft und der Möbelindustrie sind solche Forschungsergebnisse deshalb von unschätzbarem Wert. Der Milieuansatz ist ein Werkzeug, mit dessen Hilfe sich entdecken lässt, wie jemand gerne wohnt. Eine einfache Wechselwirkung wird durch Angebot und Nachfrage erzeugt, indem sich Menschen in einem auf sie zugeschnittenen Milieu spiegeln können.




Das individuelle, gute Gefühl für die Wohnung und für gutes Wohnen in der Stadt braucht aber mehr als ein gruppenspezifisches Wohnungsangebot. Mancher Bewohner ist bestrebt, sich aus seinem Milieu herauszuentwickeln, und mancher liebt gerade die gute Vermischung der Milieus, die schließlich die Urbanität einer Stadt ausmacht. Wenn aber in der Folge der unterscheidbaren Milieus nach und nach Arm und Reich, Jung und Alt, Schön und Hässlich, Klug und Dumm, Traditionsbewusst und Experimentell beginnen, sich auseinanderzudividieren, kann auf Dauer in der Bevölkerung eine paranoide Wagenburgmentalität geschaffen werden. Für das Areal des Prenzlauer Berges in Berlin hat eine solche Entwicklung eingesetzt, wie an der Literatur abzulesen ist, die über diesen Berliner Wohnbezirk produziert wird.




Die Wissenschaften erheben ihre Ergebnisse und Methoden gern zu universellen Wahrheiten. Mit den „Sinusmilieus“ treten allerdings Zuschreibungen auf, die sich für das Zusammenleben der Menschen und für die Baukultur als gefährlich erweisen könnten.



Der Psychiater Manfred Lütz vermerkt, dass es sich bei diesen stromlinienförmig angepassten Wohnmilieus durchaus um interessante soziologische Beschreibungen handelt, aber keineswegs um handfeste urwüchsige Realitäten.

Der Kitt, mit dem die blödsinnigen normalen Sinusmilieus zusammengehalten werden, ist die Verachtung. Die Verachtung der anderen. Zu welchem Milieu man gehört, bemerkt man wohl am intensivsten durch den Widerwillen, der einen in anderen Milieus überfällt. Sich selbst hält man in all seiner eigenen Spießigkeit natürlich für einen Ausbund an Normalität

 (Lütz, 2009).



Als Extremfall für solche Eingrenzungen können die

Gated Communities

 gelten, die mit Überwachung und (in manchen Gegenden der Welt Elektro-) Zäunen für die Sicherheit der Bewohner in der Begrenzung sorgen. Das Gegenteil von Sicherheit kann die Folge sein. Mental können auf beiden Seiten der Grenzen Ärger, bis hin zu Wut und Angst wachsen. Rachestimmung begünstigt Vandalismus und willkürliche Verdächtigungen. So kann aus einer guten Idee von Sicherheit und Zusammengehörigkeit eine Unkultur entstehen.



Aus wohnungswirtschaftlicher Sicht dienen die Milieustudien der Optimierung der gebauten Umwelt. In vielen Fällen mag das funktionieren, und die Bewohner fühlen sich glücklich in den an ihren Lebensstil angepassten Wohnungen. Wen dabei Widerwillen befällt, für den sind solche Milieus als Wirklichkeitskonstrukte mit sehr eindimensionaler Wechselwirkung nicht geeignet.




Ein anderer Zugang, der Menschen prinzipiell als Form-Schaffende und Gestalter ihrer Umwelt erachtet, erscheint ertragreicher zu sein. Diesbezügliche Menschenbilder sind, wie auch die o. g. Milieus, gesellschaftlich konstruiert und damit wandelbar. Sie sind jedoch hilfreich, indem sie keine sozialen Eingrenzungen vornehmen und sich eine prinzipielle Offenheit bewahren. Ein Menschenbild, dem das Prinzip zunehmender Empathie zugrunde liegt, hat Jeremy Rifkin in seinem 2010 erschienenen Buch

Die empathische Zivilisation

 vermittelt. Er konstatiert, die Menschheit müsse lernen, besser über sich zu denken. Wenn alle denken, der Mensch sei gewalttätig, gierig, egoistisch, dann bekomme man genau diese Gesellschaft in ihren wirtschaftlich und politisch egoistischen Ausprägungen.




Als Erbe der Aufklärung setzt das optimistische Menschenbild der humanistischen Psychologie darauf, dass sich menschliche Entwicklung positiv vollzieht, indem sich langfristig die besseren Modelle und Überzeugungen durchsetzen. Es begreift den Menschen als eine „Leib-Geist-Seele-Einheit“, in der die Seele, die Psyche, als das empfindungsfähige Organ des Geistes existiert, das eine positive Lebensgestaltung ermöglicht.

Solange wir die Möglichkeit haben zu zeigen, dass ein Modell der physischen Realität besser ist als ein anderes, dürfen wir darauf hoffen, eine Reihe von immer besseren Modellen zu entwickeln. Am Ende der Reihe — auch wenn sie im mathematischen Sinne unendlich ist — steht die Wahrheit, die uns sagt, wie die Welt wirklich ist

, so der Neuropsychologe Chris Frith (Frith, 2010). Als Beispiel für die Entwicklung hin zu besseren Modellen mag das Werk und die Realität

Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes

 von Paul Julius Möbius aus dem Jahr 1900 in Leipzig gelten. Die Überzeugung, das „Modell“ von Möbius, zur Minderwertigkeit der Frau, hat sich in der westlichen Welt nicht durchgesetzt. Immerhin haben auch die Wissenschaften anhand neurologischer Studien der Gehirne die Gleichwertigkeit von Mann und Frau nachgewiesen.

 




Dem positiven Menschenbild liegen eine Kultur der Hoffnung und das Prinzip der zunehmenden Empathie zugrunde. Es schafft die Voraussetzung, dass sich die Verantwortung für die Umwelt und der Zusammenhalt der Menschen ausweiten.

Allmende, Open Sources, geteilte Güter, dezentrale

 und

kooperative Wirtschaftsformen

 sind nur einige Stichworte, die auf eine Ausbreitung familiärer Empathie auf die gesamte Menschheit hinweisen. Begleiten lassen sich positive Vorstellungen von der Zukunft und einer Entwicklung zum Besseren durch die symbolische Aussagekraft von Bildern — den Bildern der Stadt und der individuellen Wohnwelten.




Auch wenn es in der heutigen Welt nicht den Anschein hat, sieht der Evolutionstheoretiker Steven Pinker in der Geschichte der Menschheit doch letztendlich eine positive Entwicklung. Die Menschen seien Gewalt gegenüber empfindlicher geworden, viele Gewaltpraktiken würden heute nicht mehr öffentlich ausgeübt. Selbstkontrolle und Vernunft führten objektiv zu einem besseren Leben. Das heißt für ihn nicht, dass er die humanistische Grundeinstellung teilt, der Mensch sei von Natur aus gut. Als Ergebnis seiner Recherche erklärt Pinker, dass Motive wie Raublust, Herrschaftstrieb und Rache, die uns zur Gewalt drängen, zur Natur des Menschen gehören, aber auch Motive, die uns — unter den richtigen Voraussetzungen — zu Frieden veranlassen, wie Mitgefühl, Gerechtigkeitsgefühl, Selbstbeherrschung und Vernunft. Es gebe Drehbücher für Gewalt, die im Verborgenen ruhen, und durch geeignete Umstände zum Leben erweckt werden können. Die Macht der Symbole lässt solche Drehbücher über Gegenstände wie Karikaturen, Fahnen, antike Heiligtümer oder die hermetischen Fantasiegebilde eines Einzelnen “erwachen”.



Wer sich mit den Wechselwirkungen befasst, kann diese dunkle Seite nicht leugnen. Konflikt, Angst, Gewalt, Hoffnungslosigkeit und Demütigungen sind Bestandteile der Geschichte der Menschheit. Die Lust am Bösen und das Böse als Möglichkeit menschlichen Handelns und Verhaltens sind so existent, wie der Glaube an das Gute im Menschen. Menschen können sich jedoch entscheiden, von welchen Vorstellungen für die Zukunft sie sich leiten lassen, ob von der Hoffnung oder von der Hoffnungslosigkeit, und sie können die entsprechenden Bilder in ihrer Lebenswelt installieren.



Es gibt im Seelenleben die Bilder, es gibt die Schaltkreise im Gehirn, die Verdrahtungen, Muster, Modelle, Systeme, Symbole, Drehbücher, wie immer man sie bezeichnen mag, und es gibt die Bilder im Außen, in der Umwelt. Menschen sind nicht grundsätzlich von den inneren Kräften Getriebene. Die Kräfte bilden sich in den Wechselwirkungen zwischen innen und außen, und in diesen Wechselwirkungen existieren Resonanzräume, Räume für freie Entscheidungen und Verantwortlichkeit. Wo Neurowissenschaftler die „Entthronung des Geistes“ und das „Ich“ als ein Märchen feiern, haben Psychologen und Kommunikationstheoretiker wie zum Beispiel Schulz von Thun (1991) schon lange das „innere Team“ entdeckt. Ähnlich wie ein Team der Arbeitswelt streiten die widersprüchlichen Muster der Psyche in einem Wettstreit der Triebe und Wünsche, die von einem „Ich“ mehr oder weniger gut gesteuert werden. Es liegt in der Verantwortlichkeit jedes Einzelnen (gesunden) Menschen, dieses Team zusammenzuhalten. Die Psychotherapie weiß seit Freud eine Menge darüber, wie das funktioniert.




Weltbilder und Menschenbilder teilen sich im öffentlichen und im privaten Raum mit. Bilder sind allgegenwärtig. In ihren Wechselwirkungen mit den inneren Bildern werden sie durch den Zugriff auf die Gefühle tätig. Die Werbung nutzt sie bekanntlich, um Menschen dazu zu bringen, bestimmte Produkte zu kaufen.



Als Ausdruck von Welt- und Menschenbildern können Wohnungen, Straßen, Quartiere — die ganze Stadt als Bild gesehen werden. In ihrer Bildhaftigkeit und durch die Atmosphäre, die sie hervorrufen, wecken sie Gefühle und bringen sich für einzelne Menschen oder auch Gruppen oder Mengen mehr oder weniger symbolisch zum Ausdruck. Der ganze Mensch als „Leib-Geist-Seele-Einheit“ ist davon betroffen und daran beteiligt: Der Leib im Stehen, Gehen, Sitzen, Liegen, Essen, Trinken, Hören, Sehen und Fühlen und in allem, was der Mensch tut. Der psychisch-emotionale Anteil liegt im Empfinden, Fühlen und Spüren der Umwelt als angenehm, behaglich, gemütlich oder kalt, fremd, lieblos, steril, langweilig … Der geistige Aspekt betrifft die Gedanken, Assoziationen, Erinnerungen, Rückschlüsse, Planungen bei allem, was s

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