Bullseye - Bull & Tiger

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Der Feigling verschwindet in der Nacht, lässt den Ort seiner Tat hinter sich, lässt meinen Bruder sterben. Bald folgen ihm die anderen, Jaws ist der Letzte, der geht.

Seine Abschiedsworte verändern mich für immer, denn er hat recht. „Das ist deine Schuld, Junge.“ Er verschwindet als freier Mann in der Dunkelheit, obwohl er einen Mord begangen hat.

Ich kann ihn nicht verfolgen. Ich bin hilflos, oder eher nutzlos, denn das ist meine Schuld.

„Kommt zurück! Ich werde euch finden, ihr Scheißkerle! Ich bringe euch um. Das schwöre ich! Ihr seid schon alle tot!“ Spucke bedeckt mein Kinn, ich schaukele meinen Bruder in den Armen, ziehe ihn an meine Brust. „Damian, es tut mir so leid. Bitte stirb nicht.“

Meine Tränen tropfen auf Damians Wangen, während ich ihn fest umarme. Ich blicke in den sternenlosen Himmel hinauf, schreie das Universum an, bettele, dass jemand Gnade mit meinem Bruder hat, weil er es nicht verdient, zu sterben. Wenn jemand verdient, zu sterben, dann ich.

Wenn ich ihm nur nicht gefolgt wäre, wenn ich nur bei Gary geblieben wäre, dann wäre das alles nicht passiert.

„Es tut mir leid“, wiederhole ich immer wieder und schaukele meinen röchelnden Bruder. Ich bin mit seinem Blut bedeckt. Es ist klebrig und warm, und mir wird davon übel.

Ich versuche, die Blutung aus seinem Hinterkopf zu stoppen, indem ich meine Hand auf die klaffende Wunde lege, aber ich spüre nur Matsch. Mir wird klar, dass dieser Matsch sein Gehirn ist. Dieser Bastard hat ihm den Schädel eingeschlagen.

„Ich verspreche dir, dass ich brav sein werde. Nur stirb bitte nicht“, bettele ich Damian an und sehe ihm in die Augen. „Ich liebe dich, Bro. Verlass mich nicht. Bitte, bitte, verlass mich nicht.“

Seine Silberkette liegt ein Stück entfernt. Die Feiglinge haben sie fallenlassen, als sie geflohen sind. Ich strecke einen Arm aus und greife danach. Ich kann jetzt alles Glück brauchen, das ich finden kann.

Mein Bruder wird nicht sterben. Er ist stark. Ein verdammter Superheld. Das sieht man daran, was er getan hat. Obwohl sie ihn so zusammengeschlagen haben, fand er die Kraft, sich aufzurichten, um mich zu beschützen. Wenn er nicht eingegriffen, sich vor mich gestellt und den Schlag abgefangen hätte, der für mich bestimmt war, dann würde jetzt ich auf dem kalten Boden liegen und verbluten. Jemand wie Damian stirbt nicht, nicht mit siebzehn, nicht, wenn sein ganzes Leben noch vor ihm liegt. So grausam kann das Leben nicht sein, oder?

Als ich jedoch Lyndsay einen hysterischen Klagelaut ausstoßen höre, begreife ich, dass das Leben tatsächlich so grausam ist. Es hat mir meinen Bruder genommen. Es hat mir den einen Menschen genommen, der es nicht verdient hat, zu sterben.

Ich senke langsam den Blick und sehe in die leblosen Augen meines Bruders, denn er ist tot … tot … wegen mir.

Ich schnelle hoch, bin schweißbedeckt.

Ich taste verzweifelt nach der Nachttischlampe, schalte sie an und atme erleichtert auf, als mir klar wird, wo ich bin. Es war nur ein Traum oder, genauer gesagt, der Albtraum, der mich seit vierzehn Jahren quält.

Ich streiche über die kurzen Stoppeln auf meinem Kopf, werfe die Laken zur Seite und setze mich auf die Bettkante. Ich lege die Hände um mein Gesicht, senke den Kopf und atme tief durch. Damians Medaillon brennt auf meiner Haut.

Mit Damians Tod begann der Niedergang meiner Familie.

Als die Sanitäter eintrafen, bestätigten sie, was ich bereits wusste. Damians Todesursache war stumpfe Gewalteinwirkung auf seinen Kopf – was nichts anderes hieß, als dass ein verfluchter Stein seinen Schädel wie eine Melone aufplatzen lassen hatte.

Die Polizei kam kurz darauf, nahm von allen die Aussagen auf, was aber keine Hilfe war, da niemand den Mord gesehen hatte. Außerdem gerieten sie in Panik.

Einige kannten die Kerle, die in die Party reingeplatzt waren, aber niemand war bereit, sie zu verraten. Die Mordwaffe hätte jeder der hundert Steine sein können, die dort herumlagen. Und ohne Beweise oder zuverlässige Zeugenaussagen, und da ein Verbrechen, wie es an meinem Bruder begangen wurde, in Detroit jeden Tag passierte, blieb der Fall ungelöst.

Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen, das heißt, niemand wurde für den Mord an meinem Bruder bestraft. Wo blieb da die Gerechtigkeit? Ich erzählte der Polizei immer wieder, wie die Täter aussahen, aber ohne einen Namen – und der Spitzname Jaws reichte nicht – und ohne Spuren, war Damian nur eine weitere Nummer in der Statistik.

Die Polizisten sahen in mir nur ein weiteres nutzloses Balg.

Meine Mutter erlitt einen Nervenzusammenbruch, während mein Vater keine Gefühle mehr zuließ. Sie sagten mir, dass es okay und nicht meine Schuld sei, aber als man meinen Bruder in sein Grab senkte – seine Leiche lag in einem weißen Sarg – war es klar, dass sie wünschten, sie würden mich begraben, nicht meinen Bruder.

Danach waren Mom und Dad nie wieder dieselben. Sie schienen einander zu hassen und sich gegenseitig die Schuld an Damians Tod zu geben, dabei hätten sie mich beschuldigen sollen. Doch das taten sie nicht. Sie machten etwas Schlimmeres. Sie vergaßen, dass es mich gab.

Doch das trieb mich nur an, das zu tun, was die Polizei nicht tat. Ich würde diese Arschlöcher finden und sie dafür bezahlen lassen.

Die spärlichen Informationen, die ich hatte, besagten, dass sie zu einer Gang gehörten. Also durchstreifte ich die Straßen und hielt nach ihnen Ausschau. Aber ich war ein Außenseiter, ein privilegiertes weißes Kind, dass da war, wo es nicht hingehörte. Monatelang suchte ich nach ihnen, doch niemand redete mit mir. Es war, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.

Verzweifelt und voller Schuldgefühle begann ich, Drogen zu nehmen, Alkohol zu trinken und mich mit Mädchen herumzutreiben – alles, um meinen Schmerz zu betäuben. Ich schmiss die Schule und ließ mich auf die falschen Leute ein, die genauso verkorkst waren wie ich. Ich bedeckte meinen Körper mit Tattoos und Piercings, weil der Schmerz mich etwas fühlen ließ. Dennoch war ich innerlich tot.

Ich wollte die Sünden auf meiner Haut darstellen, damit jeder sehen konnte, was ich getan hatte. Ich zog aus, gammelte überall herum und interessierte mich nicht wirklich dafür, ob ich lebte oder starb. Ich war so verdammt allein, aber ich verdiente es. Damian würde immer allein sein, also schwor ich mir, es auch zu sein.

Zwei verfluchte Jahre war ich kaum am Leben, glitt ins Leben hinein und hinaus, als wäre ich ein Fremder in meiner eigenen Haut. Ich hatte meine Eltern monatelang nicht gesehen, und auch wenn sie vorgaben, mich zu vermissen, war klar, dass ich sie nur an das erinnerte, was sie verloren hatten. Als ich ging, fragten sie nie, ob ich zurückkommen würde.

Eines Nachts war ich unterwegs, um etwas Gras zu kaufen, als sich meine Nackenhärchen aufrichteten. Ich wusste nicht, warum, aber als ich über die Schulter sah, war es, als würde ich nach zwei Jahren zum ersten Mal wieder zum Leben erwachen.

Ich sah ihn. Das rückgratlose Arschloch, das am Tod meines Bruders beteiligt gewesen war. Ich würde ihn nie vergessen – sein Gesicht hatte sich in meine Seele eingebrannt. Ich hatte ihn um Hilfe gebeten, und er war weggerannt. Er hatte eine Chance gehabt, sich reinzuwaschen, aber jetzt hatte er dieses Glück nicht mehr. Vielleicht hatte er meinen Bruder nicht geschlagen, aber er war an seinem Tod beteiligt gewesen.

Ich erinnerte mich an meinen Schwur, ihn umzubringen und wie die Sanitäter mir die Leiche meines Bruders aus den Armen zogen, und das belebte mich mit einem Feuer, das ich seit Ewigkeiten nicht mehr gespürt hatte. Ich war siebzehn und kurz davor, offiziell als Erwachsener zu gelten. Doch ich war schon lange vor meinem achtzehnten Geburtstag erwachsen.

Ich wusste nicht, wie ich die ständige Trauer loswerden sollte. Ich wusste nicht, wie ich damit fertig werden sollte, bis ich ihn sah.

In diesem Moment wusste ich, was ich tun musste.

Ich glaubte, dass Auge um Auge alles besser machen würde. Ich würde die Ehe meiner Eltern retten und meinen Bruder rächen. Wenn ich dieses Arschloch tötete, würde alles wieder wie vorher werden, glaubte ich. Ich war wie besessen und machte es mir zur Aufgabe, alles über einen der Männer, die meinen Bruder getötet hatten, herauszufinden.

Er hatte die Nachtschicht in einem 7-Eleven Supermarkt, was perfekt war. Ich konnte meine Überwachung in den Schatten durchführen, wohin ich gehörte. Zwei Wochen lang stalkte ich ihn, und als ich bereit war, kaufte ich auf der Straße eine Waffe, damit man sie nicht zu mir zurückverfolgen konnte.

Ich war nicht high oder betrunken, als ich in der Gasse hinter dem Laden lauerte. Ich war ruhig. Ich wartete darauf, dass er den Müll rausbrachte, was er jede Nacht um zwei Uhr tat. Als sich die Hintertür öffnete und er mit dem schwarzen Müllsack über der Schulter herauskam, begriff ich, dass meine Zeit jetzt gekommen war, der Moment, um Damian zu rächen.

Ich trat aus den Schatten, zog die Waffe aus der Tasche und zielte. Auf seinem Namensschild stand Lachlan. Zuerst war er verwirrt, aber als er mich sah, wusste er es. Er wusste, dass sein Tag gekommen war.

Der Müllsack fiel zu Boden, und er bettelte um sein Leben. Er fiel auf die Knie und bat mich für das, was er getan hatte, um Vergebung. Er sagte, es wäre ein Unfall gewesen, dass er nicht vorgehabt hätte, meinen Bruder zu verletzen, doch es war zu spät. Seine Entschuldigung bedeutete mir nichts.

Er hatte zwei Jahre gelebt, die Damian nicht gehabt hatte. Es war Zeit.

Ich fragte ihn, wo Jaws ist, aber er bestritt, zu wissen, wo er war. Das beschleunigte nur das Unvermeidliche, denn ich wusste, dass er log. Ich spannte die Waffe, legte den Finger auf den Abzug, aber als er zu schluchzen begann und sich in die Hose pisste, bat mich eine Stimme, die ich seit Ewigkeiten nicht gehört hatte, es nicht zu tun. Das würde ihn nicht zurückbringen, sondern alles nur noch schlimmer machen. Aber was konnte schlimmer sein, als mein Leben ohne meinen Bruder zu verbringen?

 

Doch die Stimme gehörte meinem Bruder und es war, als ob der Anblick seines Mörders ihn irgendwie wieder zum Leben erweckt hätte.

Die Stimme sagte mir, ich solle Lachlan vergeben, denn Damian hätte es getan. Er hätte seinen Tod akzeptiert und nun wäre es an mir, dasselbe zu tun.

Jeder Zentimeter meines Körpers wollte Rache nehmen, verlangte verzweifelt nach Blutvergießen und Vergeltung. Doch als ich in Lachlans Augen sah, wurde mir klar, dass ich nicht besser als er wäre, wenn ich ihm das Leben nahm. Ich fühlte mich so verdammt verloren, wusste aber, dass ich kein Mörder war.

Wenn ich das tat, würde es kein Zurück und kein Morgen mehr geben. Und wieder retteten mich Damians weise Worte.

Ich hatte kaum den Finger vom Abzug genommen, da fasste Lachlan mit einem Grinsen in seine Tasche. Sofort überfielen mich Visionen von Blut, Damians warmes, dickes Blut, und mein paranoider Geist sah mich in einem Grab neben dem meines Bruders. Ich würde nicht noch einmal zögern.

Ich zielte und drückte völlig gefühllos ab. Es war das erste Mal, dass ich eine Waffe abfeuerte, ein perfekter Volltreffer mitten in seine Brust. Lachlan blinzelte noch einmal, bevor er mit einem dumpfen Geräusch vornüber fiel. In der ausgestreckten Hand hielt er ein Samtkästchen, in dem sich, wie ich später feststellte, ein Verlobungsring befand.

Ich hatte ihn erschossen, weil ich dachte, dass er nach einer Waffe griff, aber in Wirklichkeit wollte er mir danken, weil ich sein Leben verschont hatte, denn er hatte dieses Leben zusammen mit jemand Besonderem geplant. Doch das ruinierte ich in dem Moment, als ich ihn kaltblütig erschoss.

In der Nacht hörte ich zum ersten und einzigen Mal Damians Stimme, ein sicheres Zeichen dafür, dass er mich nicht mehr als seinen Bruder ansah. In der Nacht starb auch Cody Bishop, und Bullseye wurde geboren.

Kapitel 5
Bull

Ich hatte nicht mehr geschlafen, nachdem ich erneut einen Albtraum durchlebt hatte, den ich am liebsten vergessen würde. Also stand ich mitten in der Nacht auf und lief fünf Meilen. Ich fühlte mich ein wenig besser, aber egal wie müde ich auch war, ich wusste, dass mich die Schlaflosigkeit im Griff hatte und nicht loslassen würde.

Im Gefängnis habe ich nicht viel geschlafen, und wenn ich es tat, dann immer mit einem offenen Auge. Scheinbar hat sich daran nicht viel geändert. Aber das darf Franca Brown nicht erfahren, denn wenn sie bei mir keine Veränderung erkennt, oder einen Anflug von Verdorbenheit an mir riecht, wirft sie mich ohne zu zögern zurück in den Bau. Und das darf ich nicht zulassen, weil ich noch viel zu tun habe.

Vor vierzehn Jahren habe ich mir geschworen, diese Scheißkerle zu töten. Und sie sind bereits tot. Sie wissen es nur noch nicht. Die einzige Information, die ich im Knast bekommen habe, ist, dass Jaws in seiner Stadt der Obermacker und ein gefürchteter Dreckskerl war.

Die anderen beiden waren bloß seine Lakaien, was hieß, dass sie die schwächsten Glieder der Kette waren. Ich werde sie finden, und sie werden mich zu ihm führen.

Jawsʾ Spezialität waren Waffen und Drogen, und er hatte eine Schwäche für Stripperinnen, weswegen ich mein Glück nicht fassen konnte, als ich zufällig das Pink Oyster entdeckte und mir ein Job angeboten wurde. Jetzt kann ich alles direkt im Auge behalten. Wenn ihn also das Verlangen packt, werde ich ihn gern mit einer abgesägten Schrotflinte davon erlösen.

Zwölf Jahre lang hat mich nur eine Sache am Leben erhalten, und das war Rache, und jetzt wird sie Wirklichkeit. Der Plan ist einfach – die Scheißkerle finden und mich dabei nicht erwischen lassen. Wie schon gesagt, ich gehe auf gar keinen Fall wieder in den Knast. Sobald es vorbei ist und ich meinen Bruder gerächt habe, lege ich mich neben ihn, wo ich hingehöre.

Franca, meine Bewährungshelferin, darf jedoch von diesem Plan nichts wissen, daher setze ich mein Pokerface auf, denn in fünfzehn Minuten habe ich eine Verabredung mit dem Schicksal.

Nachdem ich geduscht und mich rasiert habe und in einem billigen weißen Hemd, schwarzer Hose und Hosenträgern wie ein Pfadfinder aussehe, nehme ich den Bus in die Innenstadt. Franca will sich mit mir in einem Diner treffen. Der Gedanke, mich unter Zivilisten zu mischen, ist schmerzhaft, aber ich will nicht, dass sie denkt, dass etwas nicht in Ordnung ist.

Ich muss Franca überzeugen, dass ich meine Freiheit dazu nutze, Omis zu umarmen, Hündchen zu streicheln und ähnlicher Blödsinn. Ich will nicht, dass sie weiß, dass ich plane, zu töten – langsam zu töten. Auch wenn ich kaum Ahnung habe, wo ich anfangen soll, weiß ich, dass ich Geld brauche, um das zu ändern.

Es ist erstaunlich, was Menschen für etwas Kohle bereit sind zu tun. Ich habe nichts zu verlieren und alles zu gewinnen, und ich habe vor, tief in die Tasche zu greifen, um Hinweise zu bekommen. In dieser Stadt regiert das Geld, weswegen das Pink Oyster meine Rettung war – die perfekte Tarnung, um Geld zu verdienen und den Ball ins Rollen zu bringen.

Auch wenn Andre ein verfluchter Idiot ist und Tawny einen Wink mit dem Zaunpfahl nicht versteht, ist die Arbeit dort erträglich. Lotus und die anderen Mädchen sind cool, aber was Tiger betrifft … meine Wangen blähen sich, als ich frustriert ausatme. Bei ihr bin ich mir noch unsicher. Sie verwirrt mich. Vor zwei Abenden, als ich sie tanzen sah, wäre ich fast durchgedreht. Sie weiß, wie sie mich reizen kann, und der Dreckskerl in mir will sich dafür revanchieren – unbedingt.

Ich grunze frustriert, reibe mit beiden Händen über meinen Schädel und will mir am liebsten selbst in den Hintern treten. Das muss aufhören. Das letzte Mal, als ich von einem Mädchen besessen war, endete das für alle schlimm. Und ich habe das Gefühl, dass es jetzt nicht anders wäre.

Ich schiebe die Tür des Diners auf und stöhne, weil Franca schon da ist. Sie ist zu früh. Sie sitzt in einer roten Nische im hinteren Bereich, sieht in die Speisekarte und verzieht nachdenklich die pinkfarbenen Lippen. Die Kerle in der Nische ihr gegenüber machen kein Geheimnis daraus, dass sie sie abchecken. Wenn sie wüssten, dass sie den leibhaftigen Teufel beobachten.

Franca ist in den Dreißigern. Sie ist vollbusig, blond und diente den Kerlen in Kinkora als Wichsvorlage, Wärter inklusive. Aber ich habe mich durch ihr gutes Aussehen nicht täuschen lassen. Sie ist eine absolute Klugscheißerin und hat keine Zeit für irgendwelche Albernheiten.

Ich weiß, dass sie unter ihrem schwarzen Blazer eine Waffe trägt und kein Problem damit hätte, mich fertigzumachen, wenn ich ihre Fragen nicht angemessen beantworte. Sie mag weich und verschmust aussehen, aber sie ist die verfluchte Eiskönigin, weswegen sie mir zugewiesen worden ist.

Ich setze mich zu ihr an den Tisch und werfe den Kerlen gegenüber einen Blick zu, der besagt, dass sie ihre Zungen wieder einrollen sollen. Sie müssen den Verbrecher an mir riechen, denn sie wenden sich rasch wieder ihrer Diskussion und ihrem Kaffee und Orangensaft zu. So ein trivialer Unsinn wird für mich nie einen Sinn ergeben. Wer hat schon Zeit für Geschwätz?

Franca ganz eindeutig nicht. Sie hat nicht einmal aufgesehen, um mich zu begrüßen, obwohl sie weiß, dass ich da bin.

Ich bleibe ruhig sitzen und warte darauf, dass sie mich anspricht, denn für sie ist alles ein Machtspiel. Auch wenn ich nicht mehr im Knast bin, will sie sicherstellen, dass ich weiß, wer das Sagen hat. Als ob ich das je vergessen könnte. Ich bin vielleicht draußen, werde aber nie ein freier Mann sein.

Nach zwei Minuten senkt sie die Speisekarte und lächelt. Das ist kein einladender Anblick.

„Hallo, Cody.“

„Was geht?“, erwidere ich. Sie weiß, dass ich nicht mehr auf diesen Namen höre, weswegen sie ihn benutzt. Dieser Mensch starb in der Nacht, als mein Bruder getötet wurde. Cody hätte nie den Mut gehabt, das zu tun, was ich getan habe und vorhabe, zu tun. Cody war jung und schwach, aber Bull ist voller Mordlust und Hass.

Wenn es hier wie bei Oprah wäre, würde sie bestimmt sagen, dass Cody tief in mir verschlossen ist. Doch das hier ist das wahre Leben, und alles, was ich bin, ist Bull – der kaltblütige Mörder, der auf Rache aus ist.

„Hältst du dich von Ärger fern?“

„Klar.“

Franca schiebt die Brille mit dem schwarzen Rahmen ihre Nase hinauf. Sie scheint dieses Spielchen richtig zu genießen. „Bist du irgendwo untergekommen?“

„Noch nicht. Ich bin in Hudson’s Motel.“

Bevor sie fragen kann, ob ich dafür einen Bürgen habe, fasse ich in die Tasche und schiebe ihr Venusʾ Karte über den Tisch zu. „Rufen Sie sie an, um es zu überprüfen.“

Sie nimmt die Visitenkarte und schiebt sie in die Innentasche ihres Blazers. Dabei sehe ich ihr Schulterholster. „Was ist mit Arbeit?“

Ich nicke, verschränke die Hände vor dem Bauch und lehne mich zurück. „Ich arbeite im Pink Oyster.“

Sie hebt eine Braue. „Der Strip Club?“

„Oh, Sie kennen ihn?“ Ich lächele spöttisch.

Sie leckt sich über die Lippen. „Ja. Ich hätte nur nicht gedacht, dass du so bald nach dem Gefängnis mit dem Arsch wackeln würdest. Ich hätte geglaubt, dass du erst mal Ruhe davon haben willst.“

Ich atme tief durch und lasse mich von ihrer Bemerkung nicht provozieren. Ich darf mein Ziel nicht aus den Augen verlieren. „Ich arbeite als Rausschmeißer“, stelle ich richtig. „Und ich helfe, im Club alles in Ordnung zu halten.“

„Das überrascht mich nicht, bei dem Rattenloch“, meint sie und greift nach ihrem Pfefferminztee.

Eine Kellnerin kommt zu unserem Tisch, füllt meine Tasse mit Kaffee und verschwindet ebenso schnell wie sie gekommen ist. Ich beneide sie, denn ich wünschte, ich könnte dasselbe tun.

Franca stellt ihre Teetasse ab, greift nach einer braunen Papiertüte neben ihr und schiebt sie zu mir herüber.

Ich beäuge sie misstrauisch.

„Ich brauche eine Urinprobe“, erklärt sie schnippisch. „Ich muss sicher sein, dass du keinen Ärger machst und clean bist. Mitten zwischen Pussys, Alkohol und Drogen zu sein, ist nicht ideal, aber du arbeitest, also drücke ich ein Auge zu.“

Wenn sie glaubt, dass ich ihr dafür danke, kann sie warten, bis ihre Heimat, die Hölle, zufriert.

Als ich nach der Tüte greife, legt sie ihre Finger über meine. Mein ganzer Körper spannt sich an. Franca lächelt nur. Sie findet mein Unbehagen amüsant. „Versau das nicht, Bull. Du hast wegen der Umstände und deines Alters eine leichtere Strafe bekommen. Und weil du den Plädoyer-Deal angenommen hast. Ich meine, du hast zum ersten Mal eine Waffe abgefeuert und gleich jemanden getötet“, erinnert sie mich ausdruckslos.

Ich muss nicht daran erinnert werden. Ich wurde erwischt, weil ein Polizist außer Dienst im 7-Eleven war und Salamipizza und Cola kaufte. Als er den Schuss hörte, rannte er in die Gasse und erwischte mich, wie ich erschrocken mit der rauchenden Waffe in der Hand dastand. Ich gestand ihm dummerweise, dass ich zum ersten Mal geschossen und dabei einen Kerl getötet hatte, weswegen ich eine niedrigere Strafe bekam. Ob das ein Segen oder ein Fluch war, weiß ich nicht.

„Aber glaub nicht eine Sekunde lang, dass ich die Zügel bei dir lockerlasse“, fährt Franca fort und unterbricht damit meine Erinnerungen. „Vergiss niemals, wer Macht über dich hat.“

Ich vergesse alle Bewährungsauflagen, wenn sie nicht endlich ihre verfluchte Hand von mir nimmt.

„Wenn du dich nicht an die Regeln hältst, lasse ich es dich bereuen. Ist das klar?“ Der Blick, mit dem sie mich anstarrt, zeigt, dass sie es ernst meint.

„Schon klar“, antworte ich und lasse mich nicht von ihr einschüchtern. „Würden Sie jetzt freundlicherweise Ihre Hand von meiner nehmen, verdammt? Bitte?“

Ich frage nicht, ich warne sie. Sie hat vielleicht das Sagen, aber ich will verdammt sein, wenn ich wie ein Feigling vor ihr kauere. Sie wird mir nicht im Weg stehen.

Es ist der ultimative Anstarrwettkampf, aber sie gibt schließlich nach.

Ohne eine Sekunde zu zögern, stehe ich auf und nehme die Tüte. Ich gehe zu den Waschräumen und begreife, dass ich ein Problem habe – ein großes Problem – und dieses Problem ist Franca Brown.

Zum Glück bleibt Franca nicht mehr lange, nachdem ich ihr mein Wort und meine Urinprobe gegeben habe. Sie sagte, dass wir uns bald wiedersehen würden. Das gefällt mir nicht, aber solange ich sie im Dunkeln lasse, kann sie mir nichts anhaben.

 

Ich bin frustriert und fühle den Drang, etwas zu zerschlagen. Also beschließe ich, mich piercen zu lassen. Bevor ich in den Knast kam, hatte ich überall Piercings. Ich fing klein an und ließ mir einen Ring ins linke Nasenloch machen. Ich mag keine halben Sachen, also folgten mein Tragus, der Forward Helix, der Outer Conch und der Rook in beiden Ohren.

Mir lief die Zeit davon, weil ich zur Arbeit musste, aber ich versprach dem Piercer, dass ich zurückkommen würde, denn ich wollte mir noch beide Nippel, die Zunge und natürlich den Schwanz piercen lassen.

Dieser Schmerz war anders als alles, was ich je zuvor gespürt hatte, weshalb ich es wieder tun wollte.

Dass ich heute Franca gesehen habe, hat mich ruhelos gemacht. Heilige Scheiße, ich muss Dampf ablassen, bevor ich explodiere. Als ich die Tür öffne und in Tiger hineinlaufe, vervielfachen sich diese Explosionsgefühle.

Ich greife sofort nach ihren Oberarmen, damit sie nicht auf den Hintern fällt. Mir entgeht nicht, dass sie eine Gänsehaut bekommt. Sie sieht durch ihre langen Wimpern zu mir hoch.

„D-danke“, stottert sie und sieht mir in die Augen.

„Kein Problem“, antworte ich und halte sie immer noch fest.

Das sollte der Moment sein, wo ich sie loslasse, doch ich schaffe es körperlich nicht. Ich würde mir lieber die Hände abhacken, als aufhören, sie zu berühren, und ich verstehe, wie bedeutend das ist. „Was machst du heute hier? Du solltest doch heute nicht arbeiten.“

Als sie den Mund öffnet und zeigt, wie überrascht sie ist, dass ich ihre Arbeitszeiten kenne, lasse ich sie schnell los. Ich fühle mich wie ein verfluchter Stalker und will mich daher abwenden, doch sie hält mich auf, indem sie nach meinem Handgelenk greift.

Ich beiße die Zähne zusammen und verdränge die Stimmen in meinem Kopf, die mir sagen, dass ich ihr wehtun soll. „Mir gefallen deine Piercings“, sagt sie atemlos. „Und deine Hosenträger.“

Ich öffne den Mund, schließe ihn aber gleich wieder, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Versucht sie, Small Talk zu machen? Oder noch schlimmer, zu quatschen?

Als Erwiderung grunze und nicke ich und ziehe unauffällig mein Handgelenk unter ihren Fingern hervor. Plötzlich scheint sie verärgert zu sein, ihre Wangen werden feuerrot. Im Bruchteil einer Sekunde wechseln ihre Augen von grün zu stinksauer.

Lotus kommt zu uns herüber und unterbricht einen Austausch, der wahrscheinlich ein schlimmes Ende genommen hätte – für mich. Tiger stellt mich mit ihrem Schmollmund auf die Probe, während sie ein Loch durch mich starrt. Mein Schwanz zuckt sofort, denn verdammt nochmal, sie hat keine Angst vor mir … sollte sie aber.

„Oh, gut, du bist hier. Ich wollte dich auf deinem Handy anrufen, habe aber deine Nummer gar nicht“, sagt Lotus, die die merkwürdigen Schwingungen zwischen mir und Tiger entweder nicht bemerkt, oder sie ignoriert.

„Ich habe keins“, antworte ich und halte den Blick auf Tiger gerichtet. Als Reaktion streckt sie die Brust raus, stemmt die Hände in die schmalen Hüften und fordert mich heraus.

Heilige Scheiße, warum quält sie mich so?

„Du hast kein Handy und keine Telefonnummer?“, fragt Lotus, als ob sie sich verhört hätte.

Ihre Frage lässt mich den Blick von Tiger abwenden, denn ich will nicht, dass sie weiß, warum ich kein Handy habe. Lotus weiß, dass ich im Knast war, aber ich finde, dass das die anderen nichts angeht. Je weniger Leute über mich Bescheid wissen, desto besser.

„Beides“, antworte ich kühl, zucke mit den Schultern und konzentriere mich auf Lotus. Ich spüre Tigers Blick auf mir.

Sie bewegt sich auf einem schmalen Grat.

„Ich bin kein Sklave der Technologie. Mir gefällt das. Aber meine Angestellten, besonders meine Rausschmeißer, müssen für mich erreichbar sein. Ich habe ein altes Handy in meinem Büro, das du haben kannst.“

Auch wenn das sehr großzügig ist, schüttele ich den Kopf. Ich nehme ungern etwas an, weil meistens Bedingungen daran geknüpft sind. Und ich will keine Bedingungen. „Danke, aber nein. Wenn das so ist, kaufe ich mir von meinem nächsten Gehaltsscheck eins.“

„Oh, da wir gerade davon reden. Komm mal mit.“ Bevor ich eine Chance habe, zu Wort zu kommen, geht Lotus in Richtung ihres Büros.

Das ist die Aufforderung, ihr zu folgen und auch eine gute Ausrede für mich, von Tiger wegzukommen, die aussieht, als würde sie mir am liebsten die Eier abreißen. Ich weiß nicht, wie ich sie so sauer gemacht habe, aber der Look steht ihr. Ich wusste, dass sie ihren Mann stehen kann, aber heilige Scheiße, sie ist ein richtiger Hitzkopf. Noch ein Grund, dass ich mich von ihr fernhalten sollte.

Ich schrecke nicht vor einer Herausforderung zurück, und wenn Tiger nicht vorsichtig ist, werde ich ihren Köder früher oder später schlucken. Und wenn das passiert, werde ich sie zerbrechen – Stück für Stück.

Ich folge Lotus rasch und dränge mich ohne ein Wort an Tiger vorbei. Sie weicht nicht zurück, als sich unsere Körper berühren, was meine innere Gier nur noch verstärkt.

Lotus wartet schon auf mich, als ich ihr Büro betrete. Sie gibt mir ein Zeichen, dass ich die Tür schließen soll, was ich tue.

„Ich habe neulich nicht gescherzt, als ich sagte, dass du die Buchhaltung machen sollst“, sagt sie, ohne um den heißen Brei herumzureden. „Ich habe genug um die Ohren, und du würdest mir damit einen riesigen Gefallen tun. Ich bezahle dich natürlich für alle zusätzlichen Arbeiten, die du hier erledigst.“

Ich schaukele auf den Fersen und denke über ihr Angebot nach. „Du kennst mich doch kaum.“ Ich tue mir selbst keinen Gefallen, aber ich muss wissen, warum sie mir so kurz, nachdem wir uns kennengelernt haben, ihre Bücher anvertrauen will.

„Ich weiß genug“, erwidert sie, öffnet eine Schreibtischschublade und zündet sich eine Zigarette an. „Also, was sagst du?“

Ich habe keine Ahnung, warum sie mir vertraut, doch ich nicke schließlich. „Okay.“

Sie lächelt und bläst einen Rauchring aus. „Sehr schön. Ich gehe davon aus, dass du nicht jetzt anfangen willst?“

Ich hebe eine Braue und frage mich, warum sie es so eilig hat. Bei mir läuten die Alarmglocken, aber aus irgendeinem Grund sehe ich Lotus nicht als Bedrohung. „Sag mir nur, was du brauchst.“

Sie stößt sich vom Schreibtisch ab, und die Rollen ihres Stuhls quietschen auf dem Boden. „Ich will alles“, sagt sie und besiegelt unsere Partnerschaft mit diesen drei einfachen Worten.

Ich bin seit Stunden an diesen Schreibtisch gefesselt, weil ich alles doppelt überprüfe. Lotus hat mich allein gelassen, denn der Grund dafür, dass Tiger heute hier ist, ist, dass der Club für eine Privatfeier geschlossen hat – Lotusʾ vierzigster Geburtstag.

Sie hat alle eingeladen, weswegen sie mich unter anderem anrufen wollte. Sie wollte mich vorwarnen, dass ich heute Abend nicht wie üblich arbeiten würde. Doch obwohl ich nicht als Rausschmeißer gebraucht werde, hat Lotus mir die Aufgabe gegeben, mich um die Bücher zu kümmern. Und nachdem ich sie durchgesehen habe, weiß ich, warum sie ein zweites Augenpaar braucht, das ihr sagt, was sie bereits weiß.

Die Rechnungen stimmen nicht, weil sie es nicht will. Aber die Wahrheit lässt sich nicht beschönigen – Lotus ist pleite.

Ihre Einkünfte decken kaum die Ausgaben. Die Mädchen zahlen ihr eine lausige Gebühr, um hier tanzen zu dürfen, und sie erhebt keine Gebühr für die Zeiten hinter der Bühne. Die Mädchen können im Prinzip machen, was sie wollen. Sie zahlt ihnen auch einen Stundenlohn, was es in diesem Gewerbe sonst nicht gibt, außer man ist ein Pornostar oder eine sehr bekannte Tänzerin.

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