Bullseye - Bull & Tiger

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Ich wische mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, werfe einen Blick über die Schulter und sehe, dass ich nicht mehr allein bin.

„Hallo, Schöner“, sagt Tawny mit einem Lächeln. Sie versucht nicht zu verbergen, dass sie mich mit den Augen fickt, als sie mich von Kopf bis Fuß mustert.

Ich trage eine zerrissene schwarze Jeans und ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt, das die Tattoos auf meinen Armen und meinem Hals entblößt. Tawny neigt den Kopf, um einen besseren Blick darauf zu haben, aber da kann sie lange gucken. Meine Tattoos sind privat. Ich habe sie nicht machen lassen, damit andere Leute um mich herumscharwenzeln und mir Fragen stellen. Ich habe sie mir als ständige Erinnerung daran machen lassen, was ich getan habe. Und was ich tun muss, um meinen Bruder zu rächen.

Ich räuspere mich, was sie aus ihrem Starren reißt.

„Bist du hier fertig?“, fragt sie und zeigt mit dem Kinn auf die Barhocker.

„Fast. Warum?“

„Im Umkleideraum sind ein paar Birnen durchgebrannt. Ich würde sie selbst wechseln, habe mir aber gerade die Nägel machen lassen.“ Wie um es mir zu beweisen, wedelt sie mit ihren pinkfarbenen Nägeln vor meinem Gesicht herum.

Das ist ganz klar ein Trick, um mit mir allein zu sein, aber ich muss meinen Job erledigen. Je eher Tawny begreift, dass ich nicht für mehr als das hier bin, desto besser für uns beide. Also nicke ich. „Klar.“

Tawnys Gesicht leuchtet auf. „Vielen Dank.“

Ich bedeute ihr, dass sie vorangehen soll.

Sie geht voran und wackelt dabei mit dem Hintern, der in knappen Shorts steckt. Ihre langen Beine werden noch von den Cowboystiefeln betont, die sie trägt. Wie ich schon gestern Abend bemerkte, ist sie durchaus nicht unattraktiv, aber ich finde sie einfach nicht anziehend. Es hat nichts mit ihrem Aussehen zu tun, sondern damit, dass es für mich mit ihr einfach nicht funktionieren würde.

Sie präsentiert mir ihre Titten quasi auf einem Silbertablett, doch ich bin nicht interessiert. In meinem Leben war nichts einfach, und ich erwarte von Frauen auch nicht, dass sie es mir leichtmachen.

Der Umkleideraum ist größer, als ich gedacht habe. Es gibt vier verschieden geformte Spiegel an der Wand, und jeder Spiegel ist von Lampen umgeben. Die Tische sind mit Lotionen und Make-up bedeckt. Um die Rückenlehnen der Stühle sind farbige Federboas gewunden.

In einer Ecke des Raums sind Spinde. Aber richtige Umkleidekabinen gibt es nicht. Die Mädchen haben keine Privatsphäre, wenn sie nach ihrer Tanznummer ihre Kostüme ausziehen. Es ist ein Gemeinschaftsraum, in dem man sein Schamgefühl nicht schützen kann.

So ähnlich wie die Duschen im Gefängnis.

„Es sind diese Birnen“, sagt Tawny und unterbricht damit meine Gedanken. Als sie mir eine Schachtel mit Glühbirnen reicht, sehe ich, wo einige Lampen an den Spiegeln durchgebrannt sind.

Ich greife nach der Schachtel, wobei ich darauf achte, dass sich unsere Finger nicht berühren, und gehe zum ersten Spiegel hinüber. Ich sehe Tawnys Spiegelbild, als ich den Strom abschalte und die Birne herausdrehe. Sie ist alles andere als schüchtern, denn sie starrt mich offen an.

„Dein Name ist also Bull?“, fragt sie, denn so hat Lotus mich gerufen.

Ich nicke bestätigend.

„Bist du hier geboren worden, Bull?“ Mein Name tropft wie Honig von ihrer Zunge.

„Ja, traurigerweise“, erwidere ich und ersetze die Birne. Jetzt sind es nur noch fünf.

„Ich auch. Ich habe immer gedacht, dass ich für Größeres bestimmt bin, aber ich bin immer noch hier.“ Sie breitet die Arme weit aus. „Ich habe versucht, zum College zu gehen, aber das war nichts für mich. Das Strippen sollte nur eine vorübergehende Sache sein. Aber drei Jahre später mache ich es immer noch.“

„Es ist nichts falsch daran, eine Stripperin zu sein“, sage ich und werfe ihr im Spiegel einen kurzen Blick zu. „Die Mistkerle denken, dass sie am längeren Hebel sitzen. Aber du bist nicht diejenige, die mit Bargeld nach ihnen wirft.“

„So habe ich das noch nie gesehen“, meint sie nachdenklich.

„Jetzt kannst du es.“ Ich gehe zum nächsten Spiegel und drehe die Birne heraus. Als ich nach dem Ersatz greife, spüre und rieche ich Tawny hinter mir. Ich drehe mich um und greife rechtzeitig nach ihrem Handgelenk, um sie davon abzuhalten, mich zu berühren.

Sie verzieht die Lippen zu einem frechen Grinsen. Sie denkt, dass das ein Spiel ist, aber das ist es nicht. „Wow, du hast die Reflexe eines Superhelden. Verschweigst du mir etwas?“, neckt sie und klimpert mit den Wimpern. „Mit diesen Muskeln könntest du leicht Superman sein.“

Sie beugt sich vor, zu dicht, aber ich weiche nicht zurück. „Ich bin in dieser Geschichte nicht der Held, Tawny.“

„Du willst nicht mein weißer Ritter sein?“, fragt sie sarkastisch. Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet, bis sie es mir erklärt. „Jemand, der denkt, er kann eine Tänzerin vor einem Leben als Stripperin retten.“

„Das bin ich ganz bestimmt nicht.“ Ich lache.

„Was bist du dann?“, fragt sie und streckt die Brust heraus. Ihre Titten sind nur Zentimeter von mir entfernt, was bedeutet, dass sie mir viel zu nah sind.

Ich verstärke den Griff um ihr Handgelenk und neige mein Gesicht zu ihrem. Sie atmet scharf ein und gräbt ihre ebenmäßigen weißen Zähne in ihre Unterlippe. „Ich bin der böse Bube“, antworte ich gefährlich tief.

Ich versuche nicht, melodramatisch zu sein. Es ist die Wahrheit. Aber meine Worte scheinen sie nur noch mehr zu erregen.

Ihre Pupillen weiten sich, und ihre Wangen röten sich lüstern. „Ich stehe auf böse Jungs“, murmelt sie und atmet tief durch.

Meine Dämonen drängen an die Oberfläche und wollen ihr zeigen, wie böse ich tatsächlich sein kann. Aber ich dränge sie in die Tiefe zurück. Man scheißt nicht, wo man schläft. „Tu dir selbst einen Gefallen … lass es, mich zu mögen.“

Sie befeuchtet ihre Lippen und will etwas sagen, doch dann höre ich eine vertraute Stimme und wende meine Aufmerksamkeit der Tür zu. Als ich sehe, wer eintritt, stürmen Erinnerungen unserer letzten Begegnung auf mich ein, und ich drücke unabsichtlich Tawnys Handgelenk.

Tiger hält ihr Handy ans Ohr und spricht fröhlich mit der Person am anderen Ende. „Wir sehen uns später. Ich liebe dich, Baby.“ Als sie uns sieht, bleibt sie wie angewurzelt stehen, und ihr Lächeln weicht einer ausdruckslosen Miene. Sie ist offensichtlich von der Situation verwirrt.

Ich lasse Tawny sofort los, weil wir erhitzt aussehen müssen, nur ist es nicht auf die Art, die Tiger vermutet. Als sie sich wieder fasst, schüttelt sie den Kopf, als wollte sie den Nebel vertreiben.

„Oh, tut mir leid. Ich wusste nicht, dass jemand hier ist. Ich will nur meine Handtasche holen. Ich habe sie gestern Abend vergessen. Ich bin sofort wieder weg“, sagt sie atemlos.

Tawny bleibt dicht bei mir und scheint schadenfroh zu sein. Ich trete sofort drei Schritte zurück.

Tiger geht an uns vorbei und auf die Spinde zu. Sie dreht die Nummernscheibe, was unvorsichtig ist, weil ich jetzt die Kombination ihres Zahlenschlosses kenne.

1021.

Ich frage mich, welche Bedeutung die Zahl hat? Vielleicht ihr Geburtstag? Oder vielleicht der Geburtstag der Person, des Babys, der sie gerade gesagt hat, dass sie sie liebt?

Wieso ist das wichtig? Ich muss aufhören, mich für sie zu interessieren.

Ich drehe mich schnell um und tausche die letzten Glühbirnen an den Spiegeln aus, während Tawny sich setzt und eine Zigarette anzündet. Die Mädchen unterhalten sich nicht, was mich vermuten lässt, dass sie einander nicht mögen. Als die Spindtür zuschlägt, sehe ich in den Spiegel und frage mich, was los ist.

Tiger dreht mir den Rücken zu, also nutze ich die Gelegenheit, um sie unbeobachtet zu mustern. Sie trägt eine Yogahose, ein ausgeleiertes T-Shirt und heißgeliebte Chucks. Ihr langes Haar hat sie zu einem Knoten auf ihrem Kopf geschlungen. Als sie sich umdreht, sehe ich, dass sie kaum Make-up aufgelegt hat, was mir gefällt.

Am Abend zuvor hatte ich den unerklärlichen Drang, den roten Lippenstift von ihrem Mund zu wischen. Ich hatte jedoch keine Probleme, sie zu küssen, während der Lippenstift auf ihrem Mund war. Mein Schwanz zuckt bei der Erinnerung daran. Aber diese Erinnerung wird schnell von Schmerz und Blut verdrängt, und wie ich sie verderben wollte, sie beschmutzen, damit ich nicht der Einzige bin, der durch einen Makel auf der Seele gezeichnet ist.

Sie begegnet meinem Blick im Spiegel, aber nur für eine Sekunde, dann wende ich mich schnell wieder dem Wechseln der Glühbirnen zu. Ich muss vorsichtiger sein. Sie ist wie ein Gift, was nur zu Ärger führen wird – für sie.

„Bis dann“, ruft sie. Es ist offensichtlich, dass sie auf eine Antwort hofft.

Tawny bläst als Reaktion einen Rauchring, während ich sie einfach ignoriere. Sie seufzt, bevor sie durch die Tür verschwindet.

Nach einem kurzen Schweigen sagt Tawny selbstgefällig: „Du hast keine Scherze gemacht. Du bist wirklich der böse Junge.“

Zur Hölle, das bin ich.

Ich habe Tiger einen Gefallen getan. Sie weiß es nur noch nicht. Jetzt kann sie nach Hause zu ihrem Baby gehen, wo sie sicher ist, denn ich würde nur ihre ganze Welt zum Einsturz bringen.

Kapitel 3
Lily

„Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei. Die Fersen sollten sich berühren, die Zehen nach außen drehen. Gut, Jennifer. Jetzt stell die Füße auseinander. Sehr gut, Roberta. Eins, zwei, drei. Öffnet die Arme weit, aber streckt sie nicht zurück.“

Die Musik dringt leise aus den Lautsprechern, während ich durch das kleine Ballettstudio gehe und meinen Schülerinnen die Grundlagen des Balletts beibringe.

 

Hier fühle ich mich normalerweise im Reinen und zu Hause, aber heute haben meine fünfjährigen Schülerinnen eine bessere Koordination als ich. Ich springe in einen Jeté, fest entschlossen, den Erinnerungen zu entkommen, die mich plagen, seit ich in diese Mischung aus Himmel und Hölle gesogen wurde.

Die Musik hört auf, was mich darauf hinweist, dass der einstündige Unterricht bereits zu Ende ist. Ich war geistesabwesend, was mir noch nie zuvor passiert ist. Trotz der Scheiße, die mir in meinem Leben passiert ist – und mir ist sehr große Scheiße passiert – konnte ich mich immer konzentrieren, sobald ich den Fuß in diesen Raum setzte. Dies ist der Ort, wo ich glücklich bin.

Aber heute ist es anders, und das liegt an ihm. Oh, verdammt, er.

„Also gut, Klasse. Ihr habt es alle sehr gut gemacht. Wir sehen uns nächste Woche.“

„Ja, Miss Hope.“ Meine Schülerinnen laufen zu ihren Sporttaschen und plappern lebhaft miteinander, während ich die Tür öffne. Eltern, die darauf brennen, ihre Kinder zu sehen, drängen herein. Melanie Arnolds, eine Vollblutmutter, die zu viel Zeit und Geld hat, kommt schnurstracks auf mich zu, was keine Überraschung ist, denn das macht sie jede Woche. Allerdings ist sie mir wesentlich lieber als ihr schmieriger Ehemann Derrick.

Sie zählt zu den Helikopter-Eltern, aber sie bezahlt auch meine Rechnungen, also stelle ich mich mit einem Lächeln ihrer Inquisition. „Lillian“, ruft sie und wedelt mit der Hand, wobei ihre Armbänder von Tiffany klimpern. „Kann ich kurz mit dir sprechen?“

Ich habe keine Ahnung, warum sie das als Frage formuliert, denn ich habe dabei kein Mitspracherecht. Aber ich lächele nur noch breiter. „Natürlich, Melanie. Und nenn mich doch bitte Lily.“ Das sage ich ihr seit drei Monaten, denn nur ein Mensch darf mich Lillian nennen. Vielleicht kapiert sie es eines Tages. Heute ist jedoch nicht dieser Tag.

Sie bedeutet mir, dass sie mich unter vier Augen sprechen will, also gebe ich nach, und wir gehen in den hinteren Teil des Raums. Als wir in der Ecke stehen, zupft sie an einem ihrer Perlenohrringe. „Ich weiß, dass ich wie eine Nörglerin klinge, aber ich glaube wirklich, dass Brenda in einer anderen Klasse hervorragend sein würde.“

Ich öffne den Mund, schließe ihn aber wieder, als ich merke, dass Melanie noch nicht fertig ist.

„Sie kennt alle Übungen aus dem Kopf. Sie übt jeden Tag. Ich weiß, dass du niemanden bevorzugen darfst, aber sie ist eindeutig deine beste Schülerin.“ Sie zwinkert mir verschmitzt zu, als wären wir in einem Geheimclub.

Das sind wir nicht.

Und das ist der Grund, warum ich das Prinzip der geschlossenen Türen verfolge. Kein Elternteil darf während des Unterrichts ins Studio – wegen der Melanie Arnolds dieser Welt. Sie glauben, dass ihr Sprössling ein Ballett-Wunderkind ist, während es in Wirklichkeit so anmutig wie ein einbeiniger Fisch ist.

Aber ich setze meine professionelle Miene auf und lächele sanft. „Brenda ist außergewöhnlich und ich kann sehen, dass sie übt, aber ich kann sie nicht für die nächste Klasse zulassen, bevor sie ihr Examen bestanden hat. Das mag unfair erscheinen, aber ich mache die Regeln nicht.“

„Aber das ist deine Klasse“, drängt sie und schürzt ihre mit Botox behandelten Lippen.

„Das stimmt schon, aber Miss Everland ist die Rektorin dieser Akademie, und wenn ich die Regeln beuge, würde ich ernsthafte Schwierigkeiten bekommen. Ganz abgesehen davon, dass Brenda noch nicht bereit ist.“

Melanie zuckt zusammen und ihre Miene wechselt zum Miststück-Modus. „Sie ist besser als Kinder, die doppelt so alt sind wie sie. Ich weiß nicht, warum du zögerst.“

„Ich will nur das Beste für Brenda. Bitte vertrau mir. Ich rede mit Miss Everland, aber …“ Ich habe keine Chance, meinen Satz mit „aber es wird keinen Unterschied machen“ zu beenden, bevor ich unterbrochen werde.

Melanie klatscht in die Hände, ihre grellgelb lackierten Nägel ähneln Klauen. Sie denkt eindeutig, dass sie gewonnen hat. „Oh, Lillian! Du wirst es nicht bedauern.“

Ich bedauere es jetzt schon.

Als sie sich im Raum umsieht und mir den Rücken zuwendet, hebe ich eine Braue und frage mich, was zur Hölle sie da tut. Verwirrt beobachte ich, wie sie in ihre Chanel-Tasche greift und ein Bündel raschelnder Hundertdollarscheine hervorholt. Meine Verwirrung verwandelt sich schnell in absoluten Ärger.

„Hier, nimm das. Gönn dir mal was.“ Versucht sie wirklich, mich … zu bestechen? Damit ihre fünfjährige Tochter in eine höhere Klasse kommt? Das wäre komisch, wenn sie es nicht ernst meinen würde.

Ich trete ein paar Schritte zurück und schüttele diskret den Kopf. „Nein, das kann ich nicht.“

„Ich bestehe darauf.“ Sie versucht, die Scheine in meine Hand zu schieben, aber ich drücke sie fest zusammen und bin nur Sekunden davon entfernt, ihr die Spachtelmasse aus dem Gesicht zu schlagen.

„Danke, Melanie, aber nein.“ Sie sieht mich an, als hätte ich gerade ein ihr fremdes Wort gesagt, was ich in ihrer Welt wahrscheinlich auch getan habe, und das Wort ist Nein.

„Bist du sicher? Das ist nur ein Taschengeld für mich“, meint sie schnippisch, was mich nur noch mehr beleidigt.

Mit ihrem „Taschengeld“ könnte ich einen Monat lang meine Miete bezahlen, aber ich hüte mich, ihr das zu sagen. Das muss ich auch nicht. Sie weiß es. All diese Mütter und Väter wissen, was ich bin. Und das zieht eine deutliche Grenze zwischen uns.

Die Reichen und die Armen.

Und dass ich überredet werde, dieses dicke Geldbündel von einer Mom zu nehmen, deren Designer-Hosenanzug mehr kostet als mein Truck, zeigt, wo ich auf der gesellschaftlichen Leiter stehe. Ich unterrichte diese Klasse und setze mich mit anmaßenden Eltern auseinander, und nachts ziehe ich meine Kleider aus, denn ich tue alles, um zu überleben.

Wenn das ein Märchen wäre, hätte ich die Highschool abgeschlossen und wäre zur Juilliard oder zur School of American Ballet gegangen, wo ich meinen Traum gelebt hätte und eine weltberühmte Ballerina geworden wäre. Aber das Leben verläuft nur sehr selten wie geplant. Ich war ein naives Kind mit den Träumen einer Jugendlichen. Und etwas Großes ließ mich verdammt schnell erwachsen werden und ließ mich zurück … mit dem Leben einer Fremden.

Ich blinzele meine Tränen weg und seufze erleichtert, als Brenda versucht, zu uns herüberzutanzen. Es endet damit, dass sie in eine Barre knallt.

„Hi, Brenda“, sage ich absichtlich laut, um Melanie darauf aufmerksam zu machen, dass ihre Tochter kurz davor ist, ihre Mutter dabei zu erwischen, wie sie versucht, ihre Ballettlehrerin zu bestechen. Melanie versteht den Hinweis zum Glück und schiebt das Geld zurück in ihre Handtasche.

Bevor Melanie die Chance hat, mich wieder in eine Ecke zu drängen, trete ich zur Seite und tätschele Brenda den Kopf. „Du hast es heute sehr gut gemacht. Ich bin wirklich stolz auf dich. Wir sehen uns nächste Woche.“

Sie lächelt mich zahnlos an, und ich entschuldige mich und verabschiede mich von den übrigen Schülerinnen und Eltern.

Als alle weg sind, schließe ich die Tür ab, gehe zu meinem iPod hinüber und stelle ‚Smells like Teen Spirit‘ von Nirvana an. Die kitschigen Gitarren dröhnen durch das zuvor stille Ballettstudio und erwecken mich zum Leben. Ich bewege mich zu dem schnellen Tempo, und als der Refrain einsetzt, lasse ich endlich los.

Meine ganze Frustration sickert aus mir heraus, während ich meinen Schmerz wegschwitze. Es tut weh, als ich hochspringe und auf den Zehen lande. Ich drehe mich immer wieder um mich selbst, bis der Raum vor mir schwankt. Doch das hält mich nicht auf. Es feuert mich nur dazu an, weiterzumachen.

Je schwindeliger ich werde, desto mehr verblassen diese verschiedenfarbigen Augen – ein meergrüner bernsteinfarbener Kuss aus der Hölle.

Ärger wallt in mir auf, und ich lasse es an meinem Körper aus und tanze weiter ein Ballett, das für den Teufel geeignet wäre. Mein Körper ist und war schon immer ein Kanal, und obwohl ich das perfekte Pokerface habe, explodiert jedes Gefühl aus mir heraus, wenn ich tanze.

Ich tanze mit dem Herzen. Das hat mir meine Lehrerin und Ersatzmutter, Avery Everland, gesagt. Sie hat mich zum ersten Mal in der Wohnwagensiedlung, in der ich lebte, tanzen sehen, als ich sechs Jahre alt war. Ich hatte keinen Unterricht und keine Ahnung, was ich da tat, doch das hielt mich nicht auf.

Tanzen bedeutete für mich Entkommen. So konnte ich die Dämonen vertreiben, die meine Seele quälten.

Avery bewahrte mich davor, eine weitere Nummer in der Statistik zu werden. Ich besaß keinen Cent, denn mein Vater verließ uns, bevor ich geboren wurde, und meine Mom war zu sehr damit beschäftigt, ihren Märchenprinzen zu suchen, statt sich selbst zu retten.

Ich habe einen älteren Bruder, aber genau wie mein Vater verließ er mich.

Erinnerungen an die Verlassenheit blitzen vor mir auf, und ich schreie vor Zorn und bestrafe meinen Körper, weil das die einzige Art ist, wie ich fühlen kann. Mein Herz droht, meinen Brustkorb zu zerreißen, aber wäre das so schlimm? Achtundzwanzig Jahre Hölle könnten hier und jetzt enden.

Ich drehe mich immer schneller, und meine mit Blasen übersäten Zehen flehen mich an, aufzuhören, aber ich kann nicht. Nur beim Tanzen fühle ich mich frei, befreit von diesem Leben, das so ganz anders geworden ist, als ich es mir vorgestellt habe.

Das Lied hört auf, und ich beende die Sequenz mit ein paar Piqué Drehungen. Rundherum, immer auf der Flucht, und als der letzte Ton verklingt, muss ich mich atemlos und erschöpft der Realität stellen.

Mein Keuchen hallt in dem kleinen Raum wider, während ich mir einen Moment nehme, um wieder zu Atem zu kommen. Ich fühle mich immer am meisten am Leben, wenn ich den letzten Schritt mache und dankbar bin, dass ich die Vergangenheit hinter mir gelassen habe. Aber heute kehrt das Gewicht zurück, und zwar wegen jemandem, von dem ich mich definitiv fernhalten sollte.

Er riecht nach Ärger, sehr großem Ärger, also warum fühle ich mich von ihm angezogen? Etwas an ihm ruft in mir ein tiefes, fleischliches Verlangen wach und lässt mich meine Regel Nummer Eins vergessen – dir kann nur das Herz gebrochen werden, wenn du es zulässt.

Ich habe seit Jahren keinen Freund mehr gehabt, denn Männer verletzen mich nur und verlassen mich dann. Alle bis auf einen, und aus diesem Grund bin ich Single und arbeite im Pink Oyster.

Seufzend höre ich auf, Trübsal zu blasen und nehme meine Tasche. Ich streife meine Ballettschuhe ab und ziehe die Chucks an, bereit für die Heimfahrt. Die Fahrt von Cleveland nach Detroit ist lang, aber ich will es nicht anders haben. Hier weiß niemand, wer ich bin, nicht einmal Avery. Ich würde sie nicht auf diese Art in Gefahr bringen.

Ich kann niemanden wissen lassen, was ich nachts tue, denn eine angesehene Akademie wie Everland würde einen solchen Skandal nie überleben. Es ist egal, dass ich die beste verdammte Lehrerin bin, die die Schule hat, oder dass ich mir den Arsch abarbeite. Das alles ist nicht von Bedeutung, wenn man sich auszieht, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Denn dann ist man eine Schlampe, gehört zur Unterklasse, aber ich wünschte, dass eine dieser anmaßenden Moms nur einen Tag mein Leben führen müsste. Ich tue, was nötig ist, um zu überleben – das habe ich immer getan – und dafür werde ich mich nicht entschuldigen. Was die Leute von mir denken, interessiert mich einen Scheißdreck, aber dass ich in einem anderen Staat arbeite, macht es für meinen Sohn leichter. Er ist die Liebe meines Lebens.

Averys Bruder lebte in derselben Wohnwagensiedlung wie ich, und von unserer ersten Begegnung an nahm sie mich unter ihre Fittiche und machte mich zu der Frau, die ich heute bin. Sie hat mir alles beigebracht, was ich weiß, weil sie etwas Besonderes in mir sah.

Wenn sie in die Wohnwagensiedlung kam, nahm sie mich zu ihrem Studio mit. Diese Besuche waren das Einzige, was mir durch meine Kindheit half. Ich wischte die Böden und putzte die Toiletten – was immer ich tun konnte, um zu helfen – und sie bezahlte mich mit Ballettstunden.

Sie forderte mich nie dazu auf, diese Arbeiten zu erledigen, aber ich tat es freiwillig, weil ich keine Schmarotzerin sein wollte. Sie bewahrte mich vor einem Leben voller Leid. Sie gestattete mir, ein paar Stunden jemand anders als ich selbst zu sein, weg von meiner Mom und einem Leben, das mir nur Schmerzen bereitete.

Schließlich zog Avery mit ihrem Studio von Detroit nach Cleveland, und deswegen bin ich hier. Niemand würde mich wegen meiner Vergangenheit und meinem Mangel an Erfahrung jemals einstellen, aber wie ich schon sagte, ich verdanke Avery alles. Sie hat nie geheiratet und hat keine Kinder, also bin ich alles, was sie hat.

 

Ich hänge mir die Tasche um, schalte das Licht aus und schließe das Studio ab. Mein Truck steht auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude, ich muss nur um die Ecke gehen. Trotzdem vergewissere ich mich, dass das Pfefferspray und mein Handy in meiner Jackentasche sind.

In letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass ich beobachtet werde. Wahrscheinlich bin ich nur paranoid, aber mir ist im Leben schon zu viel Scheiße passiert, als dass ich unvorsichtig sein dürfte. Darum habe ich auch keine Ahnung, warum der neue Kerl auf der Arbeit mir so unter die Haut geht.

Wenn ich nur an ihn denke, bekomme ich Gänsehaut, die aber schnell von der Hitze vertrieben wird, die mich durchläuft. Er hatte heute kein Problem damit, Tawny näherzukommen, aber von mir scheint er nie schnell genug wegkommen zu können.

Gestern Abend war das perfekte Beispiel dafür.

Ich schenkte ein bisschen Vertrauen – zum ersten und einzigen Mal – und das war die Folge. Er tat das, was alle anderen Blödmänner auch getan hatten – mich wegschieben. Ich stöhne über meine Dummheit bei der Erinnerung daran, wie weich sich seine Lippen auf meinen angefühlt haben. Sie waren vorsichtig, fast schüchtern, und ihr Zittern zeigte mir, dass er nervös war, was ganz bestimmt nicht zu seinem Äußeren passt.

Ich habe noch nie jemand so … Beeindruckenden kennengelernt. Er erschreckt und fasziniert mich gleichermaßen. Könnte es sein, dass ich in ihm einen Gefangenen sehe, der verzweifelt fliehen will, genau wie ich? Er sieht mich an, als würde ich zerbrechen, doch das wird nicht passieren. Ich kann mich behaupten.

Sein Haar ist kurz, aber ich sehe, dass es dunkel ist. Seine Augen sind so ungewöhnlich, aber auf eine gute Weise, die eine Frau in einen sündigen Abgrund zieht. Seine Stupsnase trägt noch zu seiner Arroganz bei, seine Lippen sind lüstern und voll, und seine etwas längeren Eckzähne passen zu seiner animalischen Ausstrahlung. Er ist groß, rätselhaft und riecht wie ein Wacholder-Traum.

Er hat so viele Tattoos, dass es mich drängt, sie alle genau anzusehen, in der Hoffnung, dass sie Licht darauf werfen, wer dieser Mann ist. Seine Hände und Finger sind tätowiert, genau wie seine Arme, was ich heute gesehen habe, als das enge weiße T-Shirt sich wie eine zweite Haut an seinen muskulösen Oberkörper schmiegte.

Das komplizierte Tattoo auf seinem Hals besteht aus zwei Skeletthänden, die sich auf die Seiten seines Halses legen. Sie scheinen ihn zu erwürgen. Ich frage mich, ob das irgendwie in Zusammenhang mit der römischen Ziffer Vier auf seinem Nacken steht.

So vieles an ihm fasziniert mich, darum muss ich mich von ihm fernhalten.

Egal, wie gut es sich angefühlt hat, ich hätte ihn nicht küssen sollen. Es war ein Fehler, doch ich fühlte mich wie unter seinem Bann, ein Bann, von dem er höchstwahrscheinlich nicht einmal etwas weiß. Er hat keine Ahnung, was für eine Wirkung er auf andere hat. Er hat einen Magnetismus an sich, der alle Menschen die Köpfe drehen lässt, wenn er einen Raum betritt.

Ich fühle mich nicht von ihm bedroht. Gott weiß, dass es so sein sollte, aber als er mir ohne zu zögern beisprang, zeigte mir das, dass sich unter seinem harten Äußeren etwas Besonderes verbirgt, etwas, dass ihn von anderen unterscheidet.

Etwas, das ich will.

Seine Dunkelheit tanzt mit meiner. Ich kann es spüren. Die Dunkelheit in mir gärt, seit alle, die ich geliebt habe, mich verlassen haben. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, aber meins scheint mit jedem Schritt immer schwerer zu werden.

Und als ich ihn heute diesen Geier Tawny berühren sah, wurde mir klar, dass ich mich von Bull fernhalten muss. Ich kann mir keine Ablenkungen leisten. Ich habe einen Plan, der vorsieht, dass ich genug Geld spare, um Jordy und mich aus dem verdammten Detroit rauszubekommen. Ich will, dass er eine normale Kindheit hat, und nicht den Tod eines Freundes betrauern muss. Ich will, dass er zur Schule gehen kann, ohne dass er wegen seines Lunchgelds überfallen wird.

Das Geld, das Avery mir zahlt, reicht kaum für die Miete, weswegen ich tanze. Dabei verdiene ich gut, die Arbeitsstunden überschneiden sich nicht mit den Ballettstunden und dem Babysitting, und ich kann tanzen. Ich bin nicht dafür gemacht, von neun bis fünf für einen chauvinistischen Chef zu arbeiten, denn ich halte mich nicht an Regeln. Das habe ich noch nie getan.

Tanzen ist meine Art, frei zu sein. Und das war ich, bis Bull in mein Leben trat und es auf den Kopf stellte.

„Hör auf, so eine Idiotin zu sein“, flüstere ich mir auf dem Weg zu meinem Truck zu. Es ist ein alter Pick-up, aber er fährt.

Das Tageslicht ist bereits der Nacht gewichen. Ich beschleunige meine Schritte, den Schlüssel in der Hand. Als ich eine Flasche über den Boden rollen höre, richten sich meine Nackenhärchen auf. Mit dem Pfefferspray in der anderen Hand renne ich zu meinem Truck, schließe ihn schnell auf und schiebe mich auf den Fahrersitz. Dann knalle ich die Tür zu und drücke das Schloss herunter.

Nach drei Versuchen erwacht der Motor endlich dröhnend zum Leben. Als ich die Scheinwerfer einschalte, rechne ich halb damit, dass der Boogeyman vor mir auftaucht. Ich schalte den Truck auf Drive, fahre vom Parkplatz und konzentriere mich auf die Straße, statt darauf, dass der Boogeyman mich vor langer Zeit zerstört hat.

Auf der langen Heimfahrt muss ich an meinen Bruder Christopher denken. Er ging ein paar Monate nach Jordys Geburt. Obwohl er es mir nie gesagt hat, weiß ich, dass meine Schwangerschaft ihm das Herz gebrochen hat.

Als Jordy geboren wurde, schwor ich mir, dass ich ihn mit meinem Leben beschützen würde. Ich war sechzehn und Christopher zwanzig, als ich Jordy zur Welt brachte. Ich war eine alleinerziehende Mutter, aber selbst, wenn Jordys Vater dagewesen wäre, hätte ich es Christopher nicht gesagt, weil er ihn sonst umgebracht hätte.

Jordys Dad, Michael, war Christophers bester Freund. Ich war jung und dumm, habe es aber nie bedauert, mich verliebt zu haben oder schwanger geworden zu sein. Jordy ist das Beste, was mir je passiert ist. Genau wie sein Vater, bevor er mich verlassen hat.

Michael ist der einzige Mann, den ich jemals geliebt habe, und als er ging, habe ich mir geschworen, mich nie wieder für diese Art von Herzschmerz verletzlich zu machen.

Ich erschaudere bei den Erinnerungen und gehe direkt auf den Umkleideraum zu, denn meine Schicht hat vor fünfzehn Minuten angefangen. Ich hasse es, mich zu verspäten, aber ich musste zuerst Jordy sehen. Meine Nachbarin Erika passt auf ihn auf.

Christopher sorgte dafür, dass ich versorgt war, zur Schule ging, und man sich gut um mich kümmerte, nachdem meine Mom wieder geheiratet hatte und nach Vegas gezogen war. Sie überließ uns den Wohnwagen, um mit reinem Gewissen ihre Kinder verlassen zu können, aber nachdem Christopher weg war, musste ich aus dem Wohnwagen ausziehen. Dort gab es zu viele Erinnerungen. Also zog ich in eine kleine Zweizimmer-Wohnung. Sie ist nichts Besonderes, liegt aber in der Nähe von Jordys Schule.

Jeden Morgen wache ich auf und schwöre mir, dass wir dieses Leben nicht für immer führen werden. Bevor ich anfing, im Pink Oyster zu arbeiten, nahm ich jeden Job an, um Geld nach Hause zu bringen. Aber es reichte nie, weswegen ich seit neun Monaten tanze.

Ich verdiene gut, denn im Gegensatz zu den meisten anderen Clubs zahlt das Oyster ein Gehalt. Es ist nicht viel, aber ein Ansporn, zu bleiben, weil es ein regelmäßiger Gehaltsscheck ist. Ihre Hausgebühr ist halb so hoch wie die der anderen Clubs, und sie stellt nichts für die Zeit hinter der Bühne in Rechnung. Wenn wir nicht auf der Bühne arbeiten wollen, sondern nur Lap Dances in den VIP Räumen machen, um mehr Geld zu verdienen, können wir das tun. Es ist auch nicht verpflichtend, das Trinkgeld zu teilen, weswegen Lotus keinen DJ hat. Wir behalten das, was wir verdienen, und man erwartet nicht von uns, den Angestellten etwas von unserem Trinkgeld zu geben, weil es niemanden gibt, der das braucht.