Seelensplitter

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6

Es ging gegen Mittag, als Sarah Dobler Nora die Dachterrasse zeigte.

Vom Ende des Gangs waren sie die Treppen hochgestiegen und auf der riesigen Plattform gelandet. Die Sicht von hier war phantastisch. Von der einen Seite aus sah man zum Albis hinüber, von der anderen zum Käferberg und Zürichberg.

«Wird die Terrasse häufig benutzt?», fragte Nora.

«Ab und zu verbringt jemand seine Mittagspause hier oben. Und seit das Rauchverbot durchgesetzt wurde, verziehen sich die Raucher mehrmals pro Tag für ein paar Minuten hier herauf. »

«Wer gehört zu ihnen?»

«Da die Umzugsleute vor der Garage rauchen, sind das nur Gerhard Furrer vom Lager und Claudia Campanini, manchmal begleitet von Marco Benedetto. Und dann natürlich Herr Kowalski. Bis zu jenem Tag … »

Nora ging zum Terrassenrand. Eine Betonmauer reichte ihr bis zur Hüfte, darüber war eine Metallstange angebracht. «Wo genau ist er hinuntergestürzt?»

Dobler zeigte es ihr, und Nora bemerkte, dass die Sekretärin erschauerte, als sie den Ort des Unglücks betraten. Sie wagte sich nicht ganz an den Rand, schob zögerlich einen Fuss vor und bog den Oberkörper nach hinten, weg vom klaffenden Abgrund. Hatte sie Höhenangst?

Nora stützte sich aufs Geländer und schaute in die Tiefe. Die Autos in der Hohlstrasse waren zu sehen. Ein paar Leute gingen auf dem Trottoir, man hörte Hupen und das Rauschen des Verkehrs. Dort unten war Kowalskis Leiche gelegen. Nichts erinnerte mehr daran, kein Fleck, keine markierte Stelle. Nora wandte sich ab und überquerte die Terrasse. Sie war blitzblank geputzt, als hätte hier nie eine Party stattgefunden. Nora zückte ihre Kamera, machte Aufnahmen in jede Richtung, fotografierte den Abgang zur Treppe, die Terrassentür und weiter hinten einen Lüftungsschacht. Dann ging sie nochmals zur Brüstung und knipste die Strasse. Als sie in die Tiefe blickte, wurde sie von Schwindel ergriffen. Auf einmal konnte sie sich vorstellen, wie ein Beschwipster, der seine Bewegungen nicht ganz unter Kontrolle hatte, vom Abgrund angezogen, halb hinunterfiel, halb sprang, ohne dass eine Drittperson dabei ihre Hände im Spiel hatte. Waren Jan und sie völlig auf dem Holzweg? War Kowalskis Tod nichts anderes als das, was Mike behauptet hatte? Ein Unfall, schockierend zwar, aber nicht unerklärlich?

Als hätte Sarah Dobler das Gleiche gedacht, sagte sie: «Man kann es fast nicht glauben, dass es etwas anderes als ein Unglücksfall war. »

«Sie haben Recht. Nur weil niemand Kowalski mochte, heisst das nicht, dass er getötet wurde. Vielleicht hat aber jemand einen Mord in Auftrag gegeben, um sich die Hände nicht selber schmutzig zu machen… Ich tue, was ich kann, um mögliche Hintergründe aufzudecken. Doch es kann sein, dass wir uns geirrt haben. »

«Es ist nett, dass Sie in der Mehrzahl sprechen. Wenn, dann hätte ich mich geirrt. » Dann fügte sie hinzu, als sei sie innerlich ganz woanders. «Aber ich glaube es eigentlich nicht. »

Wieder nahm Nora einen Gesichtsausdruck an ihr wahr, den sie schon einmal, als Dobler sie in ihrem Büro aufgesucht hatte, gesehen hatte. Etwas Unbeschreibliches. Eine tief eingegrabene Angst. Hatte ihr Sarah Dobler überhaupt die ganze Wahrheit gesagt?

«Ich brauche von Ihnen», sagte Nora, «die Adressen von Kowalskis letzten beiden Chefsekretärinnen. »

«Ich verstehe. Sie haben mit Roland Wehr über die Sache von damals gesprochen. »

«Hat sich Kowalski bei Ihnen nie Übergriffe erlaubt?»

Dobler seufzte. «Er hat es versucht. »

Nora wartete, ob noch mehr käme, doch Sarah Dobler schwieg.

Sie stiegen wieder hinunter. Am Empfang standen mehrere Kunden. Marco Benedetto war in seinem Element. «Sì, Signore!», rief er, kopierte etwas und händigte das Papier einem fülligen Herrn aus. Dann sprach er ein paar Worte mit einem älteren Paar, das nachfragte, ob seine Musikinstrumente sicher aufbewahrt und keinerlei Feuchtigkeit ausgesetzt seien.

«Feuchtigkeit!», rief Benedetto empört. «Bei ‹Store & Go›? Da sind Sie aber auf der Holzstrasse!»

Die Frau lachte und sagte: «In Ordnung, Sie haben uns überzeugt. Wir nehmen einen Raum von 40 Kubikmetern. Und übrigens: Es heisst Holzweg, junger Mann. »

«Wie bitte?»

«Wir sind nicht auf der Holzstrasse, sondern auf dem Holzweg. »

«Oh, nein, meine Dame, sind Sie bestimmt nicht! Ihre Instrumente sind bei ‹Store & Go› perfetto aufgehoben, das verspreche ich Ihnen. »

Benedetto entdeckte Nora, legte sich zum Zeichen seiner Verschwiegenheit den Zeigefinger an die Lippen und wirbelte von einem Kunden zum nächsten. Nora machte noch einige Aufnahmen des Eingangsbereichs, der Gänge und einzelner Büros. Das würde ihr später helfen, sich die Räumlichkeiten in Erinnerung zu rufen.

Dann verabschiedete sie sich von Sarah Dobler und fuhr mit dem Lift ins zweite Untergeschoss. In einer riesigen Halle arbeiteten mehrere Männer in Overalls. Auf den Parkplätzen standen Personenwagen, Liefer- und Lastwagen. Die Arbeiter nahmen kaum Notiz von Nora. Sie luden schwere Kisten auf Handkarren und Gabelstapler, fuhren mit diesen zum Warenlift und verschwanden. Andere schoben mit Seilen und Riemen Klaviere, Schränke und Kommoden von den Ladeflächen der Umzugswagen. Es roch nach Benzin und laufenden Motoren.

Einer rief: «Nicht so schnell, Chandra, das Teil ist noch nicht fixiert!»

Ein schmaler Tamile drosselte sein Tempo und gab etwas zurück, das ironisch klang. Zwei Männer redeten auf Türkisch und gestikulierten vor einem Stapel Schachteln. Ein anderer fuhr einen der Firmenwagen zu einem entfernten Parkplatz. Nora fotografierte Halle, Pfeiler, Autos und Eingänge zu verschiedenen Hinterräumen.

«Was tun Sie hier?», brüllte ein Schwarzhaariger und stürzte auf sie zu.

Als er näher kam, sah Nora sein Namensschild auf Brusthöhe.

«Guten Tag, Mehmet. Ich habe von Frau Dobler die Erlaubnis, mich in allen Räumen umzusehen, um –»

«Ah!» Er hielt ihr versöhnlich seine ölverschmierte Hand hin. «Sie sind die Versicherungsdetektivin! Entschuldigen Sie, wir sind angewiesen, auf Eindringlinge zu achten. Sicherheit und Diskretion stehen bei uns an oberster Stelle. Sehen Sie, dort und dort – alles wird aufgezeichnet!» Er zeigte in die Ecken, in denen Videokameras hingen. Bei den Aufzügen waren ebenfalls welche angebracht.

«Beeindruckend», sagte sie.

«Das ist es. Wenn ich Ihnen helfen kann, suchen Sie mich einfach. Ich bin immer hier unten. » Er kehrte an seine Arbeit zurück.

Nora ging noch eine Weile durch die Halle, dann hatte sie genug gesehen. Sie fuhr ins erste Untergeschoss hoch. Hier waren die grossen Mieträume untergebracht. Lange Gänge, die sich weiter hinten verloren, waren von Metallkabinen gesäumt, alle angeschrieben mit der Gang- und Raumnummer. Die Halle war an die acht Meter hoch. Da gab es Mieträume, in denen das Mobiliar eines Einfamilienhauses Platz hatte, und solche, in die man den Inhalt eines Hotels pferchen konnte. Die Kabinen waren sichtgeschützt und die Türen mit einem Schlitz für die Zugangskarte ausgestattet. Nora schaute sich um. Auch hier befanden sich überall Kameras. Auf den sauberen Wegen waren ab und zu schwarze Reifenspuren eines Transportkarrens zu sehen. Aus der Ferne hörte Nora Schleif- und Poltergeräusche, doch sie konnte nicht sagen, ob sie aus diesem Geschoss oder der Garage darunter stammten. Eine eigenartige Welt war das hier unten. Die Neonröhren an der Decke leuchteten grell, das Summen der elektrischen Leitungen erfüllte die Gänge. Nora sog die Luft tief in ihre Lungen. Es roch seltsam. Einerseits nach Metall und Beton, andererseits nach etwas Undefinierbarem, das Nora bekannt vorkam, das sie aber nicht benennen konnte. Irgend etwas Chemisches, Pulvriges. Dann wusste sie es: Insektenvertilgungsmittel. Natürlich. All die Kleider, Vorhänge und stoffbezogenen Möbel in dieser Halle waren ein gefundenes Fressen für Motten und anderes Ungeziefer.

Sie hörte Schritte, drehte sich um – und prallte Kopf an Kopf mit jemandem zusammen, der um die Ecke kam.

«Uff!», machte Nora und hielt ihre schmerzende Stirn.

«Tut mir leid!», entfuhr es dem Mann. Das hölzerne Messgerät, das er in der Hand gehalten hatte, schepperte zu Boden. Er bückte sich, hob es auf und sah sie besorgt an. «Haben Sie sich verletzt?»

«Ist nicht schlimm. Und Sie?»

«Ach was, keine Spur! Mein Schädel hält einiges aus! Suchen Sie Ihre Kabine?»

Sie verneinte und stellte sich vor.

Seine Miene hellte sich auf. «Sarah hat mir von Ihnen erzählt. Mein Name ist Tim Stalder. Ich bin der Verantwortliche für die Lagerhallen. » Er hatte ein sympathisches Gesicht mit einem dunklen Dreitagebart und Lachfältchen um die Augen. Seine Jeans betonten die athletische Figur, das ärmellose T-Shirt gab den Blick auf seine Oberarme frei. Er sah verdammt gut aus. Bevor Nora es verhindern konnte, wurde sie von einer mehr als eindeutigen Phantasie heimgesucht. Reiss dich zusammen, sagte sie sich und verscheuchte das Bild, das ihr klarmachte, wie lange es schon her war, seit sie das letzte Mal einem Mann körperlich nähergekommen war. Zumindest freiwillig. Das Einzige in letzter Zeit waren Kerle gewesen, die sie verprügelt, gewürgt, an Hausmauern geschleudert oder angeschossen hatten – ihr alltägliches Berufsrisiko eben.

«Kann ich Ihnen bei den Erkundigungen behilflich sein?», holte Stalder sie aus ihren Gedanken. «Soll ich Sie durch die Halle führen?»

«Das wär nett», brachte Nora heraus.

Sie klapperten die Gänge ab, die ihr unendlich lang vorkamen. Stalder erklärte ihr, wie die Wege und Kabinen aufgeteilt waren, und bestätigte Mehmets Bemerkung, wonach Diskretion höchste Priorität habe.

«Was wird hier alles gelagert?», fragte sie.

 

«Was immer Sie sich vorstellen können. Bilder, Schmuck, Werkzeuge, Möbel, Sportartikel, Fahrräder. Teure Waren und Schund. Lebende Tiere sind natürlich verboten, ebenso Pflanzen, Esswaren und andere verderbliche Dinge. Und selbstverständlich Illegales wie Drogen, Waffen oder explosive Gegenstände. »

Sie bogen um eine Ecke, wo ein weiterer langer Gang vor ihnen lag.

«Kontrollieren Sie die Inhalte der Kabinen?»

«Das ist nicht möglich. Die Mieter unterschreiben bei Vertragsabschluss ein Formular, womit sie bestätigen, uns keinerlei solche Sachen in Aufbewahrung zu geben. »

«Wie lange vermieten Sie die Räume?»

Er blieb vor der Kabine mit der Nummer «Gang 5, Raum 16» stehen. «Auf unbestimmte Zeit. Einige lagern hier nur zwischen zwei Umzügen ihr Mobiliar ein und holen es nach einer Woche wieder ab. Andere verreisen für ein Jahr ins Ausland und lassen Ihre Geschäftsunterlagen hier. Und wieder andere haben Kabinen bei uns gemietet, seit die Firma existiert. Wenn die Einzahlung jeden Monat bei uns eintrifft, fragen wir nicht nach. » Er nahm eine Karte hervor und steckte sie in den Schlitz der Tür. «Wenn jemand verstorben ist, suchen uns die Nachlassverwalter auf, um die Hinterlassenschaft abzuholen. Ansonsten, wenn nichts anfängt, komisch zu riechen, Geräusche von sich zu geben oder zusammenzubrechen, haben wir keinen Zugang zu den einzelnen Mietkabinen. »

«Aber Sie haben einen Passepartout?»

Er tippte auf die Karte. «Wir nennen sie die Mastercard. Die brauchen wir für unvorhergesehene Fälle. Kommen Sie, ich zeige Ihnen eine leere Kabine. » Er öffnete die Tür und liess Nora in den Raum treten, der ungefähr acht auf fünf Meter mass und etwa drei Meter hoch war. Sie hatte keine Ahnung, ob das, was sie hier unten erfuhr, für den Fall überhaupt wichtig war, doch erstmal war sie dabei, Informationen und Eindrücke zu sammeln.

Tim Stalder wies auf die Luftlöcher unter der Decke hin. «Hier kommt Frischluft durch, die zirkulieren kann; so wird nichts feucht. In jedem einzelnen Raum ist ein Feuermelder angebracht. » Er zeigte auf das runde Gerät in der Mitte der Decke. «Ein Zentralcomputer steuert die Anlage, so dass im Falle eines Brandes nur der Wassersprinkler in der betreffenden Kabine zum Einsatz kommt und das Feuer nicht auf die anderen Räume übergreifen kann. Sicherheit ist das A und O bei uns. » Er klang, als sei er stolz auf seine Arbeit und als mache sie ihm Spass.

«Wie steht es mit den Zutrittszeiten für die Mieter?»

«Montag bis Sonntag, sechs bis zweiundzwanzig Uhr. Jemand von uns ist immer da. Gerhard Furrer, ich oder einer der anderen. Wenn eine Person zu ihrem Lagerraum möchte, klingelt sie bei der Autoeinfahrt im U2. »

«Im zweiten Untergeschoss?»

«Genau. Hier sind wir im U1. Die Person wird von uns registriert und hereingelassen. Dann kann sie sich frei in ihrem Stockwerk bewegen. »

«Was ist Ihre Aufgabe?»

«Gerhard und ich weisen Neumieter ein, kontrollieren die Räume auf Schädlinge, bekämpfen diese nötigenfalls und helfen beim Ein- und Ausladen. Dazu gehört alles, was mit der Technik zu tun hat – Lüftung, Schlösser, Sicherheit. »

«Vielen Dank», sagte Nora.

«Bringt Sie das weiter, was den Tod von Kowalski betrifft?»

«Das weiss ich noch nicht», gab sie zurück. «Wie ist eigentlich Ihr Kontakt untereinander?»

Stalder steckte seine Hände in die Hosentaschen und überlegte kurz. «Gerhard und ich sind meistens hier in den Lagerhallen und haben wenig mit den Mitarbeitern der Administration zu tun. Ich arbeite gern allein, auch wenn ich durchaus ein geselliger Typ bin. Die Mittagszeit verbringe ich ab und zu mit den anderen auf der Dachterrasse. Gerhard Furrer – Sie werden ihn sicher noch kennenlernen – ist ein ausgesprochener Einzelgänger. Die Leute vom U2 sind häufig für Umzüge ausser Haus und haben kaum Kontakt mit uns. Kowalski selber war nicht sehr beliebt, das haben Sie vielleicht schon bemerkt. Sarah Dobler ist die Seele der Firma. Sie kümmert sich um alles, vergisst sich aber manchmal selbst dabei. Jeder mag sie. Mit Ausnahme von Cedric Stark. Der mag niemanden ausser sich selbst. Roland wiederum ist ein unkomplizierter Typ, der mit allen gut auskommt. Marco vom Empfang schäkert mit jeder Frau, ist aber über beide Ohren in Claudia verliebt. Und Ruth Mäder, unsere Älteste, ist gar nicht so konservativ, wie sie wirkt, und kommt mit den Jungen gut klar. » Er machte eine Pause und sagte lächelnd: «Vermittelt Ihnen das ein umfassendes Bild? Alles in allem ist das Arbeitsklima nicht schlecht, finde ich. Wir sind ein Haufen verschiedenster Leute, doch irgendwie funktioniert das Ganze. »

«Eine Frage noch», meinte Nora. «Kowalskis Sturz. Können Sie mir irgendetwas erzählen, das Ihnen aufgefallen ist?»

«Wahrscheinlich nicht mehr, als Sie schon von den anderen gehört haben. Ich bin nicht einmal sicher, ob mich sein Tod überrascht hat. Die Art natürlich schon. Der Zeitpunkt auch. Aber die Tatsache, dass er mit noch nicht einmal sechzig Jahren gestorben ist, passt irgendwie zu ihm. »

«Wie meinen Sie das?»

«Er war wie eine Kerze, die an beiden Enden brannte. Cholerisch, hyperaktiv, voller Energie und Adrenalin. Was auch immer die Todesursache war, ich hätte ihn mir nie als Achtzigjährigen vorstellen können. »

«Schliesst das Mord mit ein?»

«Mord? Denken Sie an so was?», fragte er erstaunt. «Ja, es klingt vielleicht komisch, aber… eigentlich würde es das miteinschliessen. Sarah meinte, Sie kämen wegen einer Versicherungssache. Aber Sie arbeiten doch für die Polizei, oder nicht?»

Nora wollte nicht länger an der läppischen Versicherungslüge festhalten. «Ich bin freie Detektivin. Sarah Dobler hat mich beauftragt, den Fall zu übernehmen. »

«Warum?»

«Sie befürchtet, ein Mörder befinde sich unter ihren Kollegen und könnte weiter töten. Sie hat Angst. »

«Wirklich?» Er wirkte ehrlich überrascht. «Sie glaubt, einer von uns habe Kowalski getötet?»

Nora trat aus der Kabine auf den Gang zurück und sah Stalder an.

Er folgte ihr nachdenklich und schloss die Tür des leeren Raums. Er schwieg lange. Endlich sagte er: «Wissen Sie was? Auf Sarahs Urteil habe ich mich immer verlassen können. Es würde mich nicht wundern, wenn sie Recht hätte. »

Nora brauchte eine Weile, bis sie Gerhard Furrer gefunden hatte. Nachdem sie mehrere Stockwerke durchkämmt hatte, die aus vielen Gängen mit unzähligen kleinen und mittleren Lagerräumen bestanden, fand sie ihn in der dritten Etage. Er war gerade dabei, den Boden zu wischen, eine bleiche Gestalt in den Fünfzigern.

«Gerhard Furrer?», rief sie in seine Richtung.

Er hörte sie, bog um eine Ecke und verschwand.

Nora folgte ihm. «Hallo? Herr Furrer?»

Als sie ihn erreicht hatte, schaute er sie grimmig an. Er hatte ein hageres Gesicht, tiefliegende Augen und nur noch spärliches Haar auf dem Kopf. Sein Oberkörper war gekrümmt, seine knochigen Finger umklammerten den Besenstiel. Ein Totengräber, schoss es Nora durch den Kopf.

«Ich kann Ihnen nichts sagen», knurrte er mit der heiseren Stimme eines Mannes, der nur selten spricht. «Ich war am Fest dabei. Kowalski trank, fiel von der Terrasse – fertig. »

Er drehte sich um und schob den Besen weiter vor sich her.

«Eine Frage nur, Herr Furrer –»

«Nein», sagte er, «lassen Sie mich in Ruhe. »

«Wegen Kowalskis –»

«Kein Wort! Gehen Sie!»

7

Es war früh am Morgen und regnete in Strömen. Windböen fegten über das Dorf, wirbelten Blütenstaub, Äste und Blätter die Felder hinauf, rüttelten an allein stehenden Eichen und erreichten Alrunas Garten. Die Baumstämme ächzten. Der Weg von den Beeten zum Haus war matschig, die Erde getränkt mit zu viel Nass. Dann, von einem Moment auf den anderen, hörte der Niederschlag auf. Alruna sass auf der vom überhängenden Dach gedeckten Bank vor ihrem Haus und schaute übers Land. Sie würde an ihrem Vorhaben festhalten. Sie würde ihre Mission in der vorgegebenen Zeit erfüllen. Noch knapp drei Wochen bis zu ihrem 27. Geburtstag. Bald war es so weit. Bald hätte sie ihr Leiden auf dieser Welt überstanden. Seit sie ein Kind war, hatte sie auf diesen Tag gewartet.

Ihre Kindheit, diese Anhäufung von Verwirrungen …

Als sie sechs war, war eine Frau vom Sozialamt gekommen und wollte Alruna, die man damals noch Lisa nannte, ihren Eltern wegnehmen. In ein Heim wollte sie sie bringen, wo andere Kinder wie sie lebten. Lisa wusste nicht, was damit gemeint war. Das Wort «Vernachlässigung» hing im Raum, was immer das bedeuten sollte.

Rebekka schaute die Beamtentusse, wie sie die Frau nannte, mit verschwommenem Blick an und lallte: «In Ordnung, Sie können sie haben, nehmen Sie sie mit. »

Ronny widersprach. «Die Kleine ist doch lustig. Wär schade, sie wegzugeben. »

Lisa stand zwischen den drei Erwachsenen und spürte eine Eiseskälte in sich. Ronny nahm sie auf den Arm, was er nicht mehr getan hatte, seit sie ein Baby gewesen war, und sagte mit gespieltem Ernst zu der Fremden: «Das ist unser Kind. Sie können es nicht einfach entwurzeln. »

«Entwurzeln!», kreischte Rebekka mit schrillem Lachen.

Die Frau wollte Lisa aus Ronnys Griff lösen, doch dieser drückte sie nur noch enger an sich. Ein Streit brach aus. Rebekka gab in ihrem beduselten Zustand nur Unverständliches von sich, durchmischt mit Gegluckse und Gekicher.

Ronny sagte «Sozialschlampe».

Die Frau drohte zurückzukommen, mit Verstärkung.

Lisa sah sie nie wieder.

Später erzählte Rebekka, das Amt habe die Sache «komplett versiebt», und vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätten die Kleine mitgenommen.

Ronny meinte: «Ach was, irgendwann würde sie uns fehlen» und fütterte Lisa mit ein paar seiner frischgebackenen Haschbiskuits. Lisa sträubte sich, schüttelte den Kopf, doch Ronny schob ihr die Plätzchen mit sanftem Druck in den Mund. «Schluck, meine Liebe, wird dir guttun. »

Lisa würgte und brachte die Bissen kaum hinunter. Sie kaute die zuckersüssen Brocken, die einen ekligen Nebengeschmack hatten. Endlich gelang es. Sie schluckte. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie wusste, was jetzt kam.

Und es kam.

Alles begann, sich vor ihr zu drehen. Die Melodien verzerrten sich zu Schwaden, die durch den Raum wabberten. Die Freunde ihrer Eltern schienen sich im Zeitlupentempo zu bewegen. Ihre Münder öffneten sich, und unverständliche Laute kamen heraus, deren Echos dumpf widerhallten. Rote und violette Formen entstanden in ihren Gesichtern, verdichteten sich, verwandelten sich in verzerrte Fratzen. Von Angst gepeinigt kroch Lisa in eine Ecke und wimmerte.

«Siehst du!», grinste Ronny. «Fährt voll ein!»

Da tauchten tief in ihrem Innern die bleichen Gestalten wieder auf, die Dämonen. Sie griffen nach ihr. Wisperten. Zischten. Und drohten. Mit staksigen Bewegungen tanzten sie um sie herum. Und in ihr drin. Es war ein Tanz des Grauens. Sie hörte, dass etwas in ihr schrie, ohne zu wissen, ob sie das war oder die fremden Wesen, die in ihr lebten.

«Hör auf, so rumzunerven, du Hexe!», rief Rebekka energielos, liess ihren Kopf nach hinten kippen und schloss die Augen. «Du versaust mir meinen Trip. »

Einer der Freunde ihrer Eltern feixte: «Genau! Eine Hexe ist sie! Und Hexen müssen brennen!»

Ein anderer machte mit seinen Fingern die lodernden Bewegungen von Flammen nach. Alle lachten.

Lisa torkelte nach draussen, hörte die Stimmen in sich. «Hexen müssen brennen!», riefen sie höhnisch. «Ins Feuer mit ihr!»

Sie lief durch den Garten und wünschte sich, ihr Rabe Abraxas wäre da. Zitternd, mit ausgetrockneter Kehle, brach sie zusammen. Ihr Körper fühlte sich heiss an, durch ihre Glieder züngelten die ersten Flämmchen. Sie war eine Hexe. Irgendwann würde sie verbrennen, das wusste sie.

Jetzt, zwanzig Jahre später, war der Zeitpunkt nah. Alruna ging zurück ins Haus. Sie schloss die Tür, die in den Angeln quietschte, hinter sich. Ihr Rock war klatschnass. Hinterliess grosse Pfützen auf dem Holzboden. Es machte nichts. Nichts war mehr wichtig ausser ihr Auftrag. In der Küche füllte sie ein neues Fläschchen mit dem tödlichen Gebräu. Sie verschloss es vorsichtig und stellte es bereit. Ja, sie würde diese Erde verlassen. Bald. Doch bevor sie starb, mussten andere sterben.

Tiefe Wolken zogen über den Friedhof. In der Erde lag der Sarg.

«Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name», sprach der Pfarrer, schaute über die Trauernden und dann über die Gräberreihen.

 

Sarah Dobler betrachtete die Anwesenden. Antje Kowalski war kohlrabenschwarz angezogen. Die anderen hatten sich ebenfalls dunkel gekleidet, mit Ausnahme von Claudia Campanini, die wie immer in schreienden Farben dahergekommen war, als wollte sie damit sagen «ihr könnt mich alle mal» oder «endlich ist der Alte tot». Dafür hatte Sarah kein Verständnis. Natürlich war Kowalski nur schwer zu ertragen gewesen, aber er hatte es auch nicht leicht gehabt. Mehr als einmal hatte Sarah gedacht, er sei sich selbst der ärgste Feind gewesen.

«Dein Reich komme, dein Wille geschehe», sagte der Pfarrer.

Kowalskis Witwe gab leise Schluchzer von sich, tupfte ihre Augen mit einem Taschentuch trocken und schneuzte sich die Nase. Warum nur hatte Sarah das Gefühl, das Ganze sei inszeniert, die Trauer nur zur Schau gestellt? Sie hatte nichts über die Ehe der Kowalskis gewusst. Ob sie sich geliebt hatten oder sich im Laufe der Jahre überdrüssig geworden waren? Ihr Chef hatte Prinzipien gehabt. Dazu hatte gehört, dass Familienangelegenheiten Privatsache waren. Sarah musste ihn zwar jedesmal an Antjes Geburtstag erinnern, weil er diesen immer vergass, aber was er für seine Frau wirklich gefühlt hatte, wusste Sarah nicht. Sarah schaute seine Witwe eine Weile an und hörte mit halbem Ohr die Worte des Geistlichen.

Ausser Antje Kowalski waren noch zwei Verwandte aus Deutschland angereist, der Rest waren Geschäftsleute, Firmenpartner und Mitarbeiter. Ein klägliches Grüppchen, kaum zwanzig Personen. Nicht einmal alle von «Store & Go» waren gekommen. Sie hatten einen Tag frei erhalten, doch einige hatten sich entschieden, ihn anders zu nutzen. Sarah schauderte beim Gedanken, was am Schluss von einem übrig blieb. Geld und andere materiellen Güter konnte man nicht mitnehmen; doch Freundschaften, menschliche Verbindungen, Liebe – all das waren doch ewige Dinge, die auch der Tod nicht beenden konnte. Oder doch? Wer würde dereinst an ihre Beerdigung kommen? Viele Leute mochten sie, das spürte sie, aber wem bedeutete sie wirklich etwas? Wem würde sie fehlen? Sie wusste es nicht, und das erschreckte sie.

«Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern», fuhr der Pfarrer fort.

Claudia schäkerte mit Marco. Cedric Stark warf den beiden einen vernichtenden Blick zu, Ruth Mäder schüttelte verständnislos den Kopf. Tim schien in sich gekehrt. Und Chandra, der Tamile, lächelte versonnen vor sich hin. Glaubte er an die Wiedergeburt? Sarah wusste nicht einmal, welcher Religion er angehörte. Vielleicht war er Buddhist. Oder Hindu. Schade, dass man nie über so etwas sprach. Ein tröstlicher Gedanke, mehrmals auf diese Welt zu kommen. Fehler wiedergutmachen zu können, zweite Chancen zu bekommen, geliebte Menschen wieder zu treffen. Doch vielleicht wäre es auch ein Fluch, je nachdem, welche Art von Leben hier auf einen wartete.

«Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen», sprach der Pfarrer.

Da begann es zu nieseln.

«Shit!», stiess Claudia aus und spannte einen giftgrünen Knirps auf. Andere wühlten in ihren Handtaschen, und nach kurzer Zeit war die Gruppe von einem Dutzend Schirme überdacht, auf die die Tropfen immer heftiger prasselten. Sarah griff in ihre Tasche und merkte, dass sie ihren Schirm zu Hause vergessen hatte.

Plötzlich nahm sie eine Gestalt hinter einer Eibe war. Einer der Äste bewegte sich. Etwas Helles tauchte auf. Ein Gesicht. Dann war es wieder verschwunden. Sie schaute genauer hin, doch das Ganze dauerte nur eine Sekunde, dann zog sich die Person in ein Gebüsch zurück und huschte hinter einen Grabstein. Vielleicht ein verspäteter Trauergast oder ein zufälliger Spaziergänger, versuchte Sarah sich einzureden. Oder sie hatte sich getäuscht, und es war nur eine Friedhofskatze gewesen, die Schutz vor dem Schauer suchte? Oder ein Vogel im Gestrüpp? Während sie darüber nachdachte, wusste sie, dass sie sich nicht getäuscht hatte.

Jemand hatte sie beobachtet.

Sie sah zu Gerhard Furrer hinüber, dessen Hakennasenprofil sich wie eine hässliche Karikatur gegen den Himmel abzeichnete. Furrers Blick war auf die Eibe gerichtet, deren Äste noch nachwippten, seine Hände waren zu Fäusten geballt. Auch er hatte den Beobachter gesehen. Sarah fühlte einen Stich im Magen. Der Regen tropfte auf ihren Kopf und lief über ihr Gesicht.

«Asche zu Asche», sagte der Pfarrer. «Staub zu Staub. »

War das ein Chaos! Jan mit seiner Ordnungsliebe hatte so etwas noch nie gesehen. Sogar Nora war um Längen besser, obwohl auch sie sein Bedürfnis nach Symmetrie, Logik und Übersicht bisweilen arg strapazierte. Aber diese Pultschubladen übertrafen alles. Jan war seit einer halben Stunde dabei, Dinge aus Kowalskis Regalen, Kommoden und dem Schreibtisch herauszufischen und auf dem Boden auszubreiten. Sarah Dobler hatte ihm nach Absprache mit Antje Kowalski freie Hand gelassen. Er ordnete die Gegenstände zuerst nach «belebt» und «unbelebt». Das bedeutete, angefaultes Obst, Kaugummis, Brötchen und der kleine Kaktus, der die Dunkelheit in der Schublade überlebt hatte, kamen auf die eine Seite des Teppichs, Papiere auf die andere. Als diese Kategorien nicht mehr reichten, schuf er die Gattung «Diverses». Doch auch diese wuchs im Laufe der Zeit zu einem unübersichtlichen Haufen an, so dass er erneut Unterteilungen vornehmen musste.

Einmal kam Sarah Dobler herein und runzelte die Stirn. Jan erklärte ihr, dass er sich einen Überblick verschaffe, und sie schien ihn zu verstehen. Wenn er sich ihre Arbeitsumgebung, in der akribische Ordnung herrschte, ansah, glaubte er sogar, in ihr eine verwandte Seele gefunden zu haben. Sie fragte, ob er einen Kaffee wolle, doch er bat um einen Tee. Sie brachte ihm eine Tasse, stellte sie auf den Glastisch. Jan nippte am Getränk. Sarah Dobler verschwand wieder, leise, wie sie gekommen war, und Jan machte weiter.

«So», murmelte er nach einiger Zeit zu sich selbst, trat ein paar Schritte zurück und betrachtete die Auslegeordnung. Nora hatte ihm diese Aufgabe übertragen, während sie nochmals mit einigen Mitarbeitenden sprach. Sie hatte bemerkt, wie gern Jan sich diese Arbeit vornehmen würde, und sich geopfert, den kommunikationsverweigernden Furrer im Untergeschoss aufzusuchen.

Jan machte Fotos von seinem Werk, dann begann er, die Fundstücke einzeln aufzulisten.

«Zwei Schokoriegel», notierte er ins Heft. «Eine Tüte Pfefferminzbonbons. Fünf Päckchen Zucker, eins davon offen. Getrocknete Feigen und Rosinen. Eine verschrumpelte Ginsengwurzel. Ein Landjäger. » Zuunterst schrieb er «ein Apfelbütschgi», weil ihm das deutsche Wort nicht einfiel.

Dann kontrollierte er Kowalskis Unterlagen. Ordner für Ordner arbeitete er sich durch Rechnungen, Jahresberichte, Lieferscheine und Briefe an die Kundschaft. Auch bei den administrativen Dingen herrschte ein komplettes Wirrwarr. Quittungen, von denen man keine Ahnung hatte, welche Ausgaben sie belegten, klebten neben Ferienfotos in Notizbüchern, längst abgelaufene Garantien waren hinter Werbebroschüren geheftet. Diverse Ordner verfügten zwar über ein Register, doch war dieses entweder nicht angeschrieben, oder der Inhalt stimmte nicht mit dem Titel überein. Die Stunden vergingen. Jan blätterte durch unzählige Dokumente. Irgendwann fand er zwischen zwei Bestellformularen einen computergeschriebenen Brief, überflog ihn – und erstarrte.

Dann las er ihn nochmals, Wort für Wort:

«Ich weiss, dass Sie Waffen in Ihren Räumen lagern und damit handeln. Heben Sie hunderttausend Franken in gemischten Scheinen von Ihrem Konto ab. Halten Sie das Geld bereit. Ich melde mich in einer Woche mit Einzelheiten für die Übergabe. Ihr Waffenlager zu leeren, hilft Ihnen nicht. Ich habe Fotos davon auf meinem Mailaccount gespeichert. Ein Klick, und sie wandern zur Polizei. »

Jan ging die Zeilen erneut durch. Das war ein Ansatzpunkt. Nun wurde ein Verbrechen an Kowalski viel wahrscheinlicher. Er holte sein Handy hervor und tippte ein SMS an Nora, die sich irgendwo in diesem Gebäude befinden musste: «Erpresserbrief gefunden. Nimm Gegenstände mit Fingerabdrücken der Mitarbeiter mit. »

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