Lichter als der Tag

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»Ach, willst du das?«, fragte er.

»Ja, sag es mir, verflucht!«

»Geh raus und mach die Tür zu«, sagte Merz zu seiner Frau. »Ich lasse so nicht mit mir reden. ›Ohlsdorf‹! Das ist aberwitzig. Als würde ich im Bett liegen und hier wie ein Lebensmüder Stadtteilnamen brüllen. ›Harvestehude!‹, ›Eimsbüttel!‹, ›Sasel!‹« Er lachte, oder tat, als würde er lachen. »Ich habe tief und fest geschlafen, Mensch!«

Lupinen? Er hatte keine Lupinen gesehen. Lupinen waren für ihn überhaupt keine Blumen, sondern Futterpflanzen. Sie wurden angebaut, um untergepflügt zu werden, wenn sie noch grün waren. Sie dienten der Nährstoffanreicherung des Ackerbodens, so wie Esparsetten und Luzernen. Blühende Lupinen waren reich an Nektar. Dutzende Bienen-, Wespen- und Hummelarten liebten den Lupinennektar … wenn bei Hautflüglern von Liebe zu sprechen nicht zu viel des Guten war.

Der große blassviolette Strauß Blumen, der unten gestanden und dessen Geruch ihn so kirre gemacht hatte, fiel ihm wieder ein. Meinte Floriane den?

Konnte man denn bei einer Kieferchirurgin von Liebe sprechen?

Wespen lebten im Durchschnitt zweiundzwanzig Tage lang. Merz war überzeugt, dass jede einzelne Wespe auf ihre ihm unbekannte Weise diese so absurd kurze, ihr auf der Welt gegönnte Frist liebte.

Jawohl, liebte!

Die Wespe liebte jeden Lupinenkelch, der sie mit dem versorgte, wonach ihr der Sinn stand und was sie deshalb ersehnte. Nicht nur den Nektar. Wespen waren nicht gefräßig. Auch den Duft, die Farbe, das Licht der Welt im Sommer liebte die Wespe.

Wie schon unzählige Male, so war er auch jetzt drauf und dran, seiner Frau vorzuschlagen, sie solle sich statt um Kiefer lieber um Kiefern kümmern.

»Kiefernchirurgin, wäre das nichts für dich?«, hatte er sie des Öfteren beinahe gefragt.

Im Dunkeln lächelte er, sie konnte es nicht sehen.

Floriane drehte sich aber auch so mit einer Bewegung um, die ihren ganzen Zorn auf ihn verriet, und marschierte durch den Flur davon.

»Tür zu, Frau Doktor!«, rief er ihr nach.

Er lachte. Diesmal war es ein wirkliches Lachen, auch wenn es Flori nicht gerecht wurde. In ihrer Angst, vergessen zu werden, schrieb sie vor einem Treffen mit einer Freundin oder Kollegin eine Erinnerungs-SMS: »Heute sind wir verabredet. Ich freue mich darauf, Dich um 19.45 Uhr in unserem Stammlokal in Eppendorf zu treffen. LG Floriane.«

Etwas rührend Kindliches hatte sie in ihrer Scheu an sich, und er hatte das lange an ihr geliebt. Doch wie fast alles in ihrer Ehe waren sie ein Automatismus geworden, ihre Schüchternheit und seine Rührung.

»Eppendorf!«, rief Raimund Merz.

Flori – die reizend sein konnte und klug war, so erfahren wie zurückhaltend – war in ihrem ganzen Leben nur von einem einzigen Menschen je vergessen worden, und ausgerechnet diese von ihr mit gutem Recht so verachtete Frau, die ihre beste Freundin gewesen war, hatte ihr Mann wiedertreffen müssen.

Im Flur, von dem ihre zwei Schlafzimmer und die Kinderzimmer ihrer Töchter abzweigten, ging das Licht an, und schon erschien im Türrahmen erneut Floriane, diesmal jedoch nicht allein. Vor sich her schob sie Priska. Zwar schlief das Mädchen halb, davon ließ sie sich aber nicht beirren. Sie fasste Prissy bei den Schultern, drehte ihr das Gesicht in Merz’ Richtung und hielt das Mädchen fest.

»Sag deinem Vater, wieso du grad in mein Zimmer gekommen bist, um mich zu wecken.« Floriane war jetzt aufgebracht, »fuchsig« nannte sie das.

»Ich bin aufgewacht, weil Papa laut gerufen hat«, sagte Prissy wie ein Automat. »Da hab ich Panik gekriegt und bin zu dir rüber. Reicht das?«

Floriane fragte: »Was hat dein Vater gerufen?«

Und Priska sagte: »Hab ich doch gesagt. Was du auch gehört hast.«

Er sah, Priska hatte die Augen gar nicht geöffnet, und sagte sich, dass ihr alles, was sie zu erleben glaubte, morgen womöglich wie ein Traum vorkam.

Floriane sagte: »Priska, laut bitte.«

Und Priska keuchte: »›Ohlsdorf!‹, das hat Papa gerufen. Oh my god, ja, so hat es sich angehört! Zweimal, glaub ich, hat er das gerufen.«

Und wieder Floriane: »›Ohlsdorf!‹, ›Ohlsdorf!‹, ja? Bist du dir sicher? – Prissy! Priska Marie. Bist du dir sicher?«

Prissy ließ das Kinn auf die Brust sinken. »Weiß nicht«, sagte sie. »Ja. Ohlsdorf. Du hast es doch selber gehört, hast du gesagt. Ich will endlich schlafen.«

»Gut«, sagte ihre Mutter. »Ab ins Bett. Licht aus.«

Das Flurlicht ging aus. In der Stille, als seine Tochter zurück in ihr Zimmer geschlurft war, hörte Merz von Neuem den Regen vorm Fenster. Es goss wieder, und das Prasseln schluckte alle Geräusche. Kein Vogel war in dem Dauergetrommel zu hören, aber womöglich hatten sie auch einfach aufgehört zu singen.

Vielleicht war er herzlos; dennoch, gerade jetzt fand er es gemütlich im Bett. Nein, in Wahrheit war die Regennacht angenehm, das Durchrieseltwerden von Geräuschen, die ihm seine missliche Lage deutlich machten. Dieses aufwühlende Hinundhergerissensein! Denn das war er wirklich, hin- und her-, her- und hingerissen, ganz als stünde er unter dem Zauber eines machtvollen Zweifels, der ihn einerseits fühlen ließ, dass es auch um sein eigenes Leben ging, und andererseits, dass dabei alle Empfindungen seiner Kontrolle entglitten. So dunkel wie die Nacht schwebte etwas dunkel über ihm. Und die Dinge konnten binnen Sekunden eine Wendung nehmen, die alles von Grund auf veränderte. Wie oft ihm jetzt das Herz bis in den Gaumen hinauf schlug, kaum dass er sich ausmalte, was nicht alles mit seinem Leben passieren konnte.

Flori stand unverändert in der Tür. Sie wusste nicht, was in ihm vorging. Sie hatte es einmal gewusst, und Interesse daran gehabt. Aber jetzt sagte sie nichts, lehnte bloß stumm mit der Schulter am Rahmen und blickte mit zusammengekniffenen Augen ins Zimmer und zu dem Bett, in dem er lag und die Tür im Blick behielt, gleichmütig, angenehm durchrieselt und absolut unschuldig.

Doch, sie hatten einmal genau gewusst, wie es um den anderen stand. Beide waren sie Verlierer gewesen, aber hatten jeder den Verlust hingenommen und waren nicht daran zugrunde gegangen.

Da war ein Moment gewesen, an den erinnerte er sich nur vage, so schwach wie an bedeutsame Dinge in der Kindheit. Flori und er mit einem Mal allein im Wald auf der Moräne. Ihre Nähe. Ihre Haut. Ihr Atem. Immer der Kummer. Und ihr Hinweglachen. Sein Begehren. Sein Begehren, das sich ablöste von Inger, obwohl er das nicht wollte. Wie lange ging das? Jahre, Wochen, Stunden. Irrweg der rein körperlichen Leidenschaft. »Moritz, ja!«, rief sie so oft, wenn sie miteinander schliefen. »Moritz, ja!«

Aber er war nicht Moritz.

»Deine Lügen«, so begann Flori schließlich, »ich habe sie ein für alle Mal satt. Auf der Stelle sagst du mir die Wahrheit, oder du lernst mich kennen. Glaub ja nicht, ich würde Rücksicht auf deine Tochter nehmen! Wo bist du gewesen, nachdem du dich heute Mittag mit einer Lüge in deinem Lügenbüro krankgemeldet hast? Sag mir ja nicht noch mal, du wärst in der Staatsbibliothek gewesen! Ich habe am frühen Abend in der Stabi angerufen, es hat dich dort keiner gesehen, seit Wochen nicht, und nach Hause gekommen, nach neun Stunden, bist du ohne ausgeliehenes Buch, dafür durchgeschwitzt bis auf die Knochen! Raimund, du hörst mich. Lüg mich nicht an. Ich bin deine Frau. Ich bin fast fünfzig und kenne dich seit über vierzig Jahren. Ich habe verdammt noch mal ein Recht darauf, dass du mich nicht belügst. Ein letztes Mal: Wo warst du?«

Wo er gewesen war, Inger und Pippa und womöglich Moritz, wenn der noch lebte, dicht auf den Fersen, vor ihrem Haus, in ihrer Siedlung und an der Schule des Mädchens, das konnte er nie und nimmer zugeben, Floriane würde es weder verstehen noch ihm verzeihen. Stimmte denn, was sie behauptete, hatte sie ein Recht darauf, dass er sie nicht belog? Nein, nur darauf, nicht verletzt zu werden. Wo also war er gewesen in diesen neun Stunden, die sich vor seinem geistigen Auge zusehends in eine Leerstelle, eine Lebenslücke verwandelten? Allmählich wusste er selbst nicht mehr, wie er den Nachmittag und den Abend verbracht hatte, und minütlich fühlte er deshalb deutlicher die Notwendigkeit, etwas erfinden zu müssen.

»Ich denke nicht, dass du vierundzwanzig Stunden am Tag zu wissen brauchst, wo ich mich aufhalte, mein Schatz«, sagte er in einem Ton, der, um ihm Zeit zu verschaffen, eine bodenlose Frechheit sein sollte.

»Ach?«, lautete Florianes prompte Reaktion. Ihre Stimme hob sich. »Ach nein?« Schon fing sie an zu kreischen. »Seit wann denn das? Seit du hier allein das Sagen hast? Oder seit du heimlich Jugendfreundinnen triffst, mit denen dich noch etwas ganz anderes verbindet, wie du sehr gut weißt!«

»Ich habe hier nicht allein das Sagen. Aber du hast es genauso wenig«, sagte Merz ruhig. Er gab sich betont gelassen, um auch dadurch den Anschein zu erwecken, dass ihr Verdacht absurd war. »Sobald wir uns in diesem grundsätzlichen Punkt einig sind, will ich gern sehen, ob ich dir anvertrauen möchte, wo …«

»Ich gebe dir neun Sekunden«, fiel ihm Flori ins Wort. »Bis dahin sagst du mir entweder, wo du heute neun Stunden lang deine Finger gehabt hast, oder …«

»Oder was?«

Flori sagte nichts.

Sie war wirklich furchtbar aufgebracht. War das gerecht? Merz wusste sehr wohl, dass er kein hervorragender oder herausragender, kein großartiger, sondern höchstens ein mittelprächtiger, mittelmäßiger Mann und Mensch war. Er machte keinen Hehl daraus. Auch wenn sie den Unterschied gern verwischte, war er kein Nachrichtenredakteur, sondern Nachrichtenredaktionsangestellter. Immerhin schrieb er ab und zu, in jüngster Zeit allerdings häufiger, für den Tag. Ohne dass er es darauf anlegte, tauchte sogar die Chefredakteurin, Mareike Kennedy persönlich, nun ab und zu bei Bruno und ihm auf und fragte, indem sie groß wie ein Brauereipferd mitten im Zimmer stand, ob er nicht Lust habe, »mal wieder was über Krabbler zu schreiben«.

 

Er schien ein Händchen für naturwissenschaftliche Artikel zu haben, insbesondere für solche, die das Spezialgebiet Entomologie berührten, das hatte sich herumgesprochen und den Kollegen einigen Respekt abgenötigt, die Ehrfurcht der Bienen vor der Wespe sozusagen. Aber für gewöhnlich bestand sein Büroalltag dennoch aus Korrekturlesen, Korrespondenzpflege und, das vor allem, Hin-und-her-Gerenne. Er kannte den Keller des Magazins, in dem das Archiv lagerte, besser als der Hausmeister. Manchmal fragte er sich, ob nicht in Wahrheit er längst der Hausmeister des Tag war. Er musste überall und nirgends anwesend sein oder zumindest so tun. Aber bildete er sich deshalb gleich ein, unersetzbar zu sein? Aus eigener Erfahrung wusste er, dass dem nicht so war. Mehrere ältere Kollegen hatte man »freigestellt aufgrund suboptimal flexibler Skills«, wie es in der Sprache der zynischen Untoten hieß, mit denen Mareike Kennedy sich umgab; Mitarbeiter wie er waren gefeuert, verschrottet und entsorgt worden, und natürlich war es nur eine Frage der Zeit, dass es ihm genauso erging. Immerhin war er kein Popanz. In seinem Privatleben, in seiner Freizeit gab er sich Mühe, ein guter Vater und nach Kräften Vorbild und Ratgeber seiner Töchter zu sein, und auch als Ehemann hatte er sich nichts oder kaum etwas vorzuwerfen. Er war für seine Frau da, wenn sie ihn brauchte, und das seit einer Ewigkeit. Er nahm Floriane in Schutz vor ihren Schwestern, die dreimal hartherziger waren als sie, und er hatte seine Frau nie betrogen, und wenn er es hätte, wäre es nicht oder kaum der Rede wert gewesen, weshalb sie auch nichts davon zu wissen bräuchte. Mit Inger war es damals, als sie und er endlich zueinandergefunden hatten, etwas völlig anderes gewesen, mit Betrügen oder Hintergehen hatte es rein gar nichts zu tun. Ein einziges Mal war er aus allem herausgetreten und hatte etwas zuwege gebracht, das man einem wie ihm nie zutrauen würde. Aber, und das war es, was er sich fast jeden Tag mit gutem Gewissen sagte, er hatte es nicht für sich getan, sondern aus Freundschaft, zumindest anfangs. Außerdem wusste Flori so gut wie alles. Und es war so lange her! Verletze sie nicht. Tu der Mutter deiner Kinder nicht unrecht, dann bringst du deine Ehe und Familie nicht in Gefahr und dein Leben nicht aus dem Gleichgewicht, sagte er sich seither.

»Ich war in Ohlsdorf«, sagte er nach etwa neun Sekunden.

»›Ich war in Ohlsdorf‹!«, machte sie ihn nach. »Als ob das nicht schon die ganze Straße wüsste! Liegt hier und ruft ›Ohlsdorf!‹ durch die Nacht. Wieso, will ich wissen, wo genau, will ich wissen, mit wem und bei wem, will ich wissen, warst du in Ohlsdorf!«

Allmählich wurde es ihm zu bunt. »Was hast du gegen Ohlsdorf?«, fragte er ehrlich erstaunt. »Hast du eine Ohlsdorf-Phobie?«

Er lachte, aber nur in sich hinein.

»Sag es.«

»Was?«

»Sag es!«

»Was denn?«

»Warst du bei ihr?«

»Ihr? Bei wem denn?«

»Bei ihr und ihrer Tochter! Du weißt genau, von wem ich rede – von wem zu reden du mich zwingst!«

Gleich, endlich, würde sie in Tränen ausbrechen.

Aber sie weinte nicht.

»Entschuldige, aber ich kann dir nicht ganz folgen. Du meinst doch nicht … meinst du etwa …?«

Es regnete und regnete, aber Flori weinte nicht. Merz kam es so vor, als würde er im strömenden Regen draußen im Garten liegen. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn.

Die Enten auf der träge durch die Abendhitze dahinfließenden Alster fielen ihm ein. Wie zornig sie waren.

»Woher weißt du eigentlich, dass Inger und Pippa in Ohlsdorf wohnen?«, fragte er nicht länger lauernd und unterwürfig, sondern ganz ruhig, beinahe so kaltblütig, wie er sich am Nachmittag vor der Schule des Mädchens und in der fremden Siedlung gefühlt hatte.

Flori merkte selbst, dass sie in ihrer Wut zu weit gegangen war und sich deshalb verplappert hatte.

Und plötzlich knickte sie ein. Sie sagte nichts mehr. Und als hätte sie alle Kraft aufgebraucht, klappte sie auch körperlich zusammen, ging in die Hocke, sank auf die Knie und zur Seite und kauerte dann in ihrem weißen Pyjama reglos in der Zimmertür. Und Merz hörte sie schwer atmen; und er empfand dabei nicht das geringste Mitgefühl.

»Wir werden sie nie los«, sagte sie nach einer Weile und hatte dabei auf einmal ihre ganz junge Stimme von früher. »Sie sind wie unsere Schatten.«

Und dann erzählte sie, schon vor Monaten sei ein Brief von Inger gekommen, adressiert nur an ihn, weshalb sie ihn an sich genommen und nach ein paar Wochen, in denen er ihr nicht aus dem Sinn gegangen sei, geöffnet habe.

»Bitte? Und was stand in dem Brief?«, wollte Merz fragen, tat es aber nicht. Es war nicht nötig.

»Sie schreibt, dass Moritz schwer krank ist und dass er sich wünscht, dass Pippa die Wahrheit erfährt über Inger und ihn, über dich und mich, ehe vielleicht das Schlimmste eintritt«, sagte Flori. »An mich nicht mal Grüße«, fügte sie an, »weder von ihm noch ihr. Na, habt euch ja gefunden.«

Sie schluchzte.

Merz wusste, dass er nichts weiter zu befürchten hatte. Er schwieg lange, war bestürzt, aber kam sich auch sicher vor. Er lauschte dem Regen und Florianes allmählich ruhiger werdendem Atem. Indem er durch das Fenster über seinem Bett auf die am Himmel vorüberflutenden Wolkenfetzen blickte, sagte er irgendwann tonlos, dass sie sich irre.

»Ich bin einfach schrecklich ausgelaugt. Mir war heute Mittag alles egal. Ich wollte nur noch meine Ruhe haben, irgendwo im Schatten spazieren gehen, da bin ich einfach rumgefahren, im Auto war es schön kühl, bin raus an die Elbe und dann am Grab meiner Großeltern in Ohlsdorf gewesen, da war ich schon Jahre nicht. Überall in den Rhododendren waren Wespen, sogar Hornissen, daumengroße und ganz verschiedene Arten, die habe ich lange beobachtet und darüber … die Zeit vergessen.«

Minuten, eine Stunde, zwei Stunden vergingen. Es dämmerte, es wurde hell; der Regen hörte auf, begann von Neuem, hörte wieder auf und war dann vorbei. Irgendwann wurde Merz bewusst, dass er längst allein war. Sie, Floriane, musste wortlos schlafen gegangen sein, jedenfalls war sie nicht mehr da, und im ganzen Haus herrschte wohltuende Stille.

Müde schloss er die Augen und sank in die Bilder, die hinter seinen Lidern auftauchten und verschwanden, nur um sogleich von anderen abgelöst zu werden … Die Sommer ihrer Jugend, die Hitzefrei-Tage vor dreißig, fünfunddreißig Jahren waren nicht vorbei; denn nichts war vergangen, nein es gab überhaupt keine Vergangenheit.

Natürlich hatte er nicht vergessen, was Lupinen Floriane und ihm früher einmal bedeuteten. Auf der sich bis zum Horizont erstreckenden Feldmark und so auch zwischen dem Wald auf der Moräne und dem wilden Garten, den er mit Moritz und Flori entdeckt und den sie Inger gezeigt und der seither ihnen gehört hatte und ihr gemeinsames Geheimnis war, auf diesen in der flirrenden Nachmittagssonne endlosen Feldern wuchsen Lupinen, unzählige. Es waren so viele violette, hellblaue und dazwischen immer wieder auch gelbe Kerzen, dass Moritz, die beiden Mädchen und er an manchen besonders heißen Sommertagen berauscht vom Duft der Blüten am Waldrand entlangtorkelten und sich kaputtlachten.

Und wie sonderbar waren ihre Blüten! Sie wirkten zuerst wie Trauben, wenn man sie sich aber von Nahem ansah, fächerten die Beeren sich auf und waren kleine Quirle, und die Blätter hatten lange Stiele, von denen sie sich abspreizten, wie Finger. Insekten schwirrten durch den Moränenwald hinaus auf die Felder, um sich dort aus den Blütenkelchen ihren Nektar zu holen. Und der ganzen großen und kleinen, schwarzen und grünen, lauten und lautlosen Fliegen wegen waren immer hunderte Vögel in der Luft, Schwalben und Meisen und Finken, aber auch Stare, Glanzstare, die sich im Herbst zu Wolken zusammenrotteten, und Drosseln, Wacholderdrosseln, und Amseln. Von morgens bis abends waren sie am Jagen und sangen und zwitscherten.

Ein paar Mal waren sie auch in der Nacht auf den hellen Sandwegen über die Moräne zu ihrem Garten gegangen, und Merz erinnerte sich so deutlich an das Licht, in das der Mond die Feldmark tauchte, und an die blasse Haut von Ingers schmaler Hand, die er festhielt, während sie am Waldrand entlangliefen, als wären seither nur Stunden vergangen und nicht Jahre, Jahre und Jahre.

Flori hatte manchmal den Hund ihrer Schwester dabei, einen Riesenschnauzer, auf den sie aufpasste, wenn Jette bei ihrem Freund schlief.

Dünn und mit langen Beinen, gackernd und sich gegenseitig erschreckend, waren Inger und Floriane mit dem Hund, an dessen Namen Merz sich nicht erinnerte, vor Moritz und ihm hergerannt. Der Weg durch die Brennnesselsäume war schmal, die Waden und Schienbeine der Mädchen färbten sich feuerrot, wenn sie keine Jeans, sondern Röcke oder Shorts anhatten, und der sich durch die Büsche und das Unterholz schlängelnde Pfad war so niedrig, dass sie sich immer wieder ducken mussten, weil ein dichtes grünes Dach aus Laub und Zweigen den Hohlweg überwölbte.

Der Hohlpfad, so nannten sie den Weg, der vom Waldrand durch die Brennnesselbänke zum Eingang in den wilden Garten führte.

Umgeben von manchmal bis in die Baumkronen hinaufwuchernden Hecken öffnete sich dort ein kleines Feld mit hohem Gras, und kaum dass die geheime Wiese in Sichtweite kam, rannte Jettes Hund los und folgten ihm die Mädchen, wie Fledermäuse huschten ihre Schatten über die Heckenwand. Sie kicherten und sangen, und manchmal knipste Moritz dann die Taschenlampe aus.

Sofort war alles stockfinster. Dann bellte der Riesenschnauzer mit dunkler Stimme, und Flori kreischte, und Inger, die noch gar nicht richtig Deutsch konnte, bettelte in ihrer fremden Sprache um Licht: »Tænd lyset! Tænd lyset! …«

Es folgten drei Tage, von denen er kaum etwas wahrnahm außer den stumpfen Rausch öder Stunden. Nichts ereignete sich. Was im Haus passierte – ein Bimmeln des Telefons, auf das er mit Reglosigkeit reagierte, oder das Klopfen der Heizkörper, das eine Sprache war, in der niemand nichts mitteilte – und was draußen vor sich ging – ein Eichhörnchen, das aus einem Schatten unter der Hecke in den Schatten unter den Johannisbeeren hechtete, oder abends das zeitschaltuhrgeregelte Anspringen der Rasensprenger –, es schien nur um der Leere willen zu geschehen, nur um ihm zu verdeutlichen, dass nicht das Geringste vonstatten ging, solange er sich nicht gleichfalls bewegte.

Nachdem er die träge, lauwarme Dünung dieses endlosen Wochenendes über sich hatte hinwegbranden lassen, verbrachte er den halben Montag schwer verkatert im Zug und fuhr mit verquollenen Augen südwärts, immer weiter südwärts. Hannover, Göttingen, Kassel, Frankfurt, eine in der Hitze flimmernde Stadt folgte auf die vorige und lag bald ebenso unerreichbar hinter ihm wie alle Orte, an denen er seit fünfzig Jahren gewesen war. Während seit Mannheim sein am Gang sitzender Freund mit offenstehendem Mund schnarchte, sah Merz vor den Fenstern lauter in der grellen Sonne gleißende Felder; darauf wuchs ein so blasses und anscheinend längst verholztes Getreide, als hätte es Skorbut. Immer wieder führte die Trasse durch Felder voll Luzernen und Lupinen, nichts als Luzernen und Lupinen.

Manchmal fielen ihm die Augen zu. Er genoss, nichts zu tun zu haben. Weder hatte er Lust, Zeitung zu lesen, noch, sich den Bildband anzusehen, den Bruno mit sich herumschleppte, als würde sich dadurch von selber erledigen, was er über diese – Merz absolut rätselhafte – Schule von Barbizon schreiben musste. Der gehwegplattengroße Band lehnte zu Brunos Füßen an der Rücklehne des Sitzes vor ihm, denn er passte nicht in die viel zu schmale Gepäckablage des rappelvollen Großraumabteils, das in Wahrheit ein verkapptes Kleinraumabteil war. Und so schlief Bruno zwar, doch in gekrümmter Haltung, mit zusammengepressten Knien und mal einwärts, mal auswärts verdrehten Füßen.

Wenn er auch selbst die Lider schloss, gingen Raimund Merz wilde Dinge durch den Sinn. Es kam ihm vor, als würde er in sich hinein- und von einem schmalen Sims aus hinunterblicken in einen finsteren Schacht. Sturzbetrunken sah er sich dort unten auf dem Wohnzimmerteppich liegen. Er hatte in den vergangenen drei Tagen einfach alles an Alkohol in sich hineingeschüttet, was im Haus zu finden gewesen war. Und jeden Mittag aufs Neue hatte er sich weisgemacht, im Keller nach etwas zu suchen, aber worum es sich dabei handelte, war ihm nie klar geworden. Jedes Mal, wenn er hinunterging, hatte er in den modrig kühlen Räumen eine Flasche Weißwein aufgemacht und gedankenverloren so lange daran genippt, bis ihm auffiel, wie wenig passierte, wenn man regungslos in einem Keller herumstand. Einen Weinkeller hatte er sich ausgemalt, der nicht bloß die Ausmaße der darüber liegenden Küche hatte, sondern so groß war wie das ganze Haus samt Garage und Garten. Und wo oben der Parkplatz war, der Wendehammer und die Stichstraße, dort erstreckte sich unter der Erde ein Korridor, da waren Gänge voller Flaschen, eine Halle voller Fässer. Als er wieder zu sich kam, war die Flasche jedes Mal schon fast leer gewesen, und wenigstens das hatte ihn noch erschreckt.

 

Noch immer blickte er aus dem Fenster, ohne jedoch länger Luzernen und Lupinen zu sehen oder die fremde Landschaft der Karlsruher Gegend, durch die der ICE seit einiger Zeit fuhr. Angestrengt dachte er über das hinter ihm liegende Wochenende nach. Einsamkeit und Trübsinn. Wut. Verwirrung, von einer anscheinend verstummten Welt umgeben zu sein. Er war sich vorgekommen wie in Lindas Lieblingswitz der Betrunkene, der nachts eine Litfaßsäule umkreist, immer aufs Neue um sie herumwankt und sie abtastet, bis er zu Boden sinkt und schluchzt: »Hilfe! Man hat mich eingemauert!« Sie hatten ihn sich selbst überlassen, und er wusste drei Tage lang nichts Besseres zu tun, als sich zunächst den ganzen guten Sancerre und später allen Grauburgunder einzuverleiben. Immer tiefer hatte er in den Abgrund zwischen seinen offenbar weit auseinanderklaffenden Empfindungen gestarrt, dabei über seine verlorene Jugend und alle unwiederbringlich vergangenen und vergeudeten Jahre Tränen über Tränen vergossen, und mit jeder Stunde, die von Freitagnachmittag bis Montagmorgen unbarmherzig ereignislos verstrich, war er überzeugter gewesen, dass was er aus den Flaschen so lange weltvergessen in sich hineingoss, bis es wieder aus ihm hinausfloss, gar nicht Wein war, sondern in Wahrheit Tränen. Tränen! Woher sollte sein Heulen denn kommen, warum hätte er sonst so haltlos geweint.

Am Mittag nach ihrem nächtlichen Streit hatte Floriane so laut, dass er es hören musste, unten im Flur Priska gefragt, ob sie am Wochenende mitkommen wolle zu ihrer Großmutter, und war dann, als keine Antwort kam, gegangen, hatte den Phoebus genommen, was sie sonst nie tat, und war, wie er annahm, an diesem Freitag in die Praxis gefahren.

Als er am frühen Nachmittag aufstand, fand er unten auf dem Ziertischchen nahe der Haustür ein großes gelbes, unbeschriebenes Kuvert, an dem ein Post-it-Zettel klebte.

»Guten Morgen, Papa! Den Umschlag sollte ich Dir von Mammi geben, doch Du hast so fest geschlafen.«

Prissy hatte das geschrieben, und drei Herzchen hatte sie daruntergezeichnet, die Töne von sich gaben. Schnarchende Herzen.

In dem dottergelben Kuvert lag Ingers Brief, von dem Flori in der Nacht erzählt hatte, außerdem ein loses Blatt. Ingers Schreiben steckte in einem säuberlich aufgeschnittenen Umschlag mit abgestempelter Marke, er war tatsächlich nur an ihn adressiert und mit der Absenderanschrift versehen, die er bereits kannte. Das Haus in Ohlsdorf mit dem weißen Mäuerchen, auf dem in Gusseisenlettern der Name zu lesen gewesen war, stand ihm deutlich vor Augen.

Noch im Flur und mit Schlaf in den Augenwinkeln las er Ingers Brief. Sein Herz schlug heftig, und er spürte, wie ihm heiß wurde und die Aufregung den ganzen Körper erfasste. Seine Beine fingen an zu zittern, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.

Er hatte den Brief beiseitelegen müssen, um nicht vor Zorn gegen die große Chinavase zu treten, die ein Geschenk von Floris Eltern war und im Haus als Regenschirmständer diente. Und erst da fiel ihm das lose Blatt wieder ein; es war einmal gefaltet, und er klappte es kurz auseinander, erkannte Floris Handschrift und fluchte, dann steckte er den Zettel ungelesen mit Ingers Brief in das gelbe Kuvert zurück.

Priska hatte auch auf die Rückseite des Post-it-Zettels etwas geschrieben: »Mammi ist übers Wochenende zu Omi gefahren. Sie sagt, ich darf bei Larissa schlafen. Okay? Love you. P.«

Noch mal drei Herzen.

Von einer Sekunde zur nächsten war er allein gewesen. Um ihn mit Liebesentzug zu bestrafen, hatte sich seine Frau zu ihrer Mutter geflüchtet, die selbst Zahnärztin gewesen war, eine gefürchtete; Moritz, Inger, Flori, ihre Schwestern Jette und Dani und auch er, alle hatten sie mit weit aufgerissenem Mund unter der Stirnlampe von Frau Dr. Lepsius gelegen und ihr entsetzt in die leblos grauen Augen gestarrt, wenn sie sagte, es werde jetzt sehr wehtun.

Er kannte nur wenige Menschen, die ähnlich selbstbewusst waren wie Floriane. Warum also hatte sie nie auch nur versucht, ihre Mutter in deren Schranken zu weisen?

Seine ältere Tochter verbrachte das überraschend unbeaufsichtigte Wochenende lieber mit ihrer besten Freundin vor der Playstation, anstatt dem krankgeschriebenen Vater, der nachts den Namen eines Friedhofs rief, Gesellschaft zu leisten. Lindy, Linda Annabella, hätte ihn gerettet. Mit ihr wäre er nach Itzstedt gefahren, zum Itzstedter See, an dem die Zeit stehen geblieben war. Aber auch Linda war nicht da, sondern in einem Schullandheim im Schwarzwald, wo sie womöglich noch unglücklicher wurde.

Und Bruno, sein Freund, musste sich um seine Frauen kümmern, Babs, Elfi und Fritzi, und würde auch an diesem Wochenende eine neue Geliebte haben.

Nichts war ihm geblieben, noch nicht mal der elektrische oder halb elektrische Wagen, nicht mal der Phoebus, sein Sonnenwagen. Man hatte ihn eingesperrt, er war gefangen in seiner eigenen Doppelhaushälfte.

»Ohlsdorf!«, hatte er gebrüllt, »Ohlsdorf!«, und dabei gegen die Vase getreten, die gar keine Vase war, nur eine Vasen-Imitation, und vor Schmerz aufgeheult. Dann war er in den Keller gegangen und hatte im Halbdunkel unter dem leeren Haus grölend die erste Flasche plattgemacht. Köstlich hatte der Wein geschmeckt, nach Birnen, nach Holzrauch und, wenn das möglich war, nach sommerlichem Licht.

Bruno hatte in der Tat ein ähnlich kräftezehrendes Wochenende hinter sich, nur aus anderen Gründen und unterfüttert von bedeutend weniger Wein. Er war am Freitagabend mit Fritzi Feddersen im Theater gewesen – »Die Stunde da wir nichts voneinander wußten« –, hatte den Sonnabend mit Babs verbracht – im Freibad, im Kino, im Bett – und am Sonntagmittag in einer HSV-Kneipe eine junge Frau kennengelernt, die ihn schon am Nachmittag anrief und fragte, ob er am Abend mit ihr loszog »auf den Zwutsch«.

»Und Donnerstag?«, fragte ihn Merz. »Was hast du gemacht, nachdem du mit meiner Frau telefoniert hast?«

Bruno war entgeistert. »Mit Floriane? Wie kommst du darauf?«, rief er empört. »Wieso soll ich dir hinterhertelefonieren, Mensch? Ich hab doch deine Mobilnummer. Außerdem gibt es unter Freunden ja das wortlose Verstehen.«

Den Freund von seiner Notlage in Kenntnis zu setzen, hatte Merz nicht den Mut. Eine Erklärung hätte zwei andere nach sich gezogen, diese beiden dann vier weitere und immer so fort. Es tat gut, nicht länger an die Feldmark zu denken, den wilden Garten, alle die fatalen Entwicklungen, die Flori, Moritz, Inger, ihn und nun auch die Kinder verbanden. Während der Zug durch einen Karlsruher Vorort fuhr, betrachtete er das Profil des Freundes. Es war kein Wunder, wenn er jede freie Minute zum Schlafnachholen nutzte; Bruno war ein Hochleistungsliebhaber, er wollte nie sterben.

Ein schöner Mann war er nicht. Auch er trank viel zu viel. Doch anders als bei dir, dachte Merz, sieht man es ihm an! Bruno hatte gerötete Haut. Er litt unter Bluthochdruck, stritt das jedoch ab. Er war aufgeschwemmt, hatte Übergewicht, und seine Augen mit den so stechenden wie freundlichen Pupillen blickten stets rot unterlaufen und leicht verquollen in die Gegend, so als würde er wirklich bloß jede dritte Nacht schlafen.

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