Lichter als der Tag

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»Keinen klaren Gedanken kann man fassen bei so einer Gluthitze«, sagte er in der Hoffnung, damit sein Zaudern zu entschuldigen. »Oder kommen viele Leute zu Ihnen und kaufen frisch und munter ein Graubrot?«

Der erleichterten Verkäuferin huschte der Anflug eines Lächelns übers Gesicht. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, als wäre das eine Antwort.

Entweder sie wusste keine oder wollte keine geben.

»Geben Sie mir … eine Rosinenschnecke bitte.«

Die Feldwespe ernährte ihre Larven nicht mit Fliegenfleisch wie die Hornissen und die meisten anderen Wespenarten, sie verfütterte ausschließlich Bienenhonig.

Er zahlte und bedankte sich. Doch anstatt zu gehen, blieb er vor dem Tresen stehen und blickte die Verkäuferin teilnahmslos an.

Sie hatte eingefallene Wangen. Was dachte sie? Hau ab, weg, mach, dass du wegkommst?

Nichts fürchteten Honigbienen mehr als Honig witternde Wespen.

Er fragte die junge Frau, wie weit es zu Fuß bis zum Alsterufer sei.

Sie schüttelte den Kopf und blickte ihn entgeistert an.

Aus dem Hinterzimmer, wo früher vielleicht die Backstube gewesen war und ein Bäcker ab drei Uhr in der Früh backte, Brötchen und Brot, rief ihre ältere Kollegin, die dort unvermindert mit dem Besen herumrumorte: »Am Kreisel rechts runter, dann sieht man schon das Wasser – wenn noch welches da ist!«

Sie lachte.

Und die Auszubildende kicherte.

»Heuschrecke«, sagte Merz zwar leise, aber vernehmlich, und riss dabei die Augen so weit auf, dass sie ihn fassungslos anstarrte. Wieder draußen in der Hitze, sah er sie durch das Schaufenster, in dem der Zucker zerfloss; nach Feierabend schaufelte sie ihn mit einer angewiderten Grimasse in den Müll. Arme, verängstigte Gebäckheuschrecke.

Im Schatten unter den Uferbäumen war es merklich kühler. Dennoch führten nur vereinzelte Leute ihren Hund aus oder gingen spazieren, und es joggte auch kaum jemand.

Über die Wege flimmerten die Muster des Lichts, das durch die dichten Baumwipfel bis auf den Erdboden fiel. Die unten in der Stadt zu zwei Seen aufgestaute Alster war hier oben im Hamburger Nordosten an ihren schmalsten Stellen nicht breiter als ein Feldweg. Steinerne kleine Brücken überspannten das Flüsschen. Erstaunlich schnell floss es dahin, morastig braun in der Sonne, unterm Blätterdach der Birken und Eschen hingegen dunkelgrün und golden leuchtend.

Im Gehen griff Merz immer hastiger in die Papiertüte und riss sich süße Happen von der klebrigen Schnecke, und er genoss es, sich dann jedes Mal neu den Zuckerguss von den Fingern zu lecken. Stundenlang hätte er so weiterlaufen können, allein mit sich, in diesem schönen Licht, in diesem angenehm kühlen Schatten am Ufer der ihren Blumenvasengeruch verströmenden Alster, mit dem Ausblick – gleich, ob er ein trügerischer war –, sein Leben endlich in die eigene Hand nehmen und die Dinge wohin auch immer biegen zu können. Als er aufgegessen hatte, zerknüllte er die Tüte in der Faust und bewarf mit dem Knäuel ein paar vorüberschwimmende Enten, die sich auf der Stelle über das Papier hermachten und es wie von Sinnen zerfetzten. War das zu fassen? Erschüttert, weil er merkte, wie ihm die Tränen kamen, blieb er stehen.

Die Enten schwammen weiter, und was von der Tüte übrig war, das ging unter und löste sich im Wasser auf, während er am Ufer stand, die zerstörerische Gier auf sich bezog und dem Kummer und Unmut, die er seit Tagen zurückdrängte und totschwieg, nichts mehr entgegenzusetzen wusste. Er war maßlos wütend. Aber zugleich verspürte er eine abgrundtiefe Traurigkeit. Wäre er in diesem austrocknenden Auenwäldchen tatsächlich allein gewesen und nicht noch immer übervorsichtig, um ja kein unnötiges Aufsehen zu erregen, er hätte laut losgeheult.

In diesem Zustand, der ihn außer sich sein ließ und doch ganz bei sich, ging ihm Floriane durch den Sinn. Was war der Grund dafür, sein schlechtes Gewissen, weil er Inger so unverfroren nachstieg? Er hatte kein schlechtes Gewissen. Er hatte fast ein Drittel seines Lebens auf diese Gelegenheit gewartet. Dennoch fühlte er sich seiner Frau mit einem Mal so verbunden wie seit Jahren nicht mehr. Wäre nur eine Übereinkunft mit ihr möglich! Aber nicht mal aussprechen konnte er sich mit Flori. Dabei war er sich sicher, dass sie beide noch immer der zornige Kummer verband, der sie vor so langer Zeit ein Paar hatte werden lassen.

Merz erinnerte sich an die heftigen Tumulte, nachdem Inger schwanger geworden war und ihre Viererfreundschaft am Müggelsee auseinanderbrach. Er dachte an die Zeit zurück, als Jahre später ihre Jüngste ein Baby war und abgesehen von ein paar Stunden am Nachmittag, wenn die Kleine erschöpft schlief, von morgens bis abends und fast jede Nacht aus Leibeskräften schrie. Linda brüllte, schien ihnen, wie kein Kind je gebrüllt hatte. Um zu schreien, schien sie auf der Welt zu sein. Es gab kein Gegenmittel, nichts und niemand konnte ihnen helfen. Durch nichts ließ sich das kleine Mädchen davon abbringen, seinen Schmerz, seine Verzweiflung oder was immer es war, der Welt entgegenzubrüllen. Sie verbrachten diese Monate in dumpfem Schweigen nebeneinander, zermürbt von einem Lärm, der nicht furchtbarer gewesen wäre, hätten sie in einer Wellblechhütte unmittelbar neben der Autobahn gelebt. Flori entdeckte schließlich wenigstens für sich eine stille Nische, indem sie sich täglich für ein paar Stunden hinter zwei Feuerschutztüren in einem lärmdichten Kellerraum verbarrikadierte. Während sie unten döste, ein kieferchirurgisches Fachjournal las oder einfach nur die weiße Wand anstarrte, ging er mit verstopften Ohren oben im Flur hin und her. Alles im Haus vibrierte, wenn das Baby brüllte. Priska, die drei war, bekundete des Öfteren ihre Verwunderung darüber, wie still die Welt war, sobald man draußen vorm Haus stand. Er hatte Lindy auf dem Arm und blickte aus vor Müdigkeit schmerzenden Augen fassungslos in den brüllenden Kinderrachen. Sein schreiendes Kind war von unbändiger Kraft. Alles, was es war, setzte es in jedem Moment aufs Spiel. Etwas stimmt nicht, schien ihm Linda schon als kleiner Wurm mitteilen zu wollen, etwas kann nicht richtig daran sein, dass ich nicht mehr dort bin, wo ich selig war.

Blicklos, mit nach innen gekehrten Augen, saß Merz in seinem vor der Druckertankstelle parkenden Hybridauto und überließ sich seinen Erinnerungen. Damit die Klimaanlage die stickig heiße Luft im Wageninnern kühlte, stellte er den Motor an, und es dauerte nicht lang, da kam auf dem Gehweg ein verhutzelter Rentner vorbei und forderte ihn mit zwar stummen, aber abfälligen Gesten beharrlich dazu auf, zu verschwinden und nicht länger die Luft zu verpesten.

Durch die Windschutzscheibe sah Merz den Alten lange an, bewegte sich aber nicht. Erst als der Mann anfing zu pöbeln, zeigte er ihm die Faust, spreizte den Daumen ab, dann den Zeigefinger und zielte auf ihn wie mit einer Handfeuerwaffe, ehe er so lange auf die Hupe drückte, bis der erschrockene Greis fluchend das Weite suchte.

Merz ließ das Seitenfenster hinunter. »Ist was, bucklige Brotspinne?«, schrie er dem Rentner nach. »Bist du der, dem hier die Luft gehört? Mach, dass du wegkommst, du Luftbesitzer, oder ich fahr dich über den Haufen! Glaubst du nicht? Dann komm her, stell dich vor meinen Kühler! Ich fahr dich platt, so platt wie ein Blatt.«

»Raimund, bist du das?«

Merz war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Eine ihm unbekannte Frau rief nach ihm, eine Fremde mit allerdings vertrauter Stimme. War das möglich?

»Was machst du? Hör doch auf, was soll denn der Lärm!«

Wer rief da, wer war die Frau?

Er hatte sie nur im Augenwinkel gesehen. Jetzt blickte er über die Schulter und sah dort auf dem Bürgersteig neben seinem Auto Inger stehen. Sie beugte sich zu ihm hinunter. Sie trug enge Jeans, ein ärmelloses grünes Top und im Haar ein zum schmalen Band gefaltetes weißes Tuch. Sie hatte einen leeren Einkaufskorb dabei, er baumelte ihr von der Armbeuge.

Sie war eine Einbildung. Ein Phantom im Einkaufsdorf.

»Mama, wer ist der Mann?«, fragte das Mädchen, das hinter Inger stand und einen jungen Hund mit auffällig langen Beinen an der Leine führte. Der Hund bellte, er war rötlich braun, fast wie ein Fuchs, er kläffte in seine Richtung, und als Merz endlich aufhörte, wie besessen auf die Hupe zu drücken, erkannte er auch, dass das Mädchen Pippa war.

Ihm wurde bewusst, dass der Motor des Phoebus lief. Er konnte fahren, einfach wegfahren, ganz gleich, wohin.

»Sleipy, hör auf, sei jetzt ruhig. Aus, Sleipner!«, sagte das Mädchen zu dem Hund.

»Raimund, was machst du hier?«, fragte die Frau, die wie Inger aussah; sie blickte durch das Seitenfenster zu ihm herein, sie war keine Armlänge entfernt.

Merz starrte auf das weiße Band in ihrem Haar. Es war mit Blumen bestickt, kleinen bunten Blütenblättern.

Sleipner … der Name, er passte gar nicht zu einem so jungen Hund, so einer spiddeligen Töle … Mit diesem Gedanken gab er Gas – oder Strom –, und der Phoebus, der sonst nur so dahinsurrte, sprang aus der Parklücke. Er war der Fahrer eines Hybridfluchtwagens. Er raste davon, kachelte die Straße runter, weiter, immer weiter durch die Siedlung, aufgewühlt, aufgebracht, fluchend erst, dann stumm, und als er nicht länger floh, glitt er durch ein anderes, ihm genauso unbekanntes Viertel am nordöstlichen Stadtrand, Sasel oder schon Berne, er versuchte nicht zurückzudenken, sondern auch diese Begegnung zu vergessen, die zweite mit Inger innerhalb von vier Tagen, und hielt sie, als er dann irgendwann auf dem Weg nach Hause war, wirklich für nie geschehen.

Er hörte Musik im Auto, hingebungsvoll lauschte er jedem Lied eines alten Cure-Albums und dachte dabei nach über alles Mögliche, nur nicht über Frauen, Töchter, Vergangenheit, Jugend, sondern ganz andere Dinge. Was treibt die Wespen an, dachte Raimund Merz, ist es denn nicht Sehnsucht? Ein Verlangen nach Besänftigung, das unbedingt gestillt werden will?

 

Später hatte er mit Floriane und Priska auf der Terrasse gegessen, und am violetten Himmel waren Wärmegewitter aufgezogen, die bei Einbruch der Dunkelheit kühlen Wind vor sich hertrieben und mit weithin sichtbaren Blitzen und lautem Donnern von Westen den so lange ersehnten Regen brachten. Im Garten wogten die Baumwipfel. Geisterhaft peitschte es die Schlehen und Johannisbeerbüsche im Wechsel mit ihren Schatten hin und her. Windwellen liefen durch die Hecken, ehe sie übersprangen auf das Gras. Quiekend vor Freude an der eigenen Bangigkeit hüpfte Priska in Bikini und T-Shirt über den schwarzen Rasen und tat alles, um ihre Mutter zu einem Regentanz zu animieren, der aber Floriane bloß peinlich war und den sie lieber fotografierte: Priska Marie, wie sie die Hüften kreisen ließ, die nackten Arme flehend gen Nachthimmel reckte und schließlich laut jubelnd auf die Knie sank, um dem Regengott zu danken.

Unmittelbar überm Haus war dann das Gedonnere losgebrochen. Und mit einer einzigen machtvollen Bö hatte ein Wasserwind angehoben, der einen dichten Guss aus dicken warmen Tropfen über den Vierteln am Fluss, den Elbinseln und bestimmt dem ganzen Hafen ausschüttete.

Müde und ausgelaugt hatte er sich zurückgezogen und war zu Bett gegangen, in Unruhe versetzt von fiebrigen Erinnerungen an den Tag und irgendwie erregt und gleichzeitig angewidert von einem großen blasslila Strauß Blumen auf dem Wohnzimmerglastisch, wo er einen Duft verströmte, als hätte alles Übrige seinen Geruch eingebüßt.

Stundenlang lag er in seinem Schlafzimmer unter dem gekippten Fenster. Nur mit einem Laken zugedeckt, lauschte er dem besänftigenden Prasseln des Regens, der auf die knarrenden Baumkronen und die längst unter Wasser stehende Terrasse fiel. Auch lange nach Mitternacht war es im Zimmer nicht vollständig finster; immer wieder tauchte ein Blitz über Osdorf den Himmel schockartig in grelles Licht, dann malte sich Merz die Philippinos auf einem elbabwärtsfahrenden Frachter aus, und jedes Mal kam es ihm vor, als erhelle das Gleißen auch seine Gedanken. Was ihm seit Tagen, wenn nicht Jahren unklar gewesen war, sah er mit einem Mal deutlich vor sich. So wie er fraglos wusste, dass Nacht war und er in seinem Bett unter der tapezierten Dachschräge lag, meinte er plötzlich zu begreifen, weshalb er nie wieder von Moritz gehört hatte und von dem früheren Freund nicht das Geringste in Erfahrung zu bringen war.

Natürlich war es nur eine Vermutung, aber sprach nicht vieles dafür, dass Moritz gar nicht mehr am Leben war?

Kein Mensch hätte Merz verständigt, wenn Moritz tatsächlich etwas zugestoßen war, keiner außer vielleicht Inger.

Lange dachte er darüber nach, und die Bilder, die ihm durch den Kopf gingen, lösten immer neue aus, Bilder, die er viel zu lange verscheucht hatte, sobald sie aufgetaucht waren.

Die Eltern von Moritz waren Ende der neunziger Jahre tödlich verunglückt, als sie mit ihrem Jaguar auf einer Landstraße der Ostseeinsel Fehmarn unter einen Sattelschlepper gerieten. Merz war ihnen stets ein Dorn im Auge gewesen. Denn in nichts schien dieser Raimund auch nur entfernt etwas darzustellen, was ihren Sohn hätte voranbringen können. Was sollte so einer anderes sein als ein Bürschchen, und was aus so jemandem werden, wenn nicht ein Halbstarker und später irgendein Mensch?

Raimund Merz lebte mit seiner Mutter in einem Reihenendhaus im unteren Teil des Dorfs. Die Mutter war zuvorkommend, wenn man anrief, um nach dem Verbleib des eigenen Kindes zu fragen, aber sie war, Gott, eine Verkäuferin. Ab und an ließ es sich nicht vermeiden, in dem Laden, in dem Frau Merz hinterm Tresen stand, ein paar Kleinigkeiten einzuholen; betretenes Schweigen. Der Vater wer weiß wo, die Mutter alleinerziehend und der Sohn eine Plage, widerborstig, mal maulfaul, mal rotzfrech.

Hätten der Tanke-Rauch und seine Frau es noch erlebt, der Bruch ihres Sohnes mit dessen vermeintlichem Freund aus dem Unterdorf hätte sie nicht betrübt, eher erleichtert und bestätigt. Ja, erlöst! Man hatte diese sogenannte Freundschaft jahre-, jahrzehntelang hingenommen, mehr aber, nein, nicht. Wer war man denn?

Als junger Mann hatte Arno Rauch, wie er gern herumposaunte, die Gelegenheit beim Schopf gepackt, eh sie kahlköpfig war. Von allen außer dem Gemeindevorsteher belächelt, hatte er die Tankstellenruine am Ortsrand erstanden und Dach, Werkstatt und Zapfsäulen eigenhändig in Schuss gebracht. Über Wochen stand er in der hallenden Dunkelheit der zwei verrosteten unterirdischen Benzin- und Dieseltanks und schweißte dort, als wäre er persönlich der Schwelbrand in einem Kohleflöz.

Als an der Tankstelle im Dorf schließlich wieder Autos hielten, bekam der junge Rauch von Gemeindevorsteher Alberich die Erlaubnis, um die Hand der Tochter anzuhalten und von Noras Mitgift zwei Tankstellen in Nachbardörfern zu erwerben. So wurde aus Arno Rauch der Tanke-Rauch.

Jedes Jahr kauften Rauchs mindestens eine alte Tankstelle, ließen sie grundsanieren und rüsteten sie mit einer Waschanlage aus. Im Jahr, als Moritz zur Welt kam, gehörten seinen Eltern neunzehn Tankstellen zwischen Bad Oldesloe und Hamburg-Billstedt, »ein kleines Imperium«, hatte Merz gedankenlos einmal zu äußern gewagt und war dafür von seinem Freund so lange wie Luft behandelt worden, wie dessen Vater in der Erde unter seiner ersten Tankstelle mit dem Schweißbrenner geschuftet hatte.

Achtundzwanzig, zweiunddreißig, vierunddreißig Tankstellen gehörten Rauchs zur Blütezeit der allgemeinen Kohlenmonoxid-Verpestung. Moritz machte seinen Führerschein und holte morgens mit dem alten Saab seiner Mutter den Freund ab, um über die neugebaute Autobahn zur Schule zu heizen. Es waren die gedankenlosen Jahre, satt und sorglos, die Jahre der Eigenliebe in den Zeiten der Kohl-Ära.

Um auch diesmal alle Spuren von Selbstverschulden zu verwischen, wurde für den so unerwarteten wie unaufhaltsamen Niedergang des Tankstellenimperiums ebenso eine Freundschaft verantwortlich gemacht, allerdings dürfte die zu keiner Zeit eine echte gewesen sein. Es gab in der Gegend einen Mann, der für ähnliche Furore sorgte wie der Tanke-Rauch, und mit diesem Gebrauchtwagen-Hai ging Arno Rauch eines Tages, der wohl nicht zu seinen besten gehörte, eine fatale Verbindung ein, indem er Hajo Kossleck, den Auto-Kossleck, zu seinem Kompagnon machte.

Merz sah die beiden siegesgewissen Männer wieder vor sich, während er im Dunkeln in seinem Zimmer lag und vor dem Fenster der Regen in die Sträucher brauste. Sie lehnten am Kotflügel eines riesigen BMW und grinsten, als würde ihnen beiden zu gleichen Teilen die Sonne gehören. Moritz’ Vater und der Auto-Kossleck waren überzeugt gewesen, mithilfe des anderen dem eigenen Glück Glanz und Dauer verleihen zu können. Aber daraus war nichts geworden, sogar weniger als nichts. Er war vielleicht zwanzig gewesen und hatte mit mäßigem Interesse, aber großem Staunen den Ruin von Moritz’ Vater mitverfolgt, als in den Jahren, in denen man an Tankstellen in ganz Stormarn und schließlich sogar Lübeck tanken, sein Auto waschen und einen Billiggebrauchtwagen kaufen konnte, Gier, Mauscheleien, Schlampigkeit und Arroganz Einzug hielten. Gebrauchtwagenverkäufer bedienten sich freizügig an den Zapfsäulen, Tankstellenangestellte erhielten großzügig Rabatte beim Autokauf. Für die Kunden wurde alles teurer und immer teurer, zugleich aber Waren und Service schlechter und schlechter. Irgendwann waren die Gebrauchtwagentankstellen der Gegend dermaßen berüchtigt, dass jeder, sogar einer wie Raimund Merz mit seinem Mofa, einen Bogen um alles machte, auf dem in geschwungener Schrift Rauch & Kossleck stand.

Der Tanke-Rauch verscherbelte kopflos eine Tankstelle nach der anderen und musste sich am Ende doch von seinem Partner, mit dem er seit Jahren kein Wort redete, ausbezahlen lassen, woraufhin der Auto-Kossleck binnen drei Wochen alle in der Insolvenzmasse verbliebenen Rauch-Tanken abreißen ließ, um auf den Grundstücken supermoderne Waschanlagenstraßen zu errichten, die vorgeschriebene Bodensanierung aber vernachlässigte und an den Geldstrafen dafür dann gleichfalls so holterdiepolter bankrott ging, dass er sich nicht mal mehr nach Gomera aus dem Staub machen konnte.

Ach, was ist alles dies, was wir für köstlich achten, als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind. Mit dem alten Jaguar, einem dunkelgrünen XJ Baujahr ’75, den Hajo Kossleck den Rauchs zum fünfjährigen Firmenjubiläum geschenkt hatte und den Moritz gern die Blechflunder nannte, chauffierte der Sohn seine vom Übel der Welt gebeutelten Eltern noch einige Sommer lang nach Sylt. Als dort der Bungalow flöten ging, wichen sie notgedrungen aus nach Binz zu ihrer Ferienwohnung und, als auch die unter den Hammer kam, schließlich nach Damp in eine Pension, die Nora Rauchs früher mal beste Internatsfreundin betrieb. Und immer hatte Moritz vollstes Verständnis für die Selbstgerechtigkeit seines alten Herrn, sogar wenn der mittlerweile silberhaarige Tanke-Rauch ihn beim irrtümlichen Bleifrei-Tanken erst als allerletzte Träne im Ozean verunglimpfte und dann einmal mehr schulterklopfend und mit dumpfem Bass vor falschen Freunden warnte.

War Merz das denn gewesen, ein falscher Freund? Ja, bestimmt zu der Zeit, als ihnen beiden Inger immer wichtiger wurde. Aber am Anfang, und auch grundsätzlich, nein. Sicher hatten sie beide, Moritz und er, viel zu hohe und von Beginn an uneinlösbare Ansprüche an ihre Freundschaft. Doch man veränderte sich, wurde älter, brauchte mehr und mehr Raum für seine Eigenheiten. Wo einmal kein Blatt Papier zwischen sie beide gepasst hatte, dort klaffte irgendwann ein Riss, ein Spalt, ein Graben und Abgrund, den keiner mehr schloss. Sie hätten Brücken bauen müssen, aber das war irgendwie nicht ihr Metier.

Fest stand für Merz, dass er Moritz’ Vater Arno eigentlich gar nicht gekannt hatte. Als er noch der Tanke-Rauch gewesen war, hatte er mit ihm nie ein Wort geredet. Alles an seiner Dicke-Wampe-, Dicke-Knete-, Dicke-Karre- und Dicke-Hütte-Attitüde schien darauf abzuzielen, einen gesichtslosen Spund auf Distanz zu halten und ihm damit das Gefühl aufzuhalsen, mit dem sich der Pommernjunge Arno Rauchkowski nach oben schuften zu müssen geglaubt hatte.

Einer wie Merz wusste, dass keiner sich irgendwohin schuftete, es sei denn unter die Erde. Man konnte nicht aufhören, alt zu werden, das war das Dilemma so vieler, die sich aus Angst vor der Stille, in der einen plötzlich die Dinge ansahen, flüchteten in ewiges Schaffen, Schaffen, Schaffen.

Merz wusste, dass er mittlerweile älter war als damals zu dessen krassesten Zeiten der krasse Tanke-Rauch. Von Moritz wusste er, dass dessen Vater ab und zu durchaus eine gewisse Milde an den Tag gelegt hatte, gerade später, als er nur noch der alte Rauch war. Doch die Dünkel des Verbitterten gegenüber einem, den er zwanzig Jahre lang vergeblich einzuschüchtern versucht und milde bestenfalls geduldet hatte, blieben dieselben. Die Dünkel waren das Erbe der Rauchs und eine so giftige Schlacke wie das verseuchte Erdreich unter ihren verschwundenen Tankstellen.

Wie sollte Moritz daran keinen Schaden genommen haben? Inger hatte sich das oft gefragt, und immer öfter hatte sie die Frage auch Raimund Merz gestellt. In ihrem Gesicht sah er die Liebe zu seinem Freund, und je dunkler es wurde in dem Zimmer, in dem sie saßen, oder unter den Bäumen im wilden Garten, umso dichter schob er den Kopf an sie heran. Sehr genau und doch heimlich betrachtete er aus der Nähe ihre Nase, ihr Kinn, die leicht auseinanderstehenden Schneidezähne, ihre Wimpern und den Bogen der Stirn und das Ohr, das durch ihre Haare sah, denn viel Gelegenheit, Inger Rasmussen so nah zu sein, hatte er nicht.

Ihre Schönheit war selbst in fast vollständiger Dunkelheit deutlich zu sehen.

Noch nie hatte er für entscheidende Probleme eine Lösung gehabt, schon gar nicht, wenn er sich selber als den Leidtragenden einer Entscheidung sah, und erst recht nicht gegenüber Inger, die, wie er annehmen musste, nicht ihn liebte, sondern Moritz, seinen Freund.

Manchmal trug sie das verwaschene schwarze T-Shirt von Moritz, auf dem in blassroten Lettern Nebraska stand, wie auf dem Cover von Bruce Springsteens Album.

»Wenn ich das anhabe, glaube ich immer, ich kann ihm von meiner Kraft was abgeben«, sagte sie. »Das ist dann so wie eine Energieverbindung, weißt du?«

Er stellte sich vor, das T-Shirt auf der Haut zu spüren, nachdem Inger es den ganzen Tag angehabt hatte.

»Wie durch eine Wunschkappe, ja«, hatte Merz zu ihr gesagt, und lange hatte sie ihn dann nur angesehen.

 

Ja, so war es; abgesehen von Moritz’ Freundin und späterer Frau gab es niemanden, der ihnen Bescheid gegeben hätte. Zumindest theoretisch wäre nur Inger auf den Gedanken gekommen, Flori und Raimund zu informieren, wenn es um Moritz’ Gesundheit ernstlich schlechtstand, zumal es einfach war, mit ihnen in Verbindung zu treten, ob über den Tag, der im ganzen Land gelesen wurde, oder Florianes Gemeinschaftspraxis mit ihrer Schwester Jette.

Allerdings war das wirklich nur theoretisch so. Denn für Flori war ihre ehemalige Freundin Inger mindestens so gestorben, wie deren Mann womöglich nicht mehr lebte.

Im Licht der ostwärtsströmenden Wolken verschränkte Merz die Hände unterm Kissen und fand das Ganze auf einmal furchtbar lächerlich.

Kopfschüttelnd, mit tränenden Augen, lag er im Dunkeln. Inger hatte sich nicht bei ihnen gemeldet, weil sie gut wusste, wie rachdurstig Flori war. Ob sie und Moritz gemeinsam am Ohlsdorfer Friedhof wohnten, ob sie getrennt oder sogar geschieden waren oder ob Moritz gar nicht mehr lebte, reine Spekulation, dachte er beiläufig, aber sofort durchfuhr es ihn so heiß, dass er sich im Bett aufsetzte.

»Ohlsdorf«, sagte er, und dann noch einmal, so laut, dass er dabei selbst erschrak: »Ohlsdorf!«

Man musste in einem solchen Fall auf sein Gefühl vertrauen. Hatte Inger nicht einsam gewirkt, ja verlassen? Wie er sie vor ein paar Tagen im Hauptbahnhof und nun in ihrer Friedhofssiedlung erlebt hatte, war sie schwer enttäuscht. Wovon?

Auch Pippa war ihm sogar im Kreis ihrer Freundinnen nicht glücklich vorgekommen. Bald würden die anderen sie links liegenlassen und auslachen wegen ihres Fahrrads voller Wolken. Es war bloß eine Frage der Zeit … Weshalb waren ihm beide so abwesend erschienen?

Sollte es möglich sein, dass Moritz tot war?

Mit einem Mal kam Merz das Leben sehr abenteuerlich vor. Alles erschien wieder möglich, alles denkbar.

Nebraska, dachte er, wieder und wieder nur diesen Namen.

Wie herausfinden, ob einer noch lebte, wenn man niemanden ohne Umschweife fragen konnte: »Gestorben? Sie meinen tot?«

Vielleicht lag es an den Regengeräuschen, vielleicht an dem so würzigen Geruch nach Erde, der durch das Fenster hereindrang und ihm in die Nase stieg, dass sich Merz so deutlich wie seit zig Jahren nicht mehr auf einmal an den wilden Garten erinnerte und die aufflackernden Gedankenbilder anders als sonst nicht beiseitewischte.

Nicht mal Moritz Rauch wünschte er den Tod. Würde er so einen also retten, wenn er könnte, einen falschen Freund, einen, dem es immer bloß um sich selbst und die eigenen Interessen ging? Selbstverständlich, und ohne zu zögern.

Wo Hamburgs östliche Vororte an Stormarn und das Herzogtum Lauenburg grenzten, begann die nur von Ackerknicks und letzten Sachsenwaldüberresten durchbrochene Feldmark. Dort waren sie mit den Rädern unterwegs gewesen, und dort hatte er mit Moritz und Flori und manchmal auch anderen Jungs und Mädchen aus den umliegenden Dörfern in den wärmeren Monaten jeden Winkel ausgekundschaftet. Später war Inger dazugekommen, ab da waren sie fast immer zu viert gewesen.

Er sah den von tiefstehender Oktobersonne golden angestrahlten Waldrand so scharf umrissen vor sich, als wären keine dreieinhalb Jahrzehnte vergangen. Er war kein niedergeschlagener Redaktionsangestellter und lag nicht in einem Dachzimmer einer Doppelhaushälfte tief in der Nacht hellwach im Bett, sondern er lag an einem unvergesslich schönen Nachmittag im warmen ausgeblichenen Gras, kaute auf einem Halm und blickte mit zusammengekniffenen Augen über das abgemähte Feld zu den Bäumen auf dem Rücken der Moräne hinüber; seit Stunden tat er das, denn er wartete und wartete und konnte nicht aufhören mit dem Warten.

An dem Nachmittag, als er so im Feldmarkgras lag, wie alt war er da? Das fragte er sich in dieser schlaflosen Gewitternacht. Du warst noch halb ein Kind … und es war einer der letzten Nachmittage, bevor im Grunde alles losging. Bevor das ganze Unglück losging. Inger … alles war noch gut an dem Nachmittag. Und wie gut es war.

Er merkte, wie ihm der Kummer in der Kehle aufstieg, aber auch, wie wütend er nach all der Zeit noch immer war. Es gibt Dinge, über die man nicht reden kann, mit niemandem, nur kann man sie auch nicht totschweigen, und ich, dachte er, werde nicht länger tun, als wäre das anders.

Aus dem Dauergeprassel war mittlerweile Nieseln geworden, ein ergiebiger Sprühregen. Sachtes Rauschen wie von einem feinen Vorhang hüllte das Dach ein, unter dem er lauschend im Bett lag. Er hörte das Wasser unten im Garten durch die steinernen Abflussrinnen gluckern, und er hörte es durch die Dachtraufen fließen, ehe es durch die Fallrohre abwärtsströmte auf die Eisengitter über den Gullys. Den Donner, sein Grollen, vernahm man nun nur noch selten und in weiter Ferne. Ein paar Vögel sangen schon. Sie mussten in den wieder reglosen Schwarzpappeln unterhalb des Bahndamms sitzen, weil aus den Bäumen ein aufgeregtes Gezwitscher herüberdrang. Irgendwo ganz in der Nähe, so früh hatte er das lange nicht gehört, klopfte ein Buntspecht.

Stille.

Da!

Und Stille.

Schon wieder …

Oder das Klopfen kam gar nicht aus dem Garten.

Nebraska. Nebraska.

Die Tür ging auf.

Obwohl im Flur kein Licht brannte, erkannte er an ihrem Umriss, dass dort im Türrahmen seine Frau stand und ihn in dem halbdunklen Raum auszumachen versuchte. Floriane betrat sein Schlafzimmer nur, wenn sie mit Staubsaugen an der Reihe war oder dem Waschen des Bettzeugs, das sie ihm dann zusammengefaltet hinlegte, denn wie so vieles andere im Haushalt, das es zu erledigen galt, bezog Merz sein Bett selbst. Und umgekehrt hielt er es genauso in Florianes Schlafzimmer und den Zimmern ihrer Neandertalerkinder an den Tagen, an denen er an der Reihe war mit Putzen, Saugen und Waschen.

»Ich kann nicht schlafen. Seit Stunden liege ich wach, da hör ich auf einmal, wie du durchs Haus rufst: ›Ohlsdorf! Ohlsdorf!‹«, sagte Flori sehr ruhig, aber mit dunkler Stimme, die von Gereiztheit und Kampfeslust kündete und praktisch ihr akustisches Streitross war.

Heiho! Und schon ging es los!

»Könntest du mir bitte sagen, was du hast? Du verduftest am Mittag aus dem Büro, Bruno ruft am Abend hier an, um sich nach dir zu erkundigen, weil du ausgesehen hättest wie ein Schwindsüchtiger, und ich muss ihn anlügen, dass du nicht telefonieren kannst, weil du völlig erschöpft wärst. Wo also warst du neun Stunden lang, hm? In der Staatsbibliothek, bei den Insektenbüchern? Du kommst nach Haus, tust, als hätte es dich zufällig in dieses Haus gespült oder als wäre ich eine Wildfremde, eine Geflüchtete, die zusammen mit ihrer pubertierenden Tochter hier in deinem Haus einquartiert wurde. Entschuldigen Sie vielmals, Herr Merz. Du stehst stumm da und murmelst vor dich hin, wenn ich dir erzähle, wie mein Tag mit fünfundzwanzig Patienten war. Dass es Linda gut geht, sage ich zu dir, nein, sie hat noch keinem was geklaut, sage ich zu dir, zumindest wird noch nichts vermisst, sage ich zu dir, und du machst dir seelenruhig eine Flasche Wein auf, sitzt mit Prissy und mir für drei Alibiminuten auf der Terrasse und guckst auf dein Handy oder in die Johannisbeeren. Und dann verziehst du dich, verziehst dich mit deiner Alkoholration in dein Trauergemach, ohne ein einziges Wort mit uns zu reden. ›Was ist denn mit Papa los?‹, will deine Tochter von mir wissen. ›Frag ihn selber!‹, hab ich ihr gesagt. ›Wieso ich denn?‹, sagt deine Tochter. ›Ihr seid doch verheiratet!‹ ›Ach ja? Bist du dir da sicher?‹, hab ich sie gefragt. Und kaum ist Ruhe in diesem Irrenhaus, brüllst du mitten in der Nacht so mir nichts, dir nichts: ›Ohlsdorf! Ohlsdorf!‹ Raimund, so nicht! Ich bin keine Asylantin. Ich bin auch nicht auf der Flucht. Und erst recht nicht auf den Kopf gefallen! Raimund, rede mit mir! Behandle mich nicht wie deine Zahnärztin. Ich bin auch nicht deine Mutter. Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, wie es ist, mit einem Abwesenden verheiratet zu sein, einem, der abwesend ist, wenn er weg ist und wenn er da ist? Als du rein zufällig deine dänische Freundin wiedergetroffen hast, habe ich am nächsten Tag einen Strauß Lupinen ins Wohnzimmer gestellt, große blasslila Kerzenlupinen, die stehen da seit fünf Tagen, jeden Abend haben sie frisches Wasser gekriegt, aber verwelkt sind sie bei dieser Affenhitze trotzdem. Hast du den Strauß überhaupt bemerkt? Hallo, hörst du mich? Sind die Blumen ein einziges Mal in dein Nachrichtenredakteurbewusstsein gedrungen? Weißt du, was Lupinen für uns mal waren? Ich will jetzt auf der Stelle von dir wissen, warum du hier, während es draußen blitzt und donnert, im Dunkeln im Bett liegst und schreist ›Ohlsdorf‹, ›Ohlsdorf‹!«